Vor einem Jahr ist Alf Lechner verstorben. Bis zuletzt war er künstlerisch tätig und das nicht bescheiden und beiläufig, sondern trotz aller körperlicher Beschwerden und Einschränkungen bestimmte das künstlerische Denken und das selbst Handanlegen, das Erproben des Materials seinen Tag. Ihn beschäftigte, wie schon so oft in seinem Leben, der Würfel als gleichseitiger Körper und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten, wenn man zwei Schnitte durch diesen stereometrischen Körper legt. Würfel und Quadrat waren in seinem Werk immer zentrale Ausgangspunkte. Ein Thema, das einem auf dem ersten Blick als überschaubar und vor allem im 20. Jahrhundert auch als abgearbeitet erscheinen mag. Wie viele Künstler gerade der Konkreten Kunst haben sich mit diesen Formen beschäftigt?
Doch Alf Lechner ersann einen ganz eigenen Zugang zu diesem Formenrepertoire. In den letzten Jahren begeisterten ihn die unzähligen Möglichkeiten, die sich durch den Doppelschnitt beim Würfel ergeben. Diese Schnitte basierten nicht auf Zufällen, sondern Lechner untersuchte in den letzten Jahren systematisch die Varianten und bildete daraus Gruppen, die ihn mehr als andere interessierten. Jeder Großplastik liegen viele Entwurfsschritte zugrunde. So stand die Zeichnung am Anfang, dann folgten das Modell aus Hartstyropor und schließlich eine verkleinerte Probe aus Stahl. In seinem Atelier in Obereichstätt finden sich unzählige dieser späten Proben, die an Modelle eines Mathematikers oder an die neuzeitliche Kammer des Astronoms mit seinen vielen stereometrischen Körpern erinnern. Die Entscheidung für die Ausführung und Umsetzung in Groß stand folglich am Schluss eines langen Findungsprozesses.
Wenn Sie sich die hier ausgestellten Massivstahlplastiken anschauen, dann werden Sie vermutlich – ohne Vorwissen – nicht darauf kommen, dass die einzelnen Körper in anderer Zusammensetzung einen Würfel ergeben. Rein gedanklich ist die Rekonstruktion eine große Herausforderung und bringt unsere räumliche Vorstellungskraft an ihre Grenzen. Genau dieses überraschende Resultat faszinierte Lechner. Eine so einfache Versuchsanordnung, die jeder im Kleinen nachvollziehen kann, eröffnet eine solche Vielfalt an Möglichkeiten.
Lechner suchte nach Ausdrucksformen, die rätselhaft blieben, die unsere Vorstellungen von Teil und Ganzem ebenso von Schwere und Leichtigkeit hinterfragen und unbeantwortet bleiben lassen.
Regelmäßige, symmetrische Formen auseinander zu nehmen und daraus das Unregelmäßige, das Neue, das Unerwartete entstehen zu lassen, durchzieht das Werk von Lechner. Sein Interesse galt der Geometrie, der euklidischen Mathematik, der logischen Konstruktion und daraus abgleitet der logischen Dekonstruktion. Mit logischen, mathematisch nachvollziehbaren Schritten macht er jedoch in der Kunst Mechanismen sichtbar, die weit über den Tatbestand der Mathematik hinausweisen. So sagte er beispielsweise selbst: „Trennen und Zusammensetzen scheint ein Widerspruch zu sein. Tatsächlich ist es eine Lebensnotwendigkeit.“
Die gleichen Prinzipien finden sich in seinem zeichnerischen Werk, das autonom neben seinen Skulpturen entstand und neben den tatsächlichen Entwurfsskizzen, immer sein Schaffen begleitete. Es sind beste Beispiele von Bildhauerzeichnungen. Wenn er mit dicken Graphitstiften auf Papier arbeitete, dann war das weit mehr als eine Zeichnung, sondern erneut arbeitete er mit dem Material, rang ihm seine Eigenheiten ab, bezwang es und erhielt einzigartige, lebendige Oberflächen, die vergleichbar mit seinen Cortenstahlskulpturen sind.
Das Erreichen dieser Oberflächenstruktur ist nicht so einfach, sondern verlangt eine starke Kraftbewegung, um den gleichmäßigen Abrieb zu erlangen. Also auch in dieser Technik geht es um das Beherrschen der Technik und das Bändigen des Materials, was für seine Plastiken, mit denen er oft am Rande des technischen Möglichen agierte, ein wichtiges Charakteristikum ist.
Die schöne Serie der „Klavierdeckelzeichnungen“ entstand während eines Stipendiatenaufenthalts in der Villa Massimo in Rom im Jahr 1994. Insgesamt besteht die Folge aus 15 Blättern; hier ist eine Auswahl zu sehen. Sie haben alle das gleiche Format von 100 x 141 cm und setzen sich aus zwei gleichgroßen Blättern zusammen. Die Nahtstelle zwischen den Blättern wurde Lechner zur bewussten Kompositionsachse, um die herum er ein auf Quadraten beruhendes Raster legte. Zwei schwarze Flächen, es können unterschiedliche Formen nicht nur Quadrate sein, begegnen sich und sind doch durch die Blattfalz immer deutlich getrennt, auch wenn sich die Flächen manchmal zu einer Form fügen. Der Schnitt bleibt immer sichtbar. Es ist mehr das Trennen als das Zusammensetzen, das hier aus den zeichnerischen Arbeiten spricht. Daran zeigt sich auch, wie bereits 1994 das gleiche Thema Lechner beschäftigte, das dann in sein bildhauerisches Spätwerk mündete.
Seinen Arbeiten ist immer das Subtraktionsprinzip und nicht das Additionsprinzip zu Eigen. Lechner, der die geometrische Form so liebte, interessierte sich immer für die Störung dieser Perfektion, für den Bruch, die Naht und die Kante. Er bevorzugte die schroffe, offene Oberfläche im Gegensatz zu der glatten, veredelten.
Nun aber zurück zu den Klavierdeckelzeichnungen. Wie kam es zu diesem Titel? Tatsächlich war der lose Klavierdeckel, den er in seinem römischen Atelier vorfand, das Hilfsmittel für diese Zeichnungen. Lechner brauchte dafür ein langes Lineal oder eine Latte, wie er es sonst oft verwendete, doch vor Ort gab es diesen praktischen Klavierdeckel.
Hinter dem Begriff steckt eine Anekdote. Verbindet sich ein Ort und eine Zeit. Der Titel erzählt auch von Lechners Art des Humors, des Hintersinns und der Doppeldeutigkeit, die er schätzte und pflegte. Der Strenge seiner Arbeiten stand die Lebenslust und -freude der Person entgegen, die einem vielleicht überraschen mag. So wie er im Leben bereit war, viel für seine Kunst zu riskieren, so wie er immer bereit war mit hohem Einsatz zu spielen, so lotete er auch mit seiner Kunst immer die Grenze zum Risiko, zum Unerwarteten aus. Seine tiefe Erkenntnis über das Leben, die ihn dazu führte, dass es keine Gewissheit ohne den Zweifel geben könne, mündete in Werke, die eben weitaus mehr als mathematische Spielereien sind.
Bei jeder ernsthaften Betrachtung wird deutlich, dass sie Metaphern des Lebens sind. Alf Lechner ist es gelungen in vollständiger Ungegenständlichkeit, ohne jede Worte sein Verständnis von Welt, sein Erleben von Welt sichtbar werden zu lassen.