Rainer Stadler: Schönen Dank für die Einführung. Ich habe schon befürchtet, dass Sie mit Schleiermacher, Goethe und was weiß ich loslegen. Ich bin kein Bildungsforscher oder Humboldtexperte, habe mich aber, wie ich es als Journalist immer mache, eingelesen und bin der Meinung, dass Wilhelm von Humboldt vor allem ein sehr humanes Menschenbild hat. Dass er bei jedem eigene Kräfte sieht, die entsprechend gefördert auch zu Tage treten. Mein Thema ist vor allem die frühe Bildung, die bei uns immer wichtiger wird. Auch da, glaube ich, kann man viel aus Humboldt ziehen. Es wird sehr viel über Bildung gesprochen, das ist nicht unser Problem. Alle sagen, Bildung ist Zukunft, der wichtigste Rohstoff. Sie hören auch oft den Spruch: Kein Kind soll zurückbleiben. Dagegen gibt es erst mal nichts einzuwenden. Was mich als Journalist natürlich interessiert und was mich auch bei meinem letzten Buch „Vater, Mutter, Staat. Das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung – Wie Politik und Wirtschaft die Familie zerstören“ interessiert hat: funktioniert das eigentlich? Oder sind das nur hehre Absichten? Sie können sich vorstellen, da ich ein Buch geschrieben habe, hatte ich zumindest den Verdacht, dass es nicht funktioniert. Ich sehe einige Mängel an dem, was heute alles versprochen wird, und werde versuchen, Ihnen das zu erklären. Immer wieder werde ich mich dabei auf Humboldt berufen, weil – und das habe ich aus meinem Kurzstudium gelernt –jeder, der ein bisschen Humboldt liest, etwas findet, was für seine Zwecke passt. Der Königsweg zur Bildung im Verständnis der Bildungspolitiker ist heute, dass man gar nicht genug davon haben kann – und das am besten so früh wie möglich. Die Bildungspolitik proklamiert, dass Kinder am besten von Geburt an gebildet werden sollen. Dafür reicht ein halber Tag dann nicht, also wird für die Ganztagsbetreuung der Kinder gesorgt. Bei der Familienministerin sind Betreuung und Bildung fast Synonyme. Die spricht immer von guter Bildung in Kinderkrippen, die damit begründet wird, dass Eltern das angeblich immer weniger leisten können, weswegen der Staat die Erziehung und Bildung der Kinder übernehmen muss. Das ist jetzt keine diffuse Vermutung von mir: Es gab schon 2003 einen Bericht des Familienministeriums, in dem, unter Federführung des Münchner Professors Wassilios Fthenakis, ein wünschenswerter Bildungsprozess skizziert wurde, den jedes Kind durchlaufen sollte. Dieser Prozess beginnt mit der Förderung der Kinder ab ihrer Geburt und dauert bis zum Schuleintritt. Die Begründung: Die deutsche Auffassung, wonach das staatliche System lediglich familienergänzenden Charakter habe, müsse zugunsten einer Definition eines genuinen staatlichen Bildungs-/ und Erziehungsauftrags mit Blick auf die kindliche Entwicklung aufgegeben werden. Also: Die Eltern können das nicht mehr, Bildung ist heute so kompliziert, das muss der Staat in die Hand nehmen. Und spätestens an dieser Stelle, glaube ich, würde Humboldt Einspruch erheben, weil er ja eher dafür war, den Staat weitgehend fernzuhalten, auch wenn sich das im Laufe seines Lebens ein wenig geändert hat. Die Bildungsdefinition, die in diesem Bericht mitschwingt, zielt darauf ab, dass aus den Kindern etwas wird, was wir auf dem Arbeitsmarkt brauchen können. Und Humboldt hat immer argumentiert, dass „der wahre Zweck des Menschen die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ sei. Zwar wird heute auch in Bezug auf Kleinkinder viel von individueller Förderung gesprochen, tatsächlich aber sollen die Kinder den ganzen Tag betreut werden, also in irgendeiner Form beaufsichtigt, angeleitet, gegängelt oder getriezt, würde ich fast sagen, sich irgendein Wissen anzueignen. Bei einigen Krippen können Sie auch für die Kleinsten einen Englisch- oder Chinesisch-Kurs dazu buchen.
