Kann Europa sich behaupten?

Schwabinger Vorträge

Sie haben mir heute ein sehr breites und wichtiges Thema gestellt: „Kann Europa sich behaupten?“ Ich könnte mir es nun ganz einfach machen und antworten: Ja; es war ein schöner Abend mit Ihnen, und wir können mit der Diskussion beginnen – allerdings unter erheblichen Anstrengungen, denn ich scheue mich nicht, denjenigen zuzustimmen, die inzwischen von einer Art Zeitenwende reden. Ich will Ihnen ein paar Entwicklungen in Erinnerung rufen, die vielleicht für sich genommen nicht den Eindruck vermitteln, dass es in den letzten zwei bis drei Jahren einen Bruch gab, aber in ihrer Gesamtheit schon.

 

I.

 

Nach der Implosion der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung und damit auch der Vereinigung Europas sind wir eigentlich alle von einer Art postsowjetischer Friedensordnung ausgegangen. Es war sogar die Rede von einer strategischen Partnerschaft Europas mit der neuen Russischen Föderation, und man dachte, dass die bipolare Welt einem neuen Zustand weicht. Ein amerikanischer Historiker sprach sogar vom Ende der Geschichte. Er fühlte sich allerdings leicht missverstanden, wenn man seinen Interviews später folgte; denn er meinte eigentlich das Ende der ideologischen Auseinandersetzungen. Spätestens nach der Annexion der Krim im März 2014 und nach dem Beginn des immer noch andauernden hybriden Krieges in der Ost-Ukraine, der zunehmenden Intervention Russlands auch in anderen Bezügen, insbesondere in Syrien, wissen wir, dass diese postsowjetische Friedensordnung nicht mehr besteht, wenn sie denn je bestanden hat.

Man kann lange darüber debattieren, welche Fehler die westliche Diplomatie, die westliche Außenpolitik gemacht hat im Umgang mit einer, ich nenne es einmal, gedemütigten Großmacht. So fühlte sich nämlich die Russische Föderation: als gedemütigte Großmacht. Und wenn Sie Herrn Putin genau zuhören, erhalten Sie vielleicht einen Eindruck, dass für ihn als ehemaligem KGB-Offizier diese Implosion der Sowjetunion das denkbar schlimmste historische Ereignis in der russischen Geschichte gewesen ist. Es sind Fehler gemacht worden, spätestens auf einem berühmt oder berüchtigt gewordenen NATO-Gipfel in Bukarest 2008, wo die amerikanische Diplomatie der Ukraine und Georgien eine NATO-Mitgliedschaft anbot. Man muss sich vorstellen, wie das in Moskau bewertet wird, wenn in seinem Hinterhof plötzlich mit der Ukraine und Georgien NATO-Staaten entständen. Das ist damals verhindert worden, übrigens nicht zuletzt aufgrund einer deutsch-französischen Diplomatie. Aber auch das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine war ein massiver Fehler gewesen, weil man Moskau nicht miteinbezogen hatte. Man hätte vielleicht für die Ukraine eine Art Scharnierfunktion finden können zwischen der Russischen Föderation und der Europäischen Union, aber unter der Voraussetzung natürlich, Moskau von vornherein mit an den Tisch zu nehmen.

All dies ist richtig, aber es ändert nichts daran, dass die erste wesentliche Völkerrechtsverletzung von der Russischen Föderation ausging, und zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte die territoriale Integrität eines souveränen Staates in Europa verletzt worden ist. Verletzt worden ist darüber hinaus auch ein sehr wichtiges Abkommen, das sogenannte Budapester Memorandum, mit dem die Signatarstaaten, nicht zuletzt die Russische Föderation, die Souveränität der Ukraine anerkannten, und wofür Russland auch eine Gegenleistung bekam. Diese Gegenleistung bestand darin, dass die Russische Föderation sämtliche Atomwaffen, die in der Ukraine stationiert waren, erhielt und nach Russland zurückverlegen konnte. Die Ukraine war so keine Atommacht mehr.

Dieses Budapester Memorandum wurde ausgehebelt. Und das ist der Beginn einer Entwicklung, bei der wir es heute in meinen Augen mit Putins Russland und seiner Vorstellung eines eurasischen Modells zu tun haben, das nicht einfach nur misszuverstehen ist als ein Gegenmodell zu einer europäischen Freihandelszone, sondern verstanden werden muss als ein völlig anderes gesellschaftspolitisches und politisches Konzept. Putin hat an nichts mehr Interesse als an einem schwachen Europa. Und die hybride Kriegsauseinandersetzung läuft ja nicht nur in der Ukraine weiter; wenn man sieht, welche Mitverantwortung die Führung der Russischen Föderation für das fürchterliche Geschehen in Syrien trägt, und wenn man sieht, wie sie versucht, auch auf anderen Ebenen zu destabilisieren, auch im Blick auf das, was wir heutzutage Cyberkrieg nennen. Von einer strategischen Partnerschaft und möglicherweise Annäherung auch der politisch-gesellschaftlichen Systeme kann keine Rede sein.

