Wer ich bin und worum es geht
Vielleicht sollte ich zunächst ein wenig über mich erzählen. Ich bin forensischer Psychiater, d.h. ich bin ein Fachmann, der den Gerichten hilft zu beurteilen, ob ein Angeklagter krank und damit schuldunfähig ist oder ob er sich mental noch im breiten Spektrum der Normalität bewegt hat, als er seine Tat beging. Ich bin auch Fachmann für die Behandlung psychisch gestörter Täter und für die Vorbeugung von kriminellen Rückfällen. Wissenschaftlich und in der gutachterlichen Praxis habe ich mich u.a. mit Gewalt- und Sexualverbrechen, Mord und Totschlag, schwere Körperverletzung und Vergewaltigung und Fällen sexuellen Missbrauchs beschäftigt, also mit menschlicher Aggression und mit Deviationen von dem üblichen menschlichen Verhalten, welches für ein Zusammenleben notwendig und oft auch vergnüglich ist. Seit 1984 setze ich mich mit solchen Fällen auseinander und ich habe es aufgegeben, sie zu zählen.
Dieser Erfahrungshintergrund verschafft mir die Ehre, zu Vorträgen wie diesem eingeladen zu werden, weil sich ja viele Fragen an einen Fachmann, der Kriminalität und Straftäter analysiert, aufdrängen. Warum wird man kriminell, warum zum Mörder oder Vergewaltiger? Und wie geht man als Fachmann mit solchen Leuten um? Wie kann man zwischen böse und noch normal unterscheiden? Und was macht es mit einem selber, wenn man ständig mit solchen Schwerverbrechern umgeht? Wie sollen wir uns gegen das Böse wappnen und wie können wir es rechtzeitig erkennen, bevor es uns selber ereilt?
Manchmal ist es das Böse, manchmal der menschliche Abgrund, zu dem ich befragt werde und den ich ja besonders studiert haben soll. Ich habe ihn jetzt einmal unsere dunkle Seite genannt, von der keiner so ganz verschont ist, aber die auch kaum einer so ganz auslebt. Natürlich ist „die dunkle Seite“ keine wissenschaftliche Antwort auf die vielen Fragen – und auch die Begriffe in den vielen Fragen, die mir gestellt werden, erschließen sich nicht wirklich dem wissenschaftlichen Zugang. In der medizinischen und psychologischen Wissenschaft sind „gut“ und „böse“, „Abgründe“ und „dunkle Seiten“ keine Begriffe, mit denen man sich auseinandersetzt.
Aber wir können uns überlegen, welcher Hintergrund hinter den Fragen steckt. Es geht dann meist um Gewalt, Arglist, Übervorteilung, um die körperliche und seelische Verletzung anderer zum eigenen Vorteil, zur eigenen Lust und Befriedigung; es geht um die Missachtung gemeinsamer Vereinbarung, die uns das Zusammenleben ermöglichen und es zufriedenstellend gestalten sollen. Wir nennen diese Vereinbarungen Gesetze.
Dabei sticht Gewalt in gewisser Weise heraus, zumindest im Gesetz. Sie wird am härtesten bestraft. Sie sticht aber auch für den Wissenschaftler heraus: Sie ist am objektivsten erfassbar, zumindest dann, wenn man an physische Gewalt denkt. Darüber wissen wir auch am meisten. Dass es auch andere Arten von Gewalt und andere dunkle Seiten gibt, soll natürlich nicht vergessen werden.
Fragt man sich nach den häufigsten Ursachen von Gewalt, so sind das, wie Thomas Hobbes schon 1651 im Leviathan geschrieben hat:
- Competition, also Gier und Neid, resultierend aus Konkurrenz und Wettbewerb. (Ich bin genau so stark und gut, ich will das auch haben, ich gönne es dem anderen nicht usw., deswegen nehme ich es mir – und notfalls mit Gewalt)
- Diffidence, also Sicherheit und Gefahrenabwehr, resultierend aus Zaghaftigkeit und Ängstlichkeit. (Der bedroht mich, gegen den muss ich mich wehren, Angriff ist die beste Verteidigung usw.)
