Zum Geltungsbereich der Menschenrechte
Die Schaffung einer Welt, in der den Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteilwird, war das idealistische Ziel der vor siebzig Jahren von den Vereinten Nationen verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dass diese trotz der Formulierung entscheidender Grundsätze zur Einhaltung von Menschenrechten auf globaler Ebene tragischerweise oftmals verletzt werden, bestätigte Sahil Shetty, der Generalsekretär von Amnesty International, offiziell im Februar 2017 im Jahresbericht der Nichtregierungsorganisation (NGO). Seine markante These, die Welt sei 2016 finsterer und unsicherer geworden, bezieht sich in erster Linie auf die politische Instabilität der gegenwärtigen Weltlage, die durch schwache Staaten, Terrorismus, anhaltende Kriegszustände, Hungersnöte, Umweltkatastrophen und daraus resultierende Massenflucht- und Migrationsbewegungen charakterisiert ist.
Der medial stets präsente Einsatz von Amnesty und Menschenrechtsverteidiger ist infolge der beschriebenen Zustände ein hoch gefährlicher. Dies wird vor allem dadurch belegt, dass innerhalb eines einzigen Jahres, genauer von 2015 auf 2016, die Anzahl von getöteten Menschenrechtsverteidigern weltweit rapide gestiegen ist, wodurch die Problematik eine hohe aktuelle Brisanz gewinnt.
Um die Gefährdung von Menschenrechtsverteidigern in ihrer Komplexität zu begreifen, bedarf es zunächst einer Einführung in die Entstehungsgeschichte und Arbeit von Amnesty. Prägnante Beispiele, die das Wirken einzelner Menschenrechtsverteidiger näher beleuchten, sollen anschließend einen Einblick in ihren gesellschaftspolitischen Einsatz und in die eklatanten Folgen desselben verschaffen.
Geschichte und Struktur von Amnesty
Die Entstehung von Amnesty lässt sich im Rahmen dessen verorten, was der deutsche Politikwissenschaftler Karl-Peter Fritzsche als einen explosionsartigen Anstieg von menschenrechtlichen NGOs in den letzten fünfzig Jahren definiert. Sie geht nicht aus einer Organisationsgründung im eigentlichen Sinne hervor, sondern ist vielmehr als erstaunliche Reaktion auf einen Artikel des Rechtsanwalts Peter Benenson zu verstehen. In „The Forgotten Prisoners“, der im Mai 1961 in The Observer erschien, setzte sich der Brite für zwei ihm fremde Studenten ein, die in einem Lissaboner Café gemeinsam auf die Freiheit angestoßen hatten und daraufhin vom damals autoritären Regime Portugals zu sieben Jahre Haft verurteilt worden waren.
Der Artikel begann mit den Worten „Schlagen Sie Ihre Zeitung an irgendeinem beliebigen Tag auf, und Sie werden eine Meldung aus irgendeinem Teil der Welt lesen: Ein Mensch ist eingekerkert, gefoltert, hingerichtet worden, weil seine Ansichten oder religiösen Überzeugungen nicht mit denen der Regierung übereinstimmen.“ Benensons Aufruf, mit Appellschreiben öffentlichen Druck auf die Regierungen zu machen und von ihnen die Freilassung politischer Gefangener zu fordern, erfuhr eine überwältigende Resonanz, die als sogenannter „Appeal for Amnesty“ den Beginn von Amnesty markierte. Rasch verbreitete sich die Menschenrechtsorganisation auch in anderen Ländern. In Deutschland traf sich bereits im Juni desselben Jahres eine Gruppe unter Führung des Auslandskorrespondenten Gerd Ruge und der WDR-Radioredakteurin Carola Stern.