Der zweite Punkt ist, dass wir es nach der letzten Präsidentschaftswahl in den USA ebenfalls mit einer fundamentalen Veränderung zu tun haben. Ich stehe nicht lange an, diesen Präsidenten zu bewerten. Es mag genügen, wenn ich sage, ich habe selten einen größeren Narzissten in einem solchen Amt erlebt, einen Mann der erkennbar unfähig ist, ein solches Amt durch solide Arbeit auszuüben. Aber viel entscheidender sind andere Überlegungen: Wie verhält sich dieser Präsident in einer Krisensituation? Wie beratungsfähig ist er? Welche praktische Vernunft leitet ihn? Sodann: Wird durch ihn das transatlantische Verhältnis nachhaltig gestört oder sogar zerstört, zum Beispiel durch eine Art Neoisolationismus, den es übrigens in der Geschichte der USA ein paar Mal gegeben hat?

Schließlich: Bahnt sich eine Art Rückzug der USA aus der Rolle eines globalen Ordnungsfaktors an, wofür es schon Anhaltspunkte unter Präsident Obama gab? Es stellt sich die Frage, wer dann in das Vakuum hineindringt, das die Amerikaner hinterlassen. Zudem wird auch eine Art Protektionismus verfolgt unter der großen Überschrift „America first“.

Man könnte fast als weiteren Gedanken hinzufügen: Inwieweit ist jemand dabei, das lange bewährte und wichtige amerikanische System von „checks and balances“ auszuhebeln – mit nachhaltigen Wirkungen für das von einem deutschen Historiker beschriebene „normative Projekt des Westens“  und seiner Attraktivität? Das ist die zweite Entwicklung.

Die dritte Entwicklung ist, dass wir mit China eine aufstrebende Macht haben, die nicht nur zu einem der führenden Wirtschaftsfaktoren in einem sich stark verändernden globalen Markt wird, sondern die, wie ich finde, mit all diesen Projekten durchaus auch klar imperiale Ziele verfolgt. Das Seidenstraßenprojekt kann man als ein imperiales Ausholen bezeichnen, das sehr geschickt erfolgt, nicht militärisch – ich lasse einmal die Interessenlage im Südchinesischen Meer beiseite –, sondern schlicht und einfach, indem man investiert, indem man sich engagiert, indem man auch ein bisschen erpresst, indem man versucht, seine Wertvorstellungen durchzusetzen oder durch finanzielle Zuwendungen zu erkaufen, was nicht nur in Afrika stattfindet, sondern längst auch in Teilen Europas. Das Ausmaß, in dem China sehr gezielt in einigen mittelosteuropäischen Staaten investiert und damit auch versucht, sich politisches Wohlgefallen zu erwerben – in Griechenland ist es inzwischen größter Anteilseigner des Hafens von Piräus –, spielt inzwischen im europäischen Gleichgewicht eine erhebliche Rolle.

Der vierte Punkt ist die fragile Lage Europas. Wir haben es nach wie vor mit Turbulenzen in der Europäischen Währungsunion zu tun, mit einem Brexit, der höchst dilettantisch vom Zaun gebrochen worden ist, und zunehmend auch mit einigen Mitgliedstaaten Europas, die jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt den tragenden Säulen des europäischen Modells Folge leisten. Polen hat seine unabhängige Justiz abgeschafft. Die Verletzungen europäischer Werte in Polen und auch in Ungarn spalten Europa. Das ist der vierte Faktor.

Der fünfte Faktor sind „failing states“ im Nahen Osten, aber auch in Nordafrika. Die Auflösung jedweder staatlicher Strukturen hat ein Vakuum zum Ergebnis und in dieses Vakuum dringen andere Kräfte hinein. Lange Zeit im Nahen Osten auch der sogenannte Islamische Staat. Unabhängig davon, ob dieser inzwischen einigermaßen eingedämmt werden konnte, bleibt die Frage, ob er in einer ganz anderen Konfiguration weiterwirkt, auch durch den Export von Terrorismus. Als Folge dieser „failing states“ haben wir es mit Flüchtlingsbewegungen zu tun, die insbesondere Deutschland ab 2015 zu bewältigen hatte. Eine erste große, auch gefeierte Willkommenskultur hat zunehmend einer gewissen Ernüchterung Platz gemacht, mit der berechtigten Fragestellung, wie viel ethnische und religiöse Diversität unsere Gesellschaft eigentlich verträgt. Eine berechtigte Frage ist darüber hinaus, wie weit uns bisher Integration eigentlich gelungen ist, und inwieweit wir die sehr ehrenwerten, sehr zu respektierenden, sehr humanen Regungen im Blick auf die Aufnahme von Flüchtlingen verbinden können mit den Vorbehalten derer, die sich davon eher „überfremdet“ fühlen und die den Eindruck haben, dass ihre unmittelbare vertraute Nachbarschaft zunehmend aufgelöst oder verfremdet wird.

In einem Exkurs füge ich hinzu: Wir haben es inzwischen nicht mehr nur mit dem alten Muster eines Verteilungskonflikes in unserer Gesellschaft zu tun. Dieser ist nicht verschwunden, wie man leicht an der Vermögensverteilung sowie auch daran feststellen kann, dass Bildung nach wie vor sehr stark davon abhängig ist, aus welchem Elternhaus man kommt. Aber darüber hinaus haben wir es zunehmend mit einem Wertekonflikt zu tun zwischen einem Teil der Bevölkerung, der eher ein liberales, tolerantes Verständnis hat, kosmopolitisch eingestellt und für den Globalisierung, Europäisierung und auch Zuwanderung oder Einwanderung eher positiv besetzt sind, und einem anderen Teil der Bevölkerung, der „Überfremdung“ befürchtet, der seine Selbstgeltung gefährdet sieht und der deshalb eher einer kulturellen Regression folgt. Also auf dem Standpunkt steht, der Rückzug auf die nationale Scholle sei der beste Schutz gegen den Veränderungsdruck. Das ist die Auseinandersetzung unserer Zeit, und die folgt nicht mehr der typischen Klassenanalyse des 20. Jahrhunderts.