- Glory, also Ruhm und Ehre, die bei Kränkungen nach Genugtuung verlangen. (Der beleidigt mich, der weiß nicht, wie mächtig ich bin, da muss ich Ehre und Respekt verlangen und ich muss mich für die Kränkung rächen)
Für diese drei Gründe, nämlich Neid, Fear and Ehre, zogen Menschen in den Krieg. Und das war bei manchen Menschen und in manchen Gesellschaftsschichten noch bis zum ersten Weltkrieg so. Der Krieg war eine glorreiche Angelegenheit, bei der man um Ruhm und Ehre kämpfte und der von einigen als Reinigungsmöglichkeit (Katharsis) für die Nation angesehen wurde. Und manche haben in der Vergangenheit nicht nur für den Frieden gebetet, sondern um Gottes Segen für den Sieg gefleht.
Dissozialität
Demnach muss die dunkle Seite woanders liegen als bei Neid, Angst und Ehre. Vielleicht sollten wir auch heute noch oder heute wieder auch von Dissozialität sprechen, also von Verhaltensweisen, die dem gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Zusammenleben nicht nur im Weg stehen, sondern ihm Schaden zufügen.
Dissozialität ist aus psychiatrischer Perspektive gekennzeichnet durch den Mangel an Einfühlungsvermögen oder neudeutsch Empathie, durch Unvermögen, längerfristige Bindungen aufrechtzuerhalten, durch geringe Frustrationstoleranz und durch die Neigung zu aggressivem und gewalttätigem Ausagieren. Dissoziale Menschen empfinden keine Schuld. Sie sind kaum in der Lage, aus Erfahrungen zu lernen. Sie rationalisieren ihr Fehlverhalten oder beschuldigen andere als dessen Urheber. Ihre Impulskontrolle ist gering, sie erscheinen kontinuierlich gereizt.
Der Mensch ist zwar nicht genetisch auf seine dunkle Seite festgelegt, aber irgendwie könnte man den Eindruck gewinnen, dass manche Menschen kaum Chancen gehabt haben. Sie gehören oft zu den sogenannten „early starters“, aus denen häufig „life time persistent antisocials“ werden. Die Wissenschaft hat aber auch gezeigt, dass die meisten von ihnen auch wandlungsfähig sind, wenngleich unsere Erbanlagen und unsere frühe Prägung nicht zu vernachlässigen sind.
Das heutige psychiatrische Krankheits- und auch das Verhaltensmodell ist ein biopsychosoziales. Damit ist weitaus mehr gemeint, als dass biologische, psychologische und soziale Faktoren zusammenspielen, um Verhaltensdispositionen zu prägen. Vielmehr lassen sich spezifische Interaktionen, Vulnerabilitäten und Entwicklungslinien aufgrund dieses Modells beschreiben und zumindest retrospektiv auch analysieren.
Nach unserem Wissen über die Genetik haben unsere Erbanlagen die ganze Evolution bis zum homo sapiens überlebt und sich als überlebensfähig erwiesen. Sie bilden die Basis der individuellen DNA-Struktur des einzelnen Menschen und sind die biologische Grundlage seiner Disposition. Diese genetischen Anlagen treten in Wechselwirkung mit den Umgebungsfaktoren und formen von Anbeginn an die individuellen Erfahrungen, die im Gedächtnis verankert werden. Genetische Disposition in Interaktion mit der Sozialentwicklung bedingen im Laufe der Zeit eine dauerhafte Persönlichkeitsakzentuierung, die sich durch spezifische Wahrnehmungsfokussierung, emotionale Reaktionsweisen und Verhaltensbereitschaften auszeichnet und durch individuelle Gedächtnisinhalte geprägt ist. In jeder neuen Situation beeinflussen Persönlichkeit und Gedächtnisinhalte die Informationsverarbeitung und die emotionalen Reaktionen, ohne dass der Mensch sich dessen bewusst wird. Das hieraus resultierende Verhalten ist somit wesentlich von Faktoren bestimmt, deren sich der Betreffende in der jeweiligen Situation nicht bewusst ist. Ergänzt man dieses Modell um die neueren Erkenntnisse der Entwicklungsbiologie, so sind die Besonderheiten der Gehirnentwicklung ebenso wie die perinatalen Belastungsfaktoren und die spezifische Bindungsform als weitere Einflussfaktoren zu berücksichtigen, welche die individuelle Verhaltensdisposition formen, ohne dass der Mensch Einfluss auf diese Faktoren hätte.