Zu Beginn setzte sich Amnesty primär für sogenannte Gewissensgefangene ein, also jene Menschen, die auf gewaltfreie Weise ihren Überzeugungen Ausdruck geben und infolgedessen der Freiheit beraubt werden. Als Arbeitsgrundlage dienten lediglich einzelne Artikel der Menschenrechtserklärung, worunter vor allem der zur Freiheitssphäre des Einzelnen (Art. 12), der zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18), der zur Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 19) und der zur Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 20) zu nennen sind. Erst im Laufe der Jahre wurden diese um weitere ergänzt, wodurch beispielsweise der Einsatz gegen Folter und Todesstrafe (Art. 3 und 5) in allen behandelten Fällen in das nähere Blickfeld rückte.
Für ihren Einsatz erhielt Amnesty 1977 den Friedensnobelpreis. In der Begründung hierfür hieß es, Amnesty zeichne sich dezidiert durch eine klare Haltung aus: „Nein zu Gewalt, Folter und Terrorismus. Auf der anderen Seite ein Ja zur Verteidigung der Menschenwürde und Menschenrechte“. Für diese Werte setzt sich Amnesty auch heute ein. In der unverrückbaren Überzeugung, dass Menschenrechte unteilbar sind, engagiert sich Amnesty seit Mitte der 1990er Jahre weltweit für alle Menschenrechte, die in der UNO-Menschenrechtserklärung verankert sind, die neben den politischen Rechten auch soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte umfasst. Laut amnesty.org beträgt die Zahl der gegenwärtigen Unterstützer etwa sieben Millionen weltweit, während die Organisation global durch 140 Sektionen und Strukturen vertreten wird.
In ihrer Bezeichnung inhärent, repräsentieren NGOs als nichtstaatliche Akteure die Zivilgesellschaft. Auf vorwiegend ehrenamtlicher Basis leisten sie – so Fritzsche – Menschenrechtspolitik von unten, da sie die Perspektive der Opfer und Betroffenen näher beleuchten können. Entsprechend spielen in der Arbeit von Amnesty, nämlich dass alle Menschen ein Leben frei von „Furcht und Not“ führen sollten, individuelle Schicksale und Fälle eine entscheidende Rolle. Versucht wird stets, Untersuchungen und Aktionen zu forcieren, die schwere Menschenrechtsverletzungen beenden, wodurch das Recht eines jeden auf körperliche und geistige Unversehrtheit garantiert werden soll. Konkret bedeutet dies, das Recht auf Leben, Asyl, Bildung, Gesundheit, Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu verteidigen sowie für die Abschaffung von Folter, Todesstrafe, Sklaverei, Unterdrückung, grausamer und erniedrigender Behandlung und letztendlich die Behebung von extremer Armut zu plädieren. Zusätzlich zur geschilderten Interventionsarbeit handelt Amnesty auch präventiv, was an ihrem Einsatz für sogenannte Menschenrechtsverteidiger deutlich wird.
Geprägt wurde der Begriff der Menschenrechtsverteidiger durch das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte. Nach einer deutschen Umschreibung von humanrights.ch bezeichnet er „alle Personen, die sich alleine oder in einer Gruppe für Menschenrechte einsetzen und diese verteidigen, schützen und fördern.“ Menschenrechtsverteidiger sind einer Vielzahl von Gefahren ausgesetzt, darunter neben willkürlicher und auch illegaler Tötung und Inhaftierung, auch das sogenannte „Verschwindenlassen“. Die in der UN-Konvention enthaltene „Erklärung zum Schutz aller Personen gegen das Verschwindenlassen“ (Art. 2) definiert das „Verschwindenlassen“ als „die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird“.
Darüber hinaus bestehen viele weitere staatliche Repressionsmaßnahmen wie die tatsächliche Schließung jener Organisationen, in denen Menschenrechtsverteidiger aktiv sind. Hierunter zählen nicht allein NGOs, sondern beispielsweise auch politische und religiöse Zusammenschlüsse. Ferner gelten verschiedene Formen der Schikane, kurzfristige Befragungen durch Behörden, öffentliche Hetzkampagnen, Reise- und Einreiseverbote und der Entzug der Finanzierungsgrundlagen zu probaten Mitteln der staatlichen Bekämpfung von Oppositionellen.