Die Flüchtlingsbewegung ist in meinen Augen möglicherweise erst der Anfang einer Entwicklung, nicht bezogen auf die kriegerischen und bürgerkriegsähnlichen Zustände, mit denen wir es leider im Nahen Osten und auch Teilen von Nordafrika zu tun haben, sondern bezogen auf einen enormen Bevölkerungszuwachs in Afrika und dadurch ausgelösten Migrationsbewegungen aus unterschiedlichen Gründen, die von der Klimaveränderung, von maroden oder korrupten politischen Systemen, von schlechten wirtschaftlichen Perspektiven und/oder von der Verarmung her rühren. Hier steht etwas bevor, auf das ich nachher noch einmal zurückkomme, weil es einer der Punkte sein wird, auf den sich die Europäische Union wird einrichten müssen.

Wir haben es schließlich mit einer Renaissance autokratischer und teilweise nationalistischer Tendenzen zu tun. In Umkehrung all dessen, was wir aus der Entwicklung und den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelernt haben, gibt es ein sehr stark retardierendes Moment, nach dem nationale Egoismen wieder eine Rolle spielen und autokratische, teilweise autoritäre Figuren plötzlich eine Renaissance haben. Dies bildet sich ab in einer Kombination teilweise von antiliberalen, antieuropäischen, allemal antiamerikanischen, und im Allgemeinen sehr einfachen Lösungsvorschlägen, die vor dem Hintergrund der Komplexität, mit der wir es zu tun haben, immer falsch sind. Sie versprechen aber, dass alles besser wird, wenn man sich nur in die eigene Wagenburg zurückzieht und die Schotten dicht macht. Das Gegenteil ist aber der Fall.

 

II.

 

Ich bin davon überzeugt, dass keines der zentralen Probleme, nicht ein einziges mehr, mit denen wir es heute zu tun haben, in der nationalen Reichweite von Politik gelöst werden kann. Wer immer die Vorstellung entwickelt, unter den Einflüsterungen von mehr oder weniger dumpfbackiger Parolen, egal aus welcher Richtung, man würde mit dem Rückzug auf die nationale Scholle besser wegkommen als vorher, der irrt! Es gäbe weniger Schutz und weniger Sicherheit und weniger Wohlstand. Keines der zentralen Probleme lässt sich mehr im Radius nationaler Politik lösen: äußere Sicherheit, innere Sicherheit – bis hin zum Terrorismus –, ebensowenig die Zähmung von großen Internet-Giganten, die zunehmend erhebliche individuelle und kollektive Manipulationsmöglichkeiten haben, also in den Kategorien von Datenschutz, von Wettbewerbs- und Kartellrecht, auch von Steuerrecht. Dass alle dort ihre Steuern zahlen, wo sie ihre Gewinne machen. Auch dies lässt sich nicht mehr alleine in der Bundesrepublik Deutschland lösen, ebenso nicht die Regulierung der Finanzmärkte, wie wir wissen, Klimaschutz nicht, Wohlstandssicherung nicht, Pandemie-Bekämpfungen nicht und auch nicht die Frage, wie man mit den Flüchtlingsströmen umgeht, wie man sie verteilt oder wie man sie gegebenenfalls auch gemeinsam zu verhindern versucht, indem die Probleme vor Ort gelöst werden. Keines dieser Probleme.

Damit habe ich Ihnen natürlich ein Gemälde gezeichnet, das ziemlich übel aussieht. Aber als Anhänger der Dialektik, komme ich zu dem Ergebnis, gerade weil sich diese Zeitenwende durch die erwähnten Punkte so darstellt, ist das Europas Chance, dass es so nicht weitergehen kann wie bisher. Ein Präsident Trump zwingt Europa, die Europäische Union sich als Antwort auf isolationistische und protektionistische Tendenzen aus den USA mehr denn je zu koordinieren und zu ertüchtigen. Trump ist die größte Vitaminspritze für die Europäische Union. Und Putin ist derjenige, der uns wieder bewusst macht, dass die NATO und die Bundeswehr nicht ein Technisches Hilfswerk sind, das bei Hochwasserkatastrophen einzusetzen ist, sondern eine sicherheitspolitische Funktionen haben.

Das heißt, die globalen Machtverschiebungen – wirtschaftlich, militärisch, technologisch –, zwingen dieses Europa mehr denn je, sich auf sich selbst zu konzentrieren und sich mit der Frage zu beschäftigen, ob wir eines Tages ein vernachlässigbarer Kontinent am Nordatlantik sind und uns selber marginalisieren, oder ob wir zu dem Ergebnis kommen, dass wir vor dem Hintergrund dieser Veränderungen, diesen wunderbaren Kontinent einflussreich und stark erhalten, indem wir uns besser koordinieren und abstimmen, gemeinsame Ziele verfolgen und damit das erhalten, was diesen Kontinent so lebens- und teilweise liebenswert macht.