Dieses Modell greift aber immer noch zu kurz, um die Beziehung zwischen Genetik und Umwelt ausreichend zu erfassen. Genetische Studien haben seit langem belegt, dass genetische Disposition und Umwelt nicht zufällig aufeinander treffen, sondern Gene sich „die Umwelt suchen“, in der sie sich am ehesten entfalten können. Geht man – um am Beispiel der dissozialen Persönlichkeit zu bleiben – von einer Frau aus, die aufgrund ihrer genetischen Disposition zu „novelty seeking“ neigt, also ein geringes Durchhaltevermögen hat, impulsiv ist, durch Schaden und Schmerzen wenig berührt ist und zu Substanzmissbrauch neigt: Eine solche Frau wird mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit ihren Partner in der sozialen Randständigkeit finden als anderswo; sie wird mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Mann finden, der ähnliche Gene hat wie sie selber, also u.a. abenteuerlustig und impulsiv. In der Genetik wird dies als „assortative mating“ bezeichnet. Ein Kind dieses Paares vereint die Gene beider Elternteile, und somit auch die Gene, welche die Grundlage für „novelty seeking“ und Impulsivität bilden.
Das Risiko dieser Kinder, durch den Substanz- und Nikotinmissbrauch der Mutter oder durch deren Fehlernährung während der Schwangerschaft Schaden zu erleiden, ist erhöht. Kinder aus solchen Beziehungen haben eine erhöhte Rate fetaler Schädigungen. Sie sind aber nicht nur bis zu ihrer Geburt vermehrten Belastungen ausgesetzt, ihnen fehlt auch häufig die intakte Familie als protektiver Faktor; sie haben von Anfang an in ihren Eltern aggressive und dissoziale Vorbilder und erleben bereits als Säuglinge die Ablehnung, Launenhaftigkeit und Gleichgültigkeit ihrer Eltern. Diese passive Interaktion führt zu auffälligem Verhalten dieser Kleinkinder, z.B. zu Verweigerung oder Aggression. Solches Verhalten wiederum ruft Ablehnung und Zurückweisung von Seiten der erwachsenen Bezugspersonen hervor. Die Entwicklungspsychologie nennt dies evokative Interaktion: sie verhindert, dass die Kinder emotionale Beziehungen aufbauen und Loyalität entwickeln können. Dadurch verstärkt sich das störende und abweisende Fehlverhalten. Schließlich kommt es zu einer aktiven Interaktion, das heißt: Die Kinder suchen Erfahrungen, welche ihrer genetisch bedingten Disposition (z.B. „Novelty seeking“) entsprechen und nicht durch andere Dispositionen (z.B. „harm avoidance“, d.h. Vermeiden von Schaden und Schmerzen) gehemmt werden. Sie sind abenteuerlustig, machen waghalsige Mutproben, suchen nach einem Kick, versuchen, Langeweile zu vermeiden, indem sie Grenzen und insbesondere solche, die durch gesellschaftliche Regeln vorgegeben sind, überschreiten. Durch diese Interaktionen erwerben sie ein eingeschliffenes dissoziales Verhaltensmuster, welches den genetisch bedingten Bedürfnissen entspricht und durch die Struktur der genetisch festgelegten Temperamentzüge begünstigt wird.
In der Psychiatrie geht es bei einer solchen Entwicklung um die Entstehungsbedingungen einer Störung, in der Psychologie um das Verständnis von Verhaltensdispositionen, nicht aber um die Bestimmbarkeit eines konkreten Verhaltens in einer konkreten Situation. Dieses Wissen wird heute genutzt, um den Risiken, die mit diesen Verhaltensdispositionen verbunden sind, vorzubeugen. Risiken bestehen z.B. darin, dass solche Menschen Abenteuer suchen, weil ihnen sonst sehr schnell langweilig wird, dass sie impulsiv handeln, ohne die Folgen zu berücksichtigen oder es schwer haben, aus Erfahrungen zu lernen. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass das analytische Aufarbeiten ihrer miserablen Jugend ebenso wenig hilft wie rigide Umerziehungsprogramme, dass aber gezielte kognitive Verhaltenstherapie durchaus effektiv ist. Damit kann eine gewisse Umstrukturierung der Denkweisen und Verhaltensstile erreicht werden. Dazu gehört auch die Übernahme einer individuell sinnstiftenden Aufgabe und das Erreichen einer Lebenssituation, die subjektiv so befriedigend ist, dass ihr Verlust für den Betreffenden sehr schmerzlich wäre. Dazu führt auch, dass der Mensch dann darauf verzichtet, Risiken einzugehen, die er früher bedenkenlos eingegangen wäre. Therapiestudien zeigen, dass dieses Ziel von vielen auch tatsächlich erreicht werden kann.
