Mythos und Wahrheit – dieser Tagungstitel hat im Januar 2025 sicher manchen irritiert. Müsste es nicht heißen: Mythos oder Wahrheit? Mythen haben den Ruf, Früchte einer blühenden Fantasie zu sein. Wahrheit dagegen ist real, gewiss und beweisbar. Wer Wahrheit sucht, wird Mythen scheuen. In der Religion ist das nicht anders. Christen glauben an die Wahrheit der biblischen Offenbarung. Deshalb gab und gibt es Versuche zu beweisen, dass die Bibel wahr ist, während nur andere Religionen Mythen sind. Die folgenden Überlegungen wollen deutlich machen, dass diese Entgegensetzung problematisch ist. Sie verstellt den Blick auf den Wert von Mythen, die ein Weg in Richtung Wahrheit sein können.
Klaus Bieberstein wird uns in die Welt der biblischen Mythen führen. Zuvor möchte ich Ihnen aus philosophischer und theologischer Perspektive die Problematik und den Wert von Mythen deutlich machen. Mein erster Beitrag wird sich der Frage widmen, wie wir Menschen uns in der Welt orientieren, wie wir etwas erkennen und welche besondere Rolle der Mythos dabei spielt. Mein zweiter Beitrag hat dann – nach dem ausführlichen Blick in die biblische Vergangenheit – das Verhältnis von Mythos, Religion und Glaube mit einem besonderen Fokus auf das Christentum zum Thema.
Welterschließung zur Struktur menschlicher Erkenntnis
Ich beginne mit einer Kurzgeschichte: Eine junge Frau ist Botanikerin und bereits eine hoch anerkannte Expertin ihres Fachs. Ihr Nachbar hat schon seit einiger Zeit ein Auge auf sie geworfen. Endlich fasst er sich ein Herz und will sich ihr offenbaren. Er kauft drei erlesene Rosen und klingelt an der Tür seiner Nachbarin. Sie öffnet die Tür, schaut erstaunt auf den Nachbarn, sieht die Rosen und erkennt sofort, dass ihr, der berühmten Wissenschaftlerin, diese Rosensorte noch völlig unbekannt ist. Sie nimmt dem Nachbarn die Rosen aus der Hand, dankt flüchtig, schließt ihre Tür und eilt in ihr Arbeitszimmer,
um diese Rosen zu untersuchen.
Da ist etwas gründlich schief gegangen. Gerade deshalb führt diese erfundene Geschichte schon mitten in die Philosophie Ernst Cassirers, der für die folgenden Überlegungen der wichtigste Gewährsmann ist.
Cassirer, ein Universalgelehrter, suchte eine Möglichkeit, seinem umfangreichen Wissen eine philosophische Struktur zu geben. Er widmete sich deshalb zunächst einer Geschichte des Erkenntnisproblems (vgl. ECW 2–5). In seinem so betitelten vierbändigen Werk zeichnete er die neuzeitlichen philosophischen Versuche nach, die menschliche Erkenntnis zu verstehen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund seiner parallel verfolgten kulturgeschichtlichen, natur- und geisteswissenschaftlichen Forschungen fand er zu seinem eigenen philosophischen Ansatz, der Philosophie der symbolischen Formen (ECW 11–13). In ihr entwickelte er nicht zuletzt ein neues Verständnis der Mythen.
Symbolische Formen
„Unter einer symbolischen Form soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“ (ECW 16, 79)
Diese zentrale Definition der symbolischen Form kann erklären, was zwischen der Botanikerin und ihrem Nachbarn geschehen ist. Beide nahmen mit ihren Augen und vermutlich auch ihrer Nase, also sinnlich, die Rosen wahr. Doch sie gaben dem, was sie dort wahrnahmen, völlig unterschiedliche Bedeutungen. Der Nachbar hatte die Rosen als Zeichen seiner Verliebtheit ausgesucht. Die Botanikerin ordnete dagegen die gleichen Rosen in ihre wissenschaftliche Systematik ein. Wessen Deutung ist nun die wahre?