Von Schülern oder Studenten kennen wir diese Entwicklung schon länger, jetzt geht es allerdings darum, auch den Kleinkindern Input zu geben, in der Hoffnung, dafür später gut verwertbaren Output zu bekommen. Sie haben ja vorher gesagt, Herr Zierer, dass Humboldt es ablehnt, Menschen als Mittel zum Zweck zu betrachten. Aber genau das passiert aus meiner Sicht. Nicht anders ist die Familienpolitik der letzten Jahre zu verstehen. Humboldt hat immer wieder betont, zur Bildung sei „die erste und unerlässliche Bedingung“ die Freiheit. Dabei wird den Kindern die Freiheit zunehmend genommen: Wenn ich an meine Kindheit denke, dann war die wesentlich freier, ich schätze bei Ihnen auch. Es gab früher so etwas wie eine Straßenkindheit, wir waren alle draußen. Schauen sie heute mal tagsüber auf die Straßen und suchen sie ein Kind. Das werden sie nicht finden, weil die meisten den ganzen Tag betreut werden. Das ist eine traurige Fortsetzung dessen, was seit Jahren in Schule und Studium beklagt wird, nämlich ein simples Input-Output-Denken. Auch im frühkindlichen Bereich gibt es eine Engführung auf Kognitives und den Irrglauben, dass der Bildungsweg schon mit der Geburt beginnt. Menschen, die sich mit Kindern, gerade mit kleinen Kindern, auskennen, sagen: Die brauchen erstmal Bindung und nicht kognitives Wissen. Für die skizzierte Entwicklung gibt bestimmt lobenswerte und nachvollziehbare Gründe, gerade der Versuch, Benachteiligte aus ihrer schwierigen Umgebung rauszuholen und ihnen ein Fundament zu geben. In der Praxis werden diese Ziele aber nicht eingelöst. Denn: Auch wenn es Politiker hundert Mal sagen, so etwas wie Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit erreicht man auf diese Weise nicht. Auch andere Versprechen, die mit Krippen und Ganztagsschulen verbunden werden, werden nicht annähernd eingelöst. Dazu gibt es Studien, die aber nicht diskutiert werden, sodass sich aus meiner Sicht der Verdacht aufdrängt, dass Bildung in der heutigen politischen Diskussion ein Feigenblatt ist und es zumindest bei kleinen Kindern und Schülern, die in Ganztagsschulen sind, überhaupt nicht um Bildung geht, sondern eher darum, den Erwachsenen die Erziehung abzunehmen, damit die den ganzen Tag dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Ich kann gerne ins Detail gehen und das ausbreiten und belegen, damit das nicht ganz so polemisch daherkommt, aber ich wollte das erst mal in die Runde werfen und gebe jetzt das Wort an Herrn Wößmann.
Klaus Zierer: Besten dank, Herr Stadler, für die Positionierung. Natürlich bekommt nun auch Herrn Wößmann als Bildungsökonom die Gelegenheit, in diesem Kontext Stellung zu beziehen. Dann diskutieren wir verschiedene Perspektiven.
Ludger Wößmann: Vielen Dank. In der Tat werde ich erst einmal versuchen, ein paar Punkte, die ich gerne anstoßen möchte, ins Gespräch zu bringen. Anschließend können wir auch über die Dinge diskutieren, die Herr Stadler aufgeworfen hat. Die sind sehr diskussionswürdig. Sie haben es mir ein wenig schwer gemacht, Herr Zierer: Sonst wurde Humboldt häufig gegen mich verwendet – so wie Sie ihn dargestellt haben, fällt es mir aber schwer, Gegenposition zu beziehen. Das hat sicherlich etwas damit zu tun, dass jeder in Humboldt etwas findet, das ihn belegt. Aber ich glaube auch, dass es einige Aspekte gibt, die nicht richtig verstanden werden. Man muss sich meines Erachtens den damaligen Hintergrund in Erinnerung rufen. Darauf möchte ich allerdings gar nicht eingehen, wir wollen ja über Bildung heute sprechen. Ich habe sechs Schlaglichter mitgebracht, die ich ansprechen möchte.