Wenn ich in Schulen und an Universitäten bin, dann stelle ich immer die Frage, welches Gesellschaftsmodell weltweit denn mit dem konkurrieren kann, das wir in Europa erleben. Imitierte Demokratien: Russland? Autokratische Systeme: Türkei? Ein Staatskapitalismus mit einem kommunistischen Überbau, wo jetzt gerade wieder einer auf Lebenszeit gewählt worden ist: China? Ein kruder angloamerikanischer Kapitalismus? Oder hätten wir doch lieber das, was wir eine soziale Marktwirtschaft nennen, ein auf Ausgleich bedachtes Wirtschaftssystem, mit einer unendlichen Bandbreite von Freiheiten? Wir können nach wie vor nachts gut schlafen auf diesem Kontinent. Heinrich Heine könnte es. Dieses System zu verteidigen und aufrecht zu halten, ist des Schweißes der Edlen wert.

Es gibt dazu aktuell eine Reihe von Initiativen, wie es sie jedenfalls vor einem Jahr noch nicht gegeben hat. Da sind zunächst einmal die bemerkenswerten Reden des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, die er in Athen vor einer phantastischen Kulisse und an der Universität Sorbonne gehalten hat. Unabhängig davon, was er im Einzelnen gesagt hat oder wo er nur an der Oberfläche und es viele Nachfragen gibt, bleibt die Tatsache, dass plötzlich die europäische Dynamik im Kreis der Staats- und Regierungschefs nicht von Deutschland bestimmt wird, sondern vom französischen Staatspräsidenten, der, ohne irgendein parteipolitisches Gefäß zu haben, mit einer Bewegung erst die Präsidentschafts- und dann die Parlamentswahl gewonnen hat. Er wird sich, wie ich glaube, auch im Europäischen Parlament abzusetzen versuchen von den festgefügten Parteiblöcken und ein eigenes parteipolitisches Zentrum bilden, weder in Anlehnung an die EVP noch in Anlehnung an die Sozialdemokraten oder Sozialisten.

Es gibt das Weißbuch von Jean-Claude Juncker aus der EU-Kommission. Es gibt ein bemerkenswertes Papier der beiden EU-Kommissare Pierre Moscovici und Valdis Dombrovskis, insbesondere auch zur Reform der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Fast noch beachtlicher finde ich, dass sich das erste Mal sieben deutsche und sieben französische Ökonomen zusammengesetzt haben, wie denn die Währungsunion zu stabilisieren sei – ein sehr lesenswertes Papier –, und es gibt das erste Mal auch auf der militärischen Ebene oder bei denjenigen, die politisch dafür verantwortlich sind, einen Einstieg in die Debatte, ob sich die europäischen NATO-Mitgliedstaaten nicht sehr viel besser abstimmen, koordinieren, eine gemeinsame Beschaffungspolitik organisieren und auch mehr in ihre Bündnis- und Einsatzfähigkeit investieren müssen. Also ist da etwas in Gang gekommen. Noch nicht schlüssig, noch nicht beschlossen, noch nicht umgesetzt, aber immerhin, die Debatte hat Geschwindigkeit aufgenommen.

 

III.

 

Sie werden fragen, was weiter zu tun ist. Mir sind einige Punkte durch den Kopf gegangen. Im Telegrammstil:

Ohne dass ich eine Gewichtung oder eine Rangfolge vornehme: Das erste ist eine Stabilisierung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Die Zukunft des Euro wird nicht in Athen entschieden; das ist marginal. Am Bruttosozialprodukt der Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion hat Griechenland vielleicht einen Anteil von vier oder fünf Prozent. Die Zukunft des Euro wird in Italien entschieden, und wir haben jedwedes Interesse, dass das gelingt – ohne Häme und ohne deutschen pädagogischen Zeigefinger. Die Parlamentswahl, die es in Italien gerade gegeben hat, stimmen nicht sehr optimistisch, aber man hat die Hoffnung, dass dies aufgrund der wundersamen Fähigkeiten der Italiener selbst in größter Unübersichtlichkeit tragfähige Lösungen zu erschließen, auch diesmal gelingt.

Der Punkt ist nur, dass die wirtschaftliche Lage dieses Landes nicht so gut ist, wie sie sein sollte. Wenn man sich die faulen Kredite auf den Bilanzen europäischer Banken ansieht, sind dies ungefähr insgesamt ca. 800 Milliarden Euro – faule Kredite, bei denen die Banken damit rechnen müssen, dass sie nicht zurückgezahlt werden. Wir müssen feststellen, dass ungefähr ein Drittel davon auf den Bilanzen italienischer Banken liegen. Einiges ist innerhalb der Europäischen Währungsunion vorangekommen, einiges ist auch an Stabilisatoren eingebaut worden, aber die Disparitäten innerhalb der Europäischen Währungsunion spielen nach wie vor eine Rolle, und es wird um die Frage gehen, ob es weitere Rückversicherungen gibt, weitere Stabilisatoren, für die gegebenenfalls auch jemand in Haftung zu treten hat. Das ist das entscheidende Thema in der deutschen Politik. Ich komme nachher darauf zurück, wenn es um die deutsche Rolle und die deutsche Verantwortung geht. Und Sie werden nicht überrascht sein, wenn ich sage, das wird teuer, aber notwendig.