Um zu einer Antwort zu kommen, lohnt es sich, die zitierte Definition von Cassirer genauer zu betrachten. Ein sinnliches Zeichen ist für Cassirer nichts anderes als ein Eindruck, den wir mithilfe unserer fünf Sinne wahrnehmen. Ähnliches geschieht in ganz unterschiedlicher Weise bei allen Lebewesen, die darauf automatisch instinktiv reagieren. Es zeichnet die Menschen aus, dass sie nicht rein instinktiv gesteuert werden. Sie können in vielen Fällen entscheiden, wie sie das Wahrgenommene deuten und verstehen wollen. Dazu befähigt uns, so Cassirer, der Geist. Die Verknüpfung von sinnlichem Zeichen und geistiger Bedeutung sieht er als eine „Urtatsache“ des menschlichen Bewusstseins an. Sobald aus dem Rauschen der vielen sinnlichen Eindrücke eine bestimmte Wahrnehmung unser Interesse weckt, nehmen wir sie als etwas von uns Bestimmtes wahr. So wird für den einen z. B. aus einer gekrümmten Linie eine Schlange. Eine andere würde die gleiche Linie als Sinuskurve sehen. Wieder eine andere die Linie als Kunstwerk behandeln. Dieses Beispiel stammt von Cassirer selbst und stand Pate bei meiner Erzählung von der Botanikerin und ihrem Liebhaber. Dass wir diese
Verknüpfung vornehmen, ist notwendig; wie wir sie vornehmen, ist dagegen, wie die Beispiele zeigen, offen.
In der Regel ist uns, wenn wir etwas erkennen, gar nicht bewusst, dass wir damit bereits eine Entscheidung getroffen haben. Wir halten sie für eindeutig. Auch das kann Cassirer erklären. Von symbolischen Formen spricht er nicht nur, wenn es um einzelne Wahrnehmungen geht. Als symbolische Formen bezeichnet er auch bestimmte gedankliche Gefüge, mit deren Hilfe wir uns in der Welt orientieren. In diesen Gefügen ist festgelegt, welche Regeln bei der Verknüpfung von sinnlichen Zeichen und geistiger Bedeutung gelten. Die Botanikerin deutete die Rose in der symbolischen Form „Naturwissenschaft“. Ihr Nachbar bediente sich des Systems metaphorischer Zeichen, das dem Umfeld der symbolischen Form „Sprache“ zugeordnet werden kann.
In unserer Welt, man kann auch sagen: in unserer Kultur, steht uns eine beachtliche Zahl von symbolischen Formen zur Verfügung. Wir sind mit ihnen so vertraut, dass wir in der Regel nicht bewusst entscheiden müssen, in welcher Form wir die aktuelle Wahrnehmung deuten. Niemand käme auf die Idee, die Bibel als Gebrauchsanleitung zu nutzen, wenn er sein Fahrrad reparieren will. Und hoffentlich sucht, wer nach dem Sinn des Lebens fragt, nicht in den Naturwissenschaften nach einer Antwort. Es gibt aber durchaus Situationen, in denen unsere bewusste Wahl gefordert ist oder zumindest zu empfehlen wäre. Man denke an die Botanikerin.
Wichtig ist, dass man die Dynamik der Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung auch umkehren kann. Der Nachbar spürte sein Verliebtsein und suchte nach einem Zeichen, mit dem er sein Gefühl und seinen Wunsch nach Beziehung vermitteln könnte. Hier wird also an eine geistige Bedeutung ein sinnliches Zeichen geknüpft. Was auf den ersten Blick recht einfach erscheint, ist in der Realität höchst kompliziert. Denn nicht nur das für den Nachbarn eindeutige Zeichen erweist sich in der Reaktion der Angebeteten als vieldeutig. Diese Vieldeutigkeit ist ein untilgbares Merkmal aller sinnlichen Zeichen.
Cassirers Verständnis menschlicher Erkenntnis ist zweifellos irritierend. Wenn alles vieldeutig ist, was ist dann richtig oder gar wahr? Löst Cassirer unsere Orientierung in der Welt in pure Beliebigkeit auf?