Mein erster Punkt: Weil ich ja hier als Bildungsökonom eingeführt wurde, der ich ja auch bin, möchte ich damit anfangen, warum wir einen ökonomischen Blick auf Bildung brauchen. Wenn wir die heutige Welt betrachten, ist Bildung ein entscheidender Faktor für wirtschaftlichen Wohlstand. Ich bin kein Geisteswissenschaftler, ich bin Sozialwissenschaftler und versuche, die Welt der Menschen zu verstehen. Deshalb arbeite ich bevorzugt empirisch. Wenn Sie sich zum Beispiel die heutige Arbeitslosigkeit anschauen, haben wir einen boomenden Arbeitsmarkt, die Arbeitslosenquote ist sehr niedrig. Betrachtet man den Bildungsabschluss der erwerbslosen Personen, liegt die Arbeitslosigkeit unter Hochschulabsolventen bei nur 2,5 Prozent. Man diskutiert immer gerne über Akademikerarbeitslosigkeit, aber das ist de facto ein non-issue. Bei Menschen mit einer berufsqualifizierenden Ausbildung liegt die Arbeitslosenquote bei fünf Prozent und bei Menschen, die keine berufsqualifizierende Ausbildung haben, liegt sie bei 20 Prozent. Das heißt: Wenn Sie nicht zumindest einen berufsqualifizierenden Abschluss erworben haben, haben Sie in der heutigen deutschen Wirtschaft große Probleme, dauerhaft am Arbeitsmarkt tätig zu sein. Das heißt aber umgekehrt eben auch, dass es aus meiner Sicht unverantwortlich ist, Bildung ohne eine wirtschaftliche Dimension zu denken und zu diskutieren. Denn das wäre genauso töricht wie die Auffassung, man sollte Bildung ausschließlich aus wirtschaftlicher Perspektive betrachten. Das wäre Quatsch. Ich möchte betonen: Bildungsökonom zu sein, bedeutet nicht zu denken, dass man Bildung nur aus wirtschaftlicher Sicht betrachten sollte. Ich kenne keinen Menschen, der so etwas sagen würde. Aber es wäre genauso verrückt, auf den wirtschaftlichen Aspekt zu verzichten. Und ich glaube in der Tat, dass man sich mit einer solchen Haltung mitverantwortlich dafür macht, wenn viele Menschen in Zukunft arbeitslos werden, wenn viele Menschen kein gesichertes Lebenseinkommen haben, wenn unsere Sozialversicherungssysteme sich nicht mehr tragen. In den letzten 250 Jahren, sogar in den letzten 40 Jahren hat sich eben auch Vieles geändert: Wir sind heute mit vielen Herausforderungen konfrontiert, auch wenn wir sie uns vielleicht gerne wegwünschen würden. Realitäten wie die Globalisierung, technologische Entwicklungen, Automatisierungen, Digitalisierung, auch die Integration der Flüchtlinge können wir uns nicht alle wegwünschen. Stattdessen müssen wir überlegen, wie wir damit am besten umgehen können.
Der zweite Punkt hat eng damit zu tun: Ich möchte deutlich machen, wie wichtig dementsprechend die Bildung eines jeden Menschen für eine funktionierende Gesellschaftsordnung ist. Ich habe bereits dargestellt, welchen Einfluss Bildung auf wirtschaftliche Chancen hat. Dabei habe ich nur die Arbeitslosigkeit angesprochen. Sie können aber auch die Einkommen anschauen: Die stehen nicht nur in deutlichem Zusammenhang mit dem jeweiligen Bildungsabschluss, sondern beispielsweise auch mit Kompetenzmaßen, die Ähnliches messen wie die PISA-Tests. Es ist also eine Tatsache, dass Menschen mit noch so profan gemessener Bildung auf dem Arbeitsmarkt deutlich mehr verdienen. Wenn das aber so ist, und wir außerdem wollen, dass die Menschen eine freiheitliche Gesellschaftsordnung wie die unsere akzeptieren können, heißt das, dass wir es hinbekommen müssen, dass alle möglichst dieselben Chancen haben. Das ist natürlich ein hehres Ziel. Aber weil Bildung letztlich ein Instrument zur Herstellung gleicher Startchancen ist, ist die Bildungspolitik aus meiner Sicht eine zentrale Säule einer Gesellschaftsordnung, die zumindest in unserer sozialen Marktwirtschaft gleichzeitig freiheitlich und menschenwürdig sein möchte. Bildung ist nicht als reine Qualifikation zu sehen, sondern letztlich der Inbegriff von Hilfe zur Selbsthilfe, eine flankierende Maßnahme der Sozialpolitik. Ich glaube, in diesem Kontext müssen wir noch mehr über Bildung sprechen.