Familienkonflikte
Wenn wir uns mit Mord und Totschlag befassen, müssen wir aber noch eine ganz andere Tätergruppe ins Blickfeld nehmen. Die meisten Tötungsdelikte passieren in der engeren Familie und sie werden nicht von dissozialen Menschen begangen. Und auch die meisten Serientötungen werden nicht von Menschen verursacht, die wir von vornherein als dissozial identifizieren würden. Denken wir nur an den Krankenpfleger aus Oldenburg oder an manche Frauen, die sich ihrer Männer auf diese Weise entledigt haben.
Wenn man sich viele Fälle innerfamiliärer Gewalt vorstellt, werden die dunklen Seiten, die hinter derartigen Gewaltdelikten stehen, deutlich – und kaum einer mag sagen, dass uns ähnliches ganz fremd wäre.
Wenn Sie die Medien betrachten und meinen Ausführungen folgen, entsteht leicht der Eindruck, dass Gewalt und Kriminalität vor allem ein Problem der Männer sind. Und wenn man die Zahlen der Kriminalstatistik anschaut, ist das auch richtig. Lediglich ca. 10 % der registrierten Kriminalität, 5 bis 10 % der Gewaltdelikte und kaum 2 % der Sexualstraftaten werden von Frauen begangen. Gibt es somit diese dunkle Seite bei Frauen nicht? Ganz so einseitig sollten wir die Welt aber nicht betrachten.
Als man Gewalthandlungen in psychiatrischen Kliniken analysierte, solange es noch nach Geschlecht getrennte Stationen gab, war das Leben auf den Frauenstationen gefährlicher als auf der Männerseite. Auch wenn man Gewalt in Partnerschaften anhand großer Befragungen untersucht, unterscheiden sich Männer und Frauen kaum in Bezug auf Häufigkeit und Ausmaß aggressiver Handlungen. Die spezifische Beforschung von Gewalt bei Frauen steckt allerdings erst in den Anfängen. Was man mittlerweile aber weiß: Gewalt von Frauen schaut anders aus, sie dringt kaum an die Öffentlichkeit und ist versteckter. Das hat mit sowohl mit der genetischen und biologischen Ausstattung als auch mit der Sozialisation zu tun. Eines der häufigsten weiblichen Aggressionsmuster ist die Rufschädigung und der subversive soziale Ausschluss des Konkurrenten bzw. der Konkurrentin. Mit fehlt jetzt die Zeit um Ihnen mehr davon zu erzählen. Wir sollten das Problem aber nicht unterschätzen, da wir uns auch in Zusammenhang mit der erfreulichen Integration von Frauen in die Arbeitswelt mit diesen Fragen auseinandersetzen sollten.
Ich will die verbleibende Zeit aber noch nutzen, um Ihnen mitzuteilen, warum ich mich trotz meiner fast täglichen Beschäftigung mit den dunklen Seiten in unserer Gesellschaft ganz gelassen und zufrieden in dieser Welt bewege. Dazu ein Zitat von Barack Obama aus dem Jahr 2016:
„If you had to choose a moment in history to be born, and you did not know ahead of time who you would be – you did not know whether you were born into a wealthy family or a poor family, what country you’d be born in, whether you would be a man or a woman – if you had to choose blindly what moment you’d want to be born, you would choose now.”
Tatsächlich sind die uns umgebenden Gefahren, auch jene der Kriminalität, heute geringer als je zuvor in der Weltgeschichte. Die dunklen Seiten unserer Mitmenschen – auch unsere eigenen – sind bei weitem nicht mehr so schwarz wie früher. Wir brauchen keine Rache und kein Blut, um uns auszusöhnen, keine Todesstrafe und keine Folter, um Gerechtigkeit anzustreben. Die Zahl der Wegelagerer und Diebe, jene der Triebtäter und Kinderschänder hat trotzdem oder gerade deswegen abgenommen, und zwar in einem früher nicht für möglich gehaltenen Umfang. Dazu hat uns Wachsamkeit, ein Regelwerk, dem wir vertrauen und manches andere, was wir als Zivilisation bezeichnen, verholfen.
Wir müssen aber stets darauf bedacht sein, dass das dünne Eis der Zivilisation nicht wegschmilzt oder einbricht. Wir müssen also wachsam bleiben – dann können wir auch ohne Angst vor den dunklen Seiten, die es auch und immer noch bei uns und in unserer Umgebung gibt, gut leben.