Freiheit statt Beliebigkeit
Gegen diesen Vorwurf wehrt sich Cassirer. Er betont, dass innerhalb jeder symbolischen Form klare Regeln gelten. Innerhalb der Botanik ist kein Platz für die Rose als romantischer Liebesbeweis. Für den Liebenden ist die botanische Bestimmung der Rose bedeutungslos. Innerhalb einer symbolischen Form gibt es keine Beliebigkeit.
Dabei betont Cassirer allerdings, dass die symbolischen Formen nicht starr, sondern einem dynamischen Wandel unterworfen sind. Aufgrund von neuen Erfahrungen, die sich nicht mit den bisherigen Regeln deuten lassen, sind Veränderungen oder Erweiterungen nötig. Sogar in den Naturwissenschaften gab es immer wieder sogenannte Paradigmenwechsel, die ein neues Denken und neue Regeln für die wissenschaftliche Forschung forderten. Deutlich wird das nicht zuletzt in der Sprache, die Cassirer als eigene symbolische Form versteht. Durch den alltäglichen Gebrauch der Sprache oder durch die kreative Kraft von Dichtern verändert sich Sprache bis in die Grammatik hinein. Schon bei der heutigen Lektüre von Cassirers Texten, die gerade mal hundert Jahre alt sind, stellt sich unvermeidlich immer wieder Befremden ein.
Doch auch nach dieser Erklärung lässt sich immer noch die Frage stellen: Was ist die Rose denn nun wirklich? Die Antwort Cassirers: Alle Formen „treten zwischen uns und die Gegenstände; aber sie bezeichnen damit nicht nur negativ die Entfernung, in welche der Gegenstand für uns rückt, sondern sie schaffen die einzig mögliche, adäquate Vermittlung und das Medium, durch welches uns irgendwelches geistige Sein erst faßbar und verständlich wird.“ (ECW 16, 80)
Das heißt: Anders als in unserem Deuten ist uns die Welt nicht zugänglich. Jede symbolische Form ist eine Welt für sich. Deshalb nennt Cassirer „das Erkenntnisproblem und das Wahrheitsproblem als Sonderfälle des allgemeinen Bedeutungsproblems“ (ECW 17, 16). Das will heißen: Was als „wahre“ Erkenntnis gilt, entscheidet sich innerhalb der jeweiligen symbolischen Form. Würden wir versuchen, die „wirkliche Welt“ hinter all unseren Deutungen zu erfassen – es käme nichts als eine weitere Deutung zustande. Deshalb erklärt Cassirer Kants berühmte Frage nach dem „Ding an sich“ hinter der von uns geformten Erkenntnis für sinnlos. Was bleibt, ist das Leben in und mit unseren Deutungen oder, in Cassirers Sprache, in der Kultur, die die Welt des Menschen ist.
Eine weitere, für unser Thema wichtige Schlussfolgerung zieht Cassirer aus seinem Verständnis menschlicher Erkenntnis und Kultur. In die symbolischen Formen, die es in einer Kultur gibt, wachsen Menschen von klein auf hinein. Sie lernen, wie sie zu sprechen, zu denken und zu handeln haben. Sie lernen auch, die verschiedenen symbolischen Formen angemessen zu nutzen. Dass mit jeder Deutung oder Formung eines sinnlichen Zeichens eine Entscheidung verbunden ist, wird ihnen sehr lange überhaupt nicht bewusst sein. Sobald aber dieses Bewusstsein erwacht, öffnet sich ein neuer Raum, der Raum der Freiheit. Denn nun können Menschen aktiv wählen, wie sie die Welt deuten und sich selbst verstehen wollen. Deshalb kann man sagen: „Im ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben.“ (Cassirer 1990, 345)
Mythos und Mythen
Der philosophische Rahmen, in dem im Folgenden das Verhältnis von Mythos und Religion genauer betrachtet werden soll, ist nun aufgespannt. Cassirer selbst hat viele symbolische Formen mit Hilfe seines Verständnisses von Kultur untersucht. Der Mythos oder genauer gesagt: das „mythische Denken“ hat dabei für ihn eine zentrale Rolle gespielt. Er war vertraut mit der Mythenforschung seiner Zeit, aber auch mit Mythen verschiedenster Kulturen und Epochen, deren Texte er gelesen und interpretiert hat.