Gesetze zur systematischen Behinderung von NGOs bestehen unter anderem in Indien, Ungarn, Ägypten, der Türkei, China und Russland. Unter dem Vorwand einer unmittelbaren Terrorismusgefahr werden Antiterrorgesetze unter anderem auch erlassen, um die Einschränkung des Freiheits- und Versammlungsrechts zu begründen, unerwünschte politische Organisationen zu verbieten und eine dystopische Massenüberwachung zu legalisieren. Wie an den Beispielen Türkei, Bahrein, Äthiopien, USA und EU ersichtlich ist, werden solche Maßnahmen nicht nur in autoritären und semiautoritären, sondern auch offenkundig demokratischen Ländern ergriffen. Entscheidend ist an dieser Stelle die Mahnung des deutschen Diplomaten Walther Linder, nach dem es „keine Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen unter dem Etikett der Terrorismusbekämpfung geben“ darf.
Menschenrechtsverteidigung in Aktion
Um der Arbeit von Amnesty, die sich – wie oben erwähnt – insbesondere individuellen Schicksalen widmet, gerecht zu werden, sollten im Folgenden ebensolche anhand von Fallbeispielen näher in den Blick genommen werden. Ein Fokus wird hierbei auf Medien-, Bildungs- und Kirchenvertreter gesetzt.
In Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Menschenrechtsverteidigern, die als Journalisten oder IT-Experten tätig sind, sollte die spannungsgeladene Ambivalenz von Print- und Digitalmedien betont werden. Denn einerseits können diese individuelle Meinungsfreiheit in höchstem Maße ermöglichen, andererseits als Mittel zur Instrumentalisierung und Pervertierung von Nachrichten gänzlich freiheitseinschränkend wirken.
Jene Journalisten, die beispielsweise in der Türkei Protest äußern und wirksam machen, sind infolge neuer Medien- und Antiterrorgesetze willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt. Der staatlich geäußerte rechtliche Vorwurf, Terrororganisationen zu unterstützen oder als Mitglieder der islamischen Gülen-Bewegung aktiv zu sein, soll die hohe Anzahl an Inhaftierungen im Land legitimieren. Die NGO Reporter ohne Grenzen (reporter-ohne-grenzen.de) schätzt, dass im Winter 2017/2018 etwa 30 Prozent der 326 Journalisten, die weltweit inhaftiert worden sind, in der Türkei festgehalten werden. 65 Journalisten wurden 2017 bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten getötet.
Erstmals wurden auch Amnesty-Aktivisten verhaftet, worunter erschreckenderweise Taner Kılıç, der ehrenamtliche Vorsitzende der türkischen Sektion von Amnesty fällt. Der Fall belegt die strategische Absicht, durch die Verhaftung bedeutender NGO-Exponenten Menschenrechtsorganisationen weltweit einschüchternd zu warnen und an ihrer weiteren Arbeit zu hindern. Taner wurde aufgrund einer App auf seinem Handy im Juni 2017 der „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ bezichtigt und daraufhin verhaftet. Im Januar 2018 wurde er kurzfristig freigelassen, um beim Verlassen des Gefängnisses unmittelbar wiederverhaftet zu werden. Dessen Schicksal teilten zeitweise zehn weitere Menschenrechtsverteidiger, die im Juli 2017 friedvoll einen Workshop zum Thema „Wie kann die Menschenrechtsarbeit sicherer gemacht werden?“ besucht hatten und infolgedessen inhaftiert wurden, darunter die türkische Direktorin von Amnesty İdil Eser und der deutsche Politologe Peter Steudtner. Eser und Steudtner sind inzwischen frei, bleiben jedoch weiter angeklagt.