Das zweite ist die Vollendung der Banken-Union, weil das die richtige Antwort darauf ist, dass wir nicht noch einmal eine solche Bankenkrise erleben wie 2008 eskalierend. Die erste Säule ist etabliert, nämlich eine Bankenaufsicht über 150 bis 200 der größten grenzüberschreitenden Banken der Eurozone, angesiedelt bei der Europäischen Zentralbank. Die zweite Säule ist auch etabliert, nämlich eine Art Abwicklungsmechanismus oder Abwicklungsfonds für Banken, die illiquide oder insolvent werden. Das Dritte steht aus; das ist eine gemeinsame europäische Einlagensicherung. Darüber tobt der Streit, weil natürlich der Sparkassendirektor in Wanne-Eickel, um völlig willkürlich eine Stadt in Deutschland herauszugreifen, keine Lust hat, für die Risiko-Ignoranz einer Bank in – nun werde ich sehr diplomatisch und nenne kein Land konkret, also sagen wir – Taka-Tuka-Land mit dem Einlagensicherungssystem seiner Bank zu haften. Die Voraussetzung dafür, dass eine europäische Einlagensicherung funktioniert, wäre gegeben, wenn die Bilanzen der Banken von hohen faulen Krediten bereinigt werden. Dann kann man sich so etwas vorstellen. Aber immerhin, Teile dieser Banken-Union sind vorangekommen.

Es wird drittens um eine Harmonisierung der Steuersysteme gehen, nicht im Sinne einer Harmonisierung der Steuersätze, sondern es wird darum gehen, dass kein europäisches Land mehr das betreiben kann, was man im Englischen eine „beggar my neighbour policy“ nennt, indem es mit Steuervorteilen zum Schaden des Nachbarn beiträgt. Das gibt es immer noch in Europa, auch mit Blick auf eine legale Steuervermeidung, indem ein Internet-Gigant wie Google oder auch Amazon oder auch Ikea oder Starbucks ganz systematisch Steuervermeidung unter Ausnutzung der europäischen Steuersysteme betreiben – so zielt z.B. eine Holding-Besteuerung in den Niederlanden und auch in Belgien, darauf ab. Auch das Krongebiet der Isle of Man in der Irischen See bietet bemerkenswerte Besonderheiten hinsichtlich der Steuergestaltung. Also wird es darum gehen, dass vor diesem Hintergrund Europa auf ein faires Wettbewerbsfeld gezogen wird, in dem Gewinne dort versteuert werden, wo sie anfallen, und nicht aufgrund besonderer Verrechnungs- und Abrechnungssysteme verschoben werden können, wie das bisher geschieht. Das ist das dritte Thema.

Jenseits jeder Rangfolge wird es viertens im Bereich der Sicherheits- und Außenpolitik darum gehen, dass Europa endlich ein kohärentes außen- und sicherheitspolitisches Konzept entwickelt. Das erstreckt sich nicht nur auf Diplomatie, nicht nur auf wirtschaftliche Unterstützung, sondern es erstreckt sich auch auf die Verstärkung und Einsatzfähigkeit der entsprechenden militärischen Potentiale, die nötig sind. Ich stehe nicht lange an zu sagen, dass das augenblickliche Erscheinungsbild nicht zuletzt auch des deutschen militärischen Potentials erschreckend ist. Ich werde nie vergessen, wie im Rahmen einer UN-Mission, mandatiert vom UN-Sicherheitsrat, eine deutsche Korvette oder Fregatte ausläuft, um Piraterie am Horn von Afrika zu bekämpfen, aber leider keine Luftaufklärung betreiben kann, weil der Hubschrauber ausfällt. Als jemand, der lange an der Küste zuhause gewesen ist, lerne ich gerade, dass die gesamte deutsche U-Boot-Flotte nicht einsatzfähig ist. Weitere Ausrüstungsmängel bis hin zur Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten können andere sicher besser beurteilen als ich. Wir haben auch über Abwehrfähigkeiten im sogenannten Cyber-Krieg zu reden – einer neuen Ebene der Auseinandersetzung.

Fünftens wird es um die Zähmung von Internet-Giganten gehen. Ich habe wirklich den Eindruck, dass die Ambivalenz dieser digitalen Revolution in der öffentlichen Debatte völlig unterschätzt wird. Wir alle finden die Möglichkeiten, die diese digitale Revolution uns mit Blick auf iPhones und iPads und Internet usw. eröffnet, phantastisch und merken nicht, wie sich dort eine ökonomische Macht etabliert, die hoch kapitalkräftig ist. Die vier größten Internet-Giganten, alle aus den USA, dürften in ihrer Marktkapitalisierung spielend den ganzen Dax aushebeln. Sie investieren massiv in künstliche Intelligenz, was eines Tages die Fragestellung aufwirft, und das sage ich mit Absicht in einer Katholischen Akademie, wer ist dann der Mensch und wer ist die Menschheit. Das heißt, es tauchen auch erhebliche ethische Probleme auf. Wir sind in Europa nicht in der Lage, eine eigene entsprechende Infrastruktur und auch entsprechende unternehmerisch agierende Einheiten aufzubauen. Und die nächste Front in diesem Zusammenhang kommt aus China. Wir sind bisher nicht in der Lage, uns auf der Grundlage des Wettbewerbsrechts, Kartellrechts, Steuerrechts und Datenschutzrechts durchzusetzen gegenüber diesen übermächtigen – an dieser Stelle sage ich als Sozialdemokrat – auch vaterlandslosen Unternehmen, die alles vermeiden wollen, was mit staatlichen Regelungen oder supranationalen Regelungen zu tun hat.