Geschichten oder Wahrheit?
Zunächst möchte ich noch einmal auf den Anfang meines Beitrags zurückkommen. Mythen, so habe ich oben behauptet, gelten heute allgemein als Geschichten ohne Wahrheit. Es ist sinnvoll, sich zunächst dieses Verständnis von Mythen bewusst zu machen, bevor wir uns der Perspektive Cassirers widmen.
Mythen sind zunächst einmal Geschichten. Vermutlich denken viele dabei an Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums, ein Buch, das bis heute immer wieder neu aufgelegt wird. Auch andere, meist alte Geschichten sind uns bekannt, die wir Mythen nennen. Doch nicht jede Geschichte ist ein Mythos. Mythen unterscheiden sich von anderen Geschichten durch ihre Funktion. Sie wollen nicht einfach etwas berichten oder nur Vergnügen wecken. Sie wollen etwas erklären oder ihm besondere Bedeutung geben. Sie zielen darauf ab, Menschen, vor allem Gruppen von Menschen, Orientierung und Sinn zu geben. Mythen wollen geglaubt werden. Viele antike Mythen haben heute ihre Bedeutung verloren, weil an ihre Stelle die Naturwissenschaften getreten sind. Nicht Zeus ist für Blitze verantwortlich, sondern elektromagnetische Spannung. Auf der anderen Seite gibt es Mythen, die wir vielleicht gar nicht als solche erkennen. So hat z. B. fast jede Familie ihren Mythos. Sie erzählt und überliefert ihre Geschichte und gibt darin sich selbst Bedeutung und nicht selten Lebensregeln, die über Generationen zu befolgen sind. Ähnliches ist zu beobachten in Staaten und Völkern, die ihre Identität aus ihrer Tradition, ihrer Geschichte ableiten. Und näher an unserem Thema: Die Bibel ist voll von deutenden und verpflichtenden Erzählungen, das heißt, voll von Mythen. In deren Vielfalt führen die Beiträge von Klaus Bieberstein ein.
Diese erste Annäherung möchte ich abschließen mit einem Zitat von Odo Marquard: „Die Menschen können ohne Mythen nicht leben; […] Eines ist die Wahrheit, ein anderes wie sich mit der Wahrheit leben lässt. […] Das Wissen hat es mit Wahrheit und Irrtum zu tun, die Geschichten mit Glück und Unglück: ihr Pensum ist nicht die Wahrheit, sondern der modus vivendi mit der Wahrheit.“ (Marquard 1979, 43)
Das mythische Denken
Vor diesem Hintergrund soll es nun darum gehen, Cassirers Verständnis des Mythos vorzustellen, das eigenständig und durchaus eigenwillig ist. Das 19. Jahrhundert, in dem Cassirer geboren und groß geworden ist, hatte ein ganz eigenes Verhältnis zum Mythos. Als Gegenbewegung zur nüchternen Rationalität, die vor allem mit dem Namen Kant verbunden ist, entstanden die Romantik und ein neues Interesse an der Vergangenheit. In dieser Zeit sammelten die Brüder Grimm ihre Volksmärchen, entstanden Burgen im alten Stil, legte die Literatur großen Wert auf Gefühl und Leidenschaft. Die Mythologie wurde auch zum Gegenstand der Philosophie. Die in dieser Zeit zu findenden Deutungen sahen die Mythologie in der Regel als frühe, aber überwundene Form menschlicher Kultur. Es fehlte aber nicht an spekulativen Entwürfen zur Mythologie. Schelling schrieb eine eigene Philosophie der Mythologie. Der gleichzeitig sich schnell verbreitende Historismus brachte eine riesige Zahl historischer Texte und Dokumente ans Tageslicht, darunter auch viele mythische Texte. All das gehörte zum Fundus, aus dem Cassirer schöpfte und den er neu zu verstehen suchte. Interessant ist außerdem Cassirers Rückgriff auf Platon. Dieser hatte der Philosophie ein klares Ziel gesetzt. Das Motto hieß: „Vom Mythos zum Logos“, das heißt zur Vernunft. Der gleiche Platon hat in späteren seiner Schriften selbst Mythen entworfen. Er rechtfertigte dies mit dem Argument, dass wir Mythen brauchen, wo unsere Vernunft an Grenzen stößt.
