Mehr Streit wagen!

Die Thesen aus dem Fachvortrag von Christian Boeser

© Daniel Köberle

Sich über die Zukunft der Erwachsenenbildung auszutauschen, Ideen einzubringen, konstruktiv miteinander zu diskutieren, bisweilen auch um Budgets und Ausrichtungen zu ringen ist Teil jeder Mitgliederversammlung. Doch auch inhaltlich darf und soll diskutiert und gestritten werden. Und genau dieses Thema – der Streit – war Gegenstand des diesjährigen Fachvortrags.

Für die Praktiker:innen der Erwachsenenbildung ist der an der Universität Augsburg tätige Dr. Christian Boeser kein Unbekannter. Im Bereich der politischen Bildung machte er schon mit vielen Initiativen auf sich aufmerksam und so konnten viele seiner Thesen mit Beispielen aus der Bildungspraxis anschaulich gemacht werden, an denen manche Mitgliedseinrichtung auch aktiv beteiligt war. Der KEB Bayern schrieb Herr Boeser in diesem Jahr ins Stammbuch „Mehr Streit wagen!“ In einer Zeit wachsender gesellschaftlicher Nervosität, Polarisierung und Sprachlosigkeit wirke der Ruf nach noch mehr Streit zunächst irritierend. Doch tatsächlich sei Streit nicht das Problem – sondern Teil der Lösung.

Streit als demokratisches Prinzip – Die Gefahr der Streitvermeidung

Nicht jeder Streit ist feindselig. In Demokratien gehören unterschiedliche Interessen und Werte zum Funktionieren der Gesellschaft. Umso wichtiger ist es, diese Differenzen produktiv werden zu lassen, auch durch eine gute Streitkultur. Doch zunächst erläuterte Dr. Boeser, wieso wir Streit nicht einfach vermeiden sollten: Viele Menschen vermeiden Streit aus Angst vor Eskalation und Feindseligkeit. Die Konsequenzen können soziale Isolation und gesellschaftliche Spaltung sein. Doch ein solches Ausweichen führt langfristig zu denselben Konsequenzen: In Interviews mit Bürgerinnen und Bürgern zeigte sich, dass viele Konflikte nicht gelöst, sondern aufgestaut werden – bis es zur Explosion kommt. Der Teufelskreis aus Streitvermeidung und feindseligem Streit schwächt die Demokratie und führt schlussendlich doch zu Streit, der dann umso feindseliger geführt wird.

Polarisierung als demokratische Herausforderung

Anhand verschiedener quantitativer Studien zeigte Dr. Boeser: Deutschland ist im europäischen Vergleich noch nicht stark polarisiert – aber die Tendenz verschlechtert sich erheblich. Polarisierung bedeutet, dass politische Gegner nicht mehr als legitime Gesprächspartner, sondern als Feinde wahrgenommen werden. Besonders stark polarisiert sind laut Studien ältere, gebildete, wohlhabende Großstädter – und Anhänger linker sowie ökologischer Parteien. In Deutschland sind AfD- und Grünen-Anhänger besonders polarisiert – und begegnen sich kaum noch im Dialog.

Demokratische Streitkultur: Fünf Prämissen

Für die Praxis der Erwachsenenbildung ist es dementsprechend entscheidend, wie zu einer konstruktiven Streitkultur beigetragen werden kann. Im Vortrag wurden dazu fünf Schritte vorgestellt:

1. Probleme und Dilemmata unterscheiden

Vielfach bestehe die Tendenz, gesellschaftliche Fragen als Probleme mit einfachen Lösungen darzustellen. Oft handelt es sich aber um echte Dilemmata. Zum Beispiel seien Sparsamkeit und Großzügigkeit beide positiv – stünden aber in Spannung zueinander. Wer nur eine Seite betone, landet in Geiz oder in der Verschwendung. Demokratische Streitkultur bedeute, diese Spannungen auszuhalten und auszubalancieren. Wer hingegen nur von oben herab urteile, verhindere Verständigung. Es gelte, auf moralische Überhöhung zu verzichten und sich gemeinsam den Dilemmata zu stellen.