Der sechste Punkt, der mir durch den Kopf geht, ist etwas, was ich bereits andeutete. Es wird um eine völlig neue Konzeption der Afrikapolitik der Europäischen Union gehen; das heißt, die bisherige Entwicklungshilfe ist vollständig zu überdenken. Wenn wir Migrationsströme aus Afrika verhindern wollen, dann wird es um eine völlige Neukonzeption gehen, die sehr viel stärker darauf gerichtet ist, auch an korrupten politischen Systemen vorbei dafür Sorge zu tragen, dass es eine Ursachenbekämpfung für diese Migrationsbewegungen gibt. Der enorme Bevölkerungszuwachs in Afrika lässt vor allem mit Blick auf den männlichen Teil befürchten, dass eine Wanderungsbewegung einsetzen könnte, die die bisherige Flüchtlingsentwicklung aus dem Nahen Osten als lauen Wasserfall erscheinen ließe. Also wird sich Europa proaktiv mit diesem Szenario beschäftigen und seine Afrikahilfe neu ausrichten müssen.

Es wird siebtens schließlich darum gehen, die transatlantischen Beziehungen unbenommen davon, wer im Weißen Haus sitzt, über die Frustrationen, Enttäuschungen, Verwunderungen hinweg nicht einschlafen zu lassen. Eines Tages ist Trump auch nicht mehr Präsident. Die augenblickliche Absetzbewegung seiner Berater, spätestens jetzt, als der amerikanische Außenminister Tillerson rausgeworfen worden ist, macht mir Sorge. Allein schon, dass er durch den Präsidenten nicht persönlich angesprochen wurde, sondern offenbar über eine E-Mail oder eine Twitter-Mitteilung von seiner Entlassung erfuhr, was schon allein das Stilempfinden dieses Mannes decouvriert. Aber eines Tages ist dieser Präsident nicht mehr im Amt, und wir werden alle Verbindungen, die wir zur amerikanischen Zivilgesellschaft, zu Universitäten, zu Unternehmen und auch zur US-Administration haben, aufrecht erhalten müssen, unbenommen der Verwunderung oder auch des Entsetzens über das Agieren dieses Präsidenten. Es bleibt uns nichts anderes übrig. Ich glaube, dass die Qualität der transatlantischen Beziehung nicht mehr mit dem vergleichbar ist, was wir in den 1950er, 60er, 70er, 80er Jahren erlebten, aber für Europa sind die Vereinigten Staaten von Amerika nach wie vor der naheliegende strategische Partner. Das gilt auch für den Fall, dass Trump nochmals gewählt wird, was so unwahrscheinlich nicht ist, wenn man das Ohr am Puls des amerikanischen Geschehens hat.

Dasselbe gilt, achtens, mit Blick auf den Brexit. Natürlich ist uns Kontinentaleuropäern bewusst, dass der britische Premierminister David Cameron aus einer parteipolitisch völlig verzerrten Sichtweise versucht hat, seine Hardliner unter den Tories ruhig zu stellen, indem er ein Referendum aus dem Ärmel schüttelte, in der Annahme, das ginge schon gut. Und anschließend ging seine Nachfolgerin, ich scheue mich nicht zu sagen, ziemlich dilettantisch in diese Verhandlungen hinein. Jede Stimme, die ich in Brüssel wahrnehme, läuft darauf hinaus, dass diese Verhandlungen, bisher jedenfalls, auf einen definitiven Cut hinauslaufen können. Denn die britische Premierministerin hat in einer ganz merkwürdigen verfahrenspolitischen Vorstellung den Scheidungsbrief am 29. März 2017 losgeschickt, anstatt damit so lange zu warten, bis eine Verhandlungsstrategie definiert werden konnte.

Was man bisher über die Brexit-Verhandlungen gehört hat, so ist die Situation keineswegs so unstrittig, wie das vielleicht nach einer Runde Anfang oder Mitte Dezember dargestellt worden ist. Da ging es um die drei entscheidenden Punkte, nämlich erstens welche Zahlungen die EU erwartet, zweitens wie es um den Rechtsstatus der EU-Bürger auf den Britischen Inseln wie auch vice versa steht, und drittens geht es um die sehr schwierige Lage entlang der Grenze von Nordirland und der Irischen Republik. Die Tendenz, die nach wie vor in Großbritannien verbreitet ist, folgt immer noch der Vorstellung: „We want to have your cake and eat it, too.“ Wir wollen die Vorteile eines gemeinsamen Marktes, wir wollen die Vorteile einer Zollunion, aber wir wollen nicht Mitglied des gemeinsamen Marktes und der Zollunion sein.

Der Scheidungsvertrag ist das eine, das andere ist dann erst ein weiteres Vertragsgebilde, das die zukünftigen Handelsbeziehungen regelt. Das sind zwei Schritte. Die Europäische Union der 27 hat von Anfang an in großer Einmütigkeit abgelehnt, was die Briten wollen: eine Parallelverhandlung. Die Union der 27 hat durchgesetzt, dass es ein konsekutives Vorgehen gibt – und die Zeit läuft, was den Scheidungsvertrag betrifft. Die Zeit läuft, weil das Europäische Parlament beteiligt werden und ratifizieren muss, und das bedeutet, dass ein Ergebnis spätestens im Herbst dieses Jahres vorliegen müsste; das heißt, wir reden nur noch über fünf bis sechs Monate.