Cassirer wehrte sich gegen diese Entgegensetzung von Vernunft und Mythos. Es war sein Anliegen zu zeigen, dass der Mythos kein Gegensatz zur Vernunft ist, sondern eine spezifische Form ihres Gebrauchs. In dieser Hinsicht unterscheidet sich, so Cassirer, der Mythos nicht von anderen symbolischen Formen. Sie alle versuchen, zu einem kohärenten Verständnis der Welt zu kommen. Sie alle kennen die sogenannten Kategorien des Verstandes, allen voran die Kausalität. Auch der Mythos erklärt das Geschehen in der Welt als beständige Abfolge von Ursachen und Wirkungen.
Um diese Vernünftigkeit des Mythos aufzuzeigen, sucht Cassirer zunächst nach einer klaren Definition dieses Begriffs. Mit Hilfe seiner umfassenden Kenntnisse von Mythen kann er nachweisen, dass es unmöglich ist, Mythen aufgrund ihrer gemeinsamen Inhalte und Begriffe von anderen Texten zu unterscheiden. Es gibt kein Bild und keine Vorstellung, die für alle Mythen zentral wäre. Deshalb versucht Cassirer, die Einheit in der Struktur und Funktion von Mythen zu finden. Das ist der Grund, warum er sein wichtigstes Buch zu diesem Thema nicht Der Mythos, sondern Das mythische Denken (ECW 12) genannt hat.
Der Urgrund des Mythos ist nach Cassirer das Gefühl einer großen, umfassenden Einheit. Der noch heute übliche Spruch: „Alles hängt mit allem zusammen“, bewahrt einen Rest dieses Gefühls. Um es noch deutlicher zu machen, dass hier die Ganzheit, nicht aber ihre Teile im Vordergrund stehen, würde man besser formulieren: „Alles ist Zusammenhang“. Fundamental für das Gefühl des Zusammenseins und Zusammengehörens waren im Anfang Tänze, Feiern, Kulte und nicht zuletzt der gemeinsame Kampf ums Überleben, wie etwa bei der Jagd.
Cassirer kann vor allem mit Hilfe sprachgeschichtlicher Studien zeigen, dass die einzelnen Menschen sich in diesen Zusammenhang eingebunden fühlten, aber nicht als eigenständige Individuen verstanden. Die grammatischen Formen stellten immer den Zusammenhang und nicht die vielen Einzelnen dar. Die uns geläufige Satzstruktur von Subjekt, Prädikat und Objekt ist in archaischen Sprachen unbekannt. Eine Analogie dazu ist bis heute zu beobachten: Kleine Kinder brauchen mehrere Jahre bevor sie „ich“ sagen können. Bis dahin nutzen sie für sich den Namen, den ihnen die anderen gegeben und sie so in den Zusammenhang eingefügt haben.
Mythisches Leben
Mythisch denkende Menschen machen sich ihr Bild von der Welt. Weil alles mit allem zusammenhängt, gehen die Menschen im mythischen Denken davon aus, dass alles, auch sie selbst, von Kräften gesteuert werden. Diesen Kräften geben sie Namen und verehren sie. Die Jahreszeiten werden als eigene Kräfte dargestellt, die kommen und gehen. Familien ordnen sich bestimmten Tieren zu, denen sie sich verwandt fühlen. Die Menschen können sich diese Zusammenhänge aber auch selbst zunutze machen. Die Magie verfügt über ein ausgeklügeltes System, das einen Einfluss auf die Welt ermöglicht. Weil alles mit allem zusammenhängt, funktioniert zum Beispiel der Voodoo-Zauber. Ersteche ich die Puppe, die meinen Feind darstellt, stirbt der Feind, selbst wenn er sich in weiter Ferne aufhält.