2. Interesse und Offenheit

Demokratischer Streit verlange Interesse am Gegenüber und die Bereitschaft, sich selbst zu zeigen. Selbstgerechtigkeit oder Absolutheitsanspruch stehen dem im Weg, denn wer glaubt, die Wahrheit gepachtet zu haben, verhindert Dialog. Das populärste Format der politischen Bildung – das Argumentationstraining gegen Stammtischparolen – zeige, wie stark der Wunsch ist, andere zu „überzeugen“. Doch echte Streitkultur beginne mit der Frage: Was, wenn ich mich irre? Demokratische Streitkultur verlangt Zweifel – auch an der eigenen Position.

3. Grenzen akzeptieren

Es brauche mehr Streit, aber nicht jeder Streit sei zu jeder Zeit sinnvoll. Die Fähigkeit, Grenzen zu erkennen und zu respektieren, ist Teil einer reifen Streitkultur. Schlechte Laune, ungünstige Rahmenbedingungen oder verletzende Situationen lassen Gespräche kippen. Klug zu streiten bedeute auch, den richtigen Moment zu wählen – und manchmal auch ganz auf eine Auseinandersetzung zu verzichten.

4. Scheitern zulassen

Auch wenn man den perfekten Zeitpunkt findet, verlaufen Gespräche nicht immer erfolgreich. Das Eingeständnis eigener Fehler und die Großherzigkeit gegenüber anderen seien zentrale Kompetenzen der Debattenkultur: Wichtig ist, sich zu entschuldigen, Fehler zuzugeben – und daraus zu lernen.

5. Ungewöhnliche Formate und Partner

Wer nur mit Gleichgesinnten spricht, bleibt in seiner Blase. Demokratische Streitkultur brauche Vielfalt – auch in der eigenen Organisation. Das kann durch kreative Orte wie das „Demokratierad“ (Workshops in Riesenrad-Gondeln) oder Kooperationen mit unerwarteten Partnern gelingen.

Streit als Ausdruck von Wertschätzung

Abschließend warb Dr. Boeser noch einmal dafür, dem Streit nicht auszuweichen: „Wer sich streitet, zeigt, dass ihm etwas wichtig ist. Wer sich nicht streitet, gibt auf. Deshalb brauchen wir mehr Streit – aber besser. Nicht feindselig, sondern demokratisch. Nicht destruktiv, sondern konstruktiv. Nicht aus Trotz, sondern aus Achtung.“

Diskussion: Wie umgehen mit der AfD?

Die Diskussion, die sich dem Vortrag anschloss, zeigte, wie groß die Bedeutung des Themas für die praktische Bildungsarbeit ist. Zentral wurde darüber gestritten, wie mit Vertreter:innen der AfD umgegangen werden solle. 2019 hatte die KEB Bayern beschlossen, Vertreter der Partei in der Regel nicht zu Veranstaltungen einzuladen. Denn die AfD zerstöre Streitkultur, indem sie Podien nutze, um gezielt zu provozieren und zu polarisieren.

Die Frage lautete nun, ob dieser Beschluss im Lichte der vorgestellten Überlegungen zur Streitkultur überdacht werden sollte. Dr. Boeser regte an, die eigene Einschätzung regelmäßig zu überprüfen – auch im Hinblick auf mögliche Entwicklungen innerhalb der AfD. Auch wenn das derzeit nicht absehbar sei: Eine Verbesserung der Positionierung der Partei bleibe ja denkbar.

Allerdings waren sich die Diskutanten bei der Mitgliederversammlung einig, dass sich die Situation in den vergangenen fünf Jahren eher verschlechtert habe: Mittlerweile sei die AfD nicht mehr nur ein schwieriger Gesprächspartner, sondern eine reale Bedrohung für ein demokratisches, offenes und humanes Miteinander. Deshalb sei es notwendig, klare rote Linien zu ziehen – insbesondere bei Rassismus und Ausgrenzung. Die Vorstellung, dass man jeden Diskurs führen müsse, sei in solchen Fällen nicht mehr tragfähig.

Dr. Boeser warb in diesem Zusammenhang noch einmal dafür, Anhänger:innen der AfD nicht vorschnell aufzugeben. Auch wenn man die Entscheidung treffe, Parteivertreter:innen nicht einzuladen gelte: „Demokraten sind bis zum Beweis des Gegenteils zum Diskursoptimismus verpflichtet“. Dieser Optimismus dürfe aber nicht naiv sein. Streitkultur bedeute nicht, jede Meinung zu akzeptieren, sondern sich mit ihr auseinanderzusetzen – und dabei auch Grenzen zu setzen, wo sie notwendig sind.

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