Nun kann man sich als Kontinentaleuropäer auf den Standpunkt stellen und sagen, wir betreiben das, was die Briten „naming, blaming, shaming“ nennen. Aber ich sage, das macht keinen Sinn. Denn Europa ist darauf angewiesen, dass auch nach einem Brexit die Bindungen zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa so eng wie möglich sind, aus mehreren Gründen, auch aus sicherheitspolitischen Gründen. Nicht zuletzt mit Blick auf die Tatsache, dass Großbritannien einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat, dass es nach wie vor auch in seinen militärischen Potentialen von erheblicher Bedeutung ist, und über Brücken in die Commonwealth-Staaten verfügt.

Wir Deutsche mochten die Briten an den Tischen in Brüssel eigentlich ganz gerne. Warum? Weil sie für eine Balance sorgten. Das heißt, die ordnungspolitischen Vorstellungen der Briten, wie ich als ehemaliges Mitglied des Finanzministerrates ECOFIN (Rat Wirtschaft und Finanzen) berichten kann, waren schon willkommen, auch wenn die manchmal ein bisschen spleenig waren. Warum? Weil sie das Gegengewicht waren zu mediterranen Vorstellungen, die eine sehr viel stärker etatistische, interventionistische Tradition haben als unsere britischen Freunde. Also wird es darum gehen, auch unter diesem Gesichtspunkt trotz Brexit sich nicht zurückzulehnen und resigniert „United Kingdom cut off“ festzustellen.

Vorletzter, neunter Punkt: Wir werden, wie ich glaube, innerhalb Europas mit etwas mehr Zielstrebigkeit gegenüber den Ländern Vertragsverletzungsverfahren durchführen müssen, die den europäischen Wertekanon verletzen. Ich weiß, dass die Sanktionsmöglichkeiten gering sind, wenn Polen eine unabhängige Justiz abschafft. Man wird Polen dann nicht einmal im Vertragsverletzungsverfahren zum Beispiel das Stimmrecht wegnehmen können, weil das einem Einstimmigkeitsprinzip unterliegt. Aber, so füge ich hinzu, Polen ist der größte Netto-Empfänger von EU-Geldern, und im Rahmen der jetzt anstehenden siebenjährigen Finanzplanung – Verabschiedung in diesem Jahr – wird es darum gehen, ob nicht unterhalb der Schwelle der Einstimmigkeit auf der Ebene der Zahlungsströme zum Ausdruck gebracht werden kann, dass man in Europa nicht nur eine Freihandelskonstruktion ist, sondern darüber hinaus auch noch eine Wertegemeinschaft. Dasselbe gilt im Verhältnis zu Ungarn. Ich würde mir wünschen, dass die EU-Kommission und die Staats- und Regierungschefs in dieser Frage massiver vorgehen.

Punkt zehn: Wir brauchen eine Reform der europäischen Institutionen unterhalb der Veränderungen europäischer Verträge. Eine Änderung der europäischen Verträge müsste in den nationalen Parlamenten ratifiziert und darüber hinaus in vielen Ländern von einem Referendum begleitet werden. Bei weiteren Überantwortungen nationaler souveräner Rechte, z. B. im Budgetrecht, müsste eventuell selbst in Deutschland etwas stattfinden wenn man dem Bundesverfassungsgericht folgt, was es noch nie gegeben hat, weder bei der Verabschiedung des Grundgesetzes, nicht einmal bei der deutschen Wiedervereinigung und auch nicht bei der Abschaffung der D-Mark und der Einführung des Euro: eine Volksbefragung. Ich wäre mir nicht sicher, wenn in 14 Tagen in Deutschland ein Referendum stattfinden würde, bei dem es darum geht, weitere nationale souveräne Rechte auf europäische Institutionen zu verlagern, wie ein solches Referendum ausgehen würde. Ich fürchte, es würde negativ ausgehen.

Also, alle Vorschläge, die darauf hinauslaufen, die europäischen Verträge zu ändern, werden vor diesem Hintergrund scheitern. Aber ich glaube, dass sich unterhalb dessen vieles verbessern lässt, insbesondere mit Blick auf das vielzitierte Subsidiaritätsprinzip, das nichts anderes bedeutet, als dass bestimmte Aufgabe am besten dort zu erledigen sind, wo sie am bürgernahesten und am besten erfüllt werden können. Die EU-Kommission soll sich auf das konzentrieren, was für die Mitgliedsstaaten im grenzüberschreitenden Bereich von zentraler und lebenswichtiger Bedeutung ist. Aber wie das deutsche Sparkassensystem aussieht und wie die Stadt München ihren Öffentlichen Personennahverkehr organisiert, was die Wohlfahrtsverbände machen oder wie der Krümmungsgrad der Salatgurke sein soll, ist keine europäische Angelegenheit.

 

IV.

 

Nun bin ich in der Schlusskurve. All das, bedeutet, dass wir Europa dringend fortentwickeln müssen. Das war übrigens in meinen Augen eines der entscheidenden Argumente gegen eine Minderheitsregierung. Gerade in europäischen Fragen, in denen der Bundestag hohe Kompetenzen hat, kann man sich nicht von Fall zu Fall Mehrheiten zusammensuchen, sondern man braucht Verlässlichkeit, Kontinuität. Nichts ist wichtiger in der Außen- und Sicherheitspolitik als Verlässlichkeit. Also war es richtig, eine große Koalition zu bilden, auch unter einer europäischen „raison d’être“. Es werden auf Deutschland allerdings erhebliche Anforderungen zukommen, politische Verantwortung und finanzielle Lasten zu übernehmen.