Aus den verschiedenen hier genannten Elementen bildeten die Menschen in den vom mythisch geprägten Denken geformten Kulturen die Welt, in der sie lebten. Doch je größer die Zahl der zusammenlebenden Menschen wurde, desto komplexer wurden ihre Ordnungsvorstellungen. Damit wurden sie zwangsläufig auch verletzbarer. Doch Ordnung musste erhalten bleiben. Das sogenannte Tabu-System legt fest, was nicht passieren darf. Für die Verletzung eines Tabus waren Strafen vorgesehen. An diesen zeigt sich besonders deutlich, wie weit entfernt von unserem heutigen das damalige Denken war. Denn im Tabu-System gab es noch nicht unsere Begriffe von Verantwortung und Strafe. Es war unerheblich, ob die Verletzung der Ordnung willentlich und wissentlich von einem Menschen verursacht wurde, ob sie gar nur ein natürliches und unbeeinflussbares Geschehen war. Mit Strafe hatte zu rechnen, wer in der Nähe des Geschehens war, wer mit dieser Person verwandt war oder auch nur äußerliche Ähnlichkeit hatte. Eine Frau, die in der Menstruation Blut vergoss, musste rituell gereinigt werden, bevor sie wieder zur Gemeinschaft gehörte. Wurde der Ackerboden vor dem Säen aufgerissen, mussten der Mutter Erde Opfer gebracht werden. Wo immer Ordnung verletzt wurde, egal von wem und wie, ging es um Wiedergutmachung. All diese Beispiele belegen, wie stark die Gesamtheit und ihre Ordnung im Vordergrund standen und welch geringe Bedeutung die einzelnen Menschen hatten.
Vor Überheblichkeit gegenüber diesen alten Kulturen sei gewarnt. Erst das Zweite Vatikanische Konzil hat in der katholischen Kirche die Pflicht abgeschafft, eine Frau nach Geburt eines Kindes „auszusegnen“, weil bei der Geburt Blut geflossen war. Erst danach war sie wieder zu den Sakramenten zugelassen.
Nur noch ein Aspekt, der für unser Thema wichtig ist, sei genannt: Die als Götter verehrten Kräfte, die in der Welt wirken, sind selbst Teil der mythischen Welt. Eine Trennung von Immanenz und Transzendenz gibt es, so Cassirer, im mythischen Denken nicht. Deshalb sind die Götter auch in der Welt erfahrbar. Der Baum, der als Gott verehrt wird, ist dieser Gott. Er ist nicht ein Zeichen für ihn. Von dieser Identität weiß auch noch die Bonifatius-Legende. Vor den Augen der Menschen, die einen mächtigen Baum als den Gott Donar verehrten, fällte Bonifatius diesen eigenhändig. Damit zerstörte er nicht einen Baum, sondern ermordete einen Gott.
Die hier aufgedeckten Strukturen des mythischen Denkens wurden von Cassirer weit differenzierter erforscht als ich es hier darstellen konnte. Dabei ist es ihm gelungen, ungeachtet der so unterschiedlichen Ausprägungen des mythischen Denkens
deren strukturelle und funktionale Einheit aufzuzeigen.
Cassirer geht aber noch einen wichtigen philosophischen Schritt weiter, wenn er das mythische Denken als eine originäre Leistung des menschlichen Geistes charakterisiert. Dieser Ursprung der menschlichen Kultur eint nicht nur die verschiedenen Formen des Mythos. Alle symbolischen Formen sind hervorgebracht aus der Energie des menschlichen Geistes. Dabei unterscheiden sich die einzelnen symbolischen Formen in der konkreten Ausgestaltung ihres Weltverstehens. Cassirer spricht von den verschiedenen „Modalitäten“, in denen sinnliche Zeichen und geistige Bedeutung miteinander verknüpft werden. So entsteht eine Vielheit, die über ihren gemeinsamen Ausgangspunkt, die Symbolisierungskraft des Geistes, verbunden bleibt.