Menschenrechtsverteidiger, die hauptsächlich das Internet als Oppositionsplattform nutzen, müssen mit weitreichenden Folgen rechnen. Bekannt ist der saudische Blogger Raif Badawi, der bereits seit 2012 inhaftiert ist und nach mehreren Gerichtsverfahren am 7. Mai 2014 vom Strafgericht in Jeddah wegen der Gründung und Verwaltung seiner Webseite der „Saudi-Arabischen Liberalen“ und Beleidigung des Islam zu zehn Jahren Haft, 1.000 Peitschenhieben und einer Geldstrafe von einer Million Saudi-Rial (etwa 195 000 Euro) verurteilt worden ist.
Den Blick von den Vereinigten Staaten auf Zentralafrika lenkend, tritt die Verhaftung von drei jungen kamerunischen Menschenrechtsverteidigern, namentlich die Schüler Ivo Feh, Azah Levis und Avu Nivelle Nfor, in den Vordergrund. Weder als Journalisten online tätig, noch als Informatiker aktiv, bedienten sich diese des Internets, um eine harmlos-sarkastische Nachricht über die terroristische islamistische Gruppierung Boko Haram zu verbreiten. Von ihrem Lehrer, der den humoristischen Textinhalt nicht als solchen wahrnahm, bei der Polizei denunziert, verurteilte das Militärgericht Kameruns sie zu einer zehnjährigen Haft. Laut Urteilsbegründung, die ihre rechtliche Legitimierung in der Antiterrorgesetzgebung findet, hätten es die Schüler unterlassen, terroristische Handlungen zu melden. Der internationale Appell zu ihrer Freilassung traf bis dato zwar auf große öffentliche Resonanz, blieb jedoch gleichsam von den lokalen Autoritäten unberücksichtigt.
Ein Großteil humanitärer Leistungen ist Geistlichen zuzuschreiben, die sich im Sinne religiöser Werte und Normen auf globaler Ebene für Menschenrechte einsetzen. Auch diese sind dem immanenten Risiko der strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt. So endete beispielsweise der mutige Einsatz zweier christlicher Exponenten der „Kachin Baptist Convention“, die von der birmanischen Armee begangene Menschenrechtsverletzungen mediale Wirksamkeit in Myanmar verschafften, mit ihrer Verhaftung im Jahr 2016. Der Diffamierung angeklagt, sollen Dumdaw Nawng Lat und Langjaw Gam Seng nun eine achtjährige Freiheitsstrafe verbüßen. Ihren Fall weiterhin an die Öffentlichkeit zu tragen und damit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ist Aufgabe und deklariertes Ziel von Amnesty.
Auswertung
Die bisherige Schilderung der politisch-militärischen Gräuel, mit denen sich zahlreiche Menschenrechtsverteidiger konfrontiert sehen, widerspiegelt einerseits die Fragilität der jetzigen Weltlage, die Amnesty – auch hier in Bezug auf das Jahr 2016 – als eine „des anhaltenden Elends und unablässiger Angst“ beschreibt. Andererseits betont sie, so die Leiterin des Bereichs Politik bei Amnesty International Deutschland Andrea Berg, die „entscheidende Kontrollfunktion [von Menschenrechtsverteidigern] in allen Gesellschaften“. Damit einhergehend erscheint es umso notwendiger, diese bestmöglich zu schützen. Amnestys Einsatz für internationale Rechte, für die Stärkung internationaler Gerichtshöfe und die Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins für Menschenrechtsverletzungen ruft die Bedeutung der Menschenrechtserklärung, die sich 2018 zum siebzigsten Mal jährt, in Erinnerung. Geschützt werden hiermit mutige Menschenrechts- und Gewissensverteidiger, deren Schicksale der öffentlichen Vergessenheit entzogen werden.
An diesem Text wirkten mit: Erica Lorenzoni und Sonja Gall.