Mit den Vorschlägen von Präsident Macron müssen wir uns ernsthaft und konstruktiv auseinandersetzen. Einiges wird vielleicht nicht klappen, aber einiges vielleicht doch. Ich glaube nicht unbedingt an einen europäischen Finanzminister, weil der sofort sehr weitreichende Fragen aufwirft: Welche Kompetenzen hätte er denn und wie weit darf er eingreifen in die Souveränität zum Beispiel bei der Haushaltsaufstellung von Nationalstaaten. Eine nicht ganz unwichtige Frage ist, ob die EU-Kommission nicht der Montesquieu’schen Gewaltenteilung widerspricht. Sie ist nämlich Exekutive und Legislative in einem. Da stellt sich die Frage, ob das auf Dauer so sein kann. Ob und inwieweit das Europäische Parlament vergleichbare Rechte bekommt wie nationale Parlamente, insbesondere was das parlamentarische Initiativrecht betrifft, ist eine weitere Frage.

Es wird für Deutschland jedenfalls auf eine erhebliche Verantwortungsübernahme hinauslaufen, und damit auf eine Verabschiedung aus seinem Selbstverständnis bis zum Anfang der 90er Jahre, als noch der „Große Bruder“ den Schirm über uns gespannt hat und wir uns mit garstigen, sehr realpolitischen Fragen nicht zu beschäftigen hatten, weil andere uns das abnahmen. Das konnten wir uns leicht auf einen gesinnungsethischen Standpunkt zurückziehen und mussten uns im Konflikt zwischen Werten und Interessen nicht entscheiden. Nun aber geht es auch um Interessen und um praktische Vernunft. Darin sind wir nicht sehr gut trainiert, sondern wir steigen gern auf die hohe Mauer moralischer Überlegenheit und urteilen von oben herab.

Die andere Botschaft ist, es wird uns etwas kosten, und jeder, der Ihnen etwas anderes sagt, beschwindelt Sie. Ich füge hinzu, vielleicht zu Ihrem Entsetzen, jeder Euro ist gut investiert, so wie das schon in der Vergangenheit war. Kein Land in dieser zentraleuropäischen Geographie hat seit den Römischen Verträgen von 1957 von dieser europäischen Integration in mehrfacher Hinsicht so sehr profitiert wie die Bundesrepublik Deutschland – sicherheitspolitisch, wirtschaftlich, insbesondere mit Blick auch auf eine Rückkehr in eine europäische Familie nach den Katastrophen und Verbrechen, die wir zu verantworten hatten, und mit Blick auf das, was sich an Freizügigkeit für Personen, Kapital und Güter eingestellt hat. Das ist den meisten in Deutschland offenbar nicht so bewusst. Teilweise 40 bis 43 Prozent unserer jährlichen Wirtschaftsleistung werden wo verdient? Im Export. Nochmals: 40 bis 43 Prozent, in den Jahren schwankend, unserer Wirtschaftsleistung und damit unseres Wohlstandes wird über Export-Aktivitäten verdient. Und da kommt irgendjemand auf die Idee und sagt, wir sollen uns zurückziehen?! Deutschland ist von neun direkten Nachbarn umgeben. So viele direkte Nachbarn hat kein anderes Land in Europa. Die These, bleibt gültig: Unserem Land wird es immer nur so gut gehen, wie es unseren nahen und fernen europäischen Nachbarn gut geht. Das ist eine ganz einfache Logik, und sie ist bestechend. Das gilt politisch, das gilt in der Terminologie von Sicherheit, und es gilt wirtschaftlich. Europa ist nicht das Problem, sondern die Lösung – und dafür werden wir mehr Verantwortung auch im Sinne solidarischer Leistungen übernehmen müssen. Unter dieser Voraussetzung bin ich mir ziemlich sicher, dass sich Europa behaupten kann.

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Wie können wir als Einrichtungen der Katholischen Erwachsenenbildung rechtspopulistischen Tendenzen begegnen? Wie greifen wir die Themen Migration und Gender in unseren Veranstaltungen auf? Diese Fragen standen zu Beginn der Mitgliederversammlung in zwei Workshops im Mittelpunkt. Im weiteren Verlauf der Versammlung beschäftigten sich die Vertreterinnen und Vertreter der KEB-Einrichtungen immer wieder mit Ansätzen für gelungene Demokratiebildung.…
Herzlichen Dank für diese besonders liebenswürdige Begrüßung mit unvollständiger Verlesung meines „Vorstrafenregisters“. Ich bedanke mich sehr für die Einladung, die ich gerne angenommen habe, zumal sie die Gelegenheit bietet, mit Ihnen über ein Thema nachzudenken, das ganz sicher nicht neu ist, aber ebenso sicher nicht überholt ist, und mit dem ich mich selber seit sicher…
Am 11. März 2025 fand das 113. Akademiegespräch mit Offizierinnen und Offizieren aus Bundeswehrstandorten in Süddeutschland statt, an dem mehr als 150 Soldatinnen und Soldaten teilnahmen. Ausgehend von seinem Buch Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt sprach der Theologe und Soziologe Prof. Dr. Jan Loffeld zum Thema Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt. Gibt es einen Wunsch des…

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema: Gesellschaft | Wirtschaft | Politik

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Ordo-socialis-Preis 2025 an Sylvie Goulard
Politische Strategien gegen die radikale Rechte in Europa
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Menschenrechte verteidigen!
Auf der Suche nach einer Gesamtstrategie
Mittwoch, 28.01.2026