Mein dritter Punkt wendet sich dem humboldtschen Bildungsbegriff, der allgemeinen Menschenbildung zu. Häufig wird angeführt, dass der humboldtsche Bildungsbegriff im Gegensatz zur PISA-Studie stünde – was ich für totalen Quatsch halte. Niemand würde doch behaupten, dass PISA alles ist, dass das, was bei PISA gemessen wird, Bildung komplett ausmacht. Genauso wenig würde irgendwer behaupten, dass die dort gemessenen Basiskompetenzen im Leseverständnis, im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich für die wirtschaftliche Teilhabe oder die Persönlichkeitsbildung irrelevant wären. Das hätte auch Humboldt nie gesagt. Insofern glaube ich, dass es abstrus ist, das so gegeneinander auszuspielen. Man kann darüber diskutieren, wie sinnvoll es ist, in den erwähnten Bereichen zu messen, ob wir nicht mehr messen sollten. Aber den humboldtschen Bildungsbegriff gegen PISA zu verwenden ist unsinnig.
Damit komme ich zu meinem vierten Punkt – und der ist derzeit mein Lieblingsthema: Die Frage der allgemeinen im Gegensatz zur berufsspezifischen Bildung. Diesbezüglich bin ich sehr eng bei Humboldt. Herr Zierer hat mir mein Lieblingszitat vorweggenommen. Humboldt schreibt dem König: Der allgemeinen Bildungsinhalte sowie der Charakterbildung bedarf jeder Mensch unabhängig von seinem Beruf. Einmal um seine Profession gut auszuführen, und auch für den Fall, dass jemand – und das passierte offenbar auch schon vor über 200 Jahren – den Beruf wechselt. In diesem Sinne haben wir in den letzten Jahren Studien gemacht, die sich mit den wirtschaftlichen Auswirkungen von berufsspezifischer im Vergleich zu allgemeiner Bildung befassen, die also eine berufsspezifische Bildung innerhalb unseres dualen Ausbildungssystems mit dem Abitur, welches Allgemeinbildung vermittelt, verglichen haben. Es zeigt sich, dass eine berufsspezifische Bildung den Eintritt in den Arbeitsmarkt, also den Übergang zwischen Schul- und Berufssystem, erleichtert, dass es den Menschen leichter fällt, in ihrem Job an- und zurechtzukommen. Das fällt denen mit einer allgemeinen Bildung wesentlich schwerer, weil sie eben nicht die spezifischen Kompetenzen erworben haben, die man in dem jeweiligen Beruf braucht. Die müssen sie im Beruf lernen. Dementsprechend brauchen sie auch länger, bis sie einen Job gefunden haben. Spannend ist das vor allem im Kontext einer sich verändernden Welt: Die Welt ändert sich alle fünf, zehn, 15 Jahre dramatisch. Und wenn ich dann nach 20, 30 Jahren eine sehr spezifische Ausbildung habe, ist die Gefahr groß, dass meine skills auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt sind. Beispielsweise können Sie vor 20 Jahren hervorragend als Schneider ausgebildet worden sein, allerdings werden Sie heute auf dem deutschen Arbeitsmarkt keinen Fuß mehr in die Tür bekommen. In den Daten sehen wir nämlich auch, dass sich ab einem Alter von 45, 50 das vorherige Bild dreht und dass diejenigen mit einer allgemeinen Bildung wesentlich länger am Arbeitsmarkt aktiv bleiben. Vermutlich, weil die allgemeine Bildung es einem erleichtert, sich immer wieder anzupassen, also das, was Humboldt schon proklamiert hat. Ich glaube, das ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt der modernen Wirtschaft, der bedeutet, dass wir unser duales System im Hinblick auf die Vermittlung allgemeiner Bildungsinhalte weiterentwickeln müssen.
Ein fünfter Punkt und zudem ein zweiter Bereich, in dem ich viel geforscht habe, ist in einem historischen Zusammenhang ebenfalls recht interessant. In Bezug auf die Bildungsexpansion in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die eigentlich auf Humboldt zurückgeht, konnten wir mit spannenden Kreisdaten über das gesamte 19. Jahrhundert zeigen, dass die Gegenden, in denen mehr Kinder in die Schulen gegangen sind, früher in der Industrialisierung Fuß fassen konnten und erfolgreicher waren. Man sieht also einen sehr deutlichen Effekt der von Humboldt breit angelegten Elementarbildung der Bevölkerung auf den wirtschaftlichen Erfolg einer Region. Das wurde in der historischen Forschung lange negiert, für England beispielsweise kann man das auch nicht nachweisen. Aber gerade in Deutschland sehen wir, dass die nachholende Industrialisierung darauf beruht, dass die Menschen eine Grundbildung haben, die sie Dinge verstehen und umsetzen lässt. Es scheint so, dass die allgemeine Grundbildung, die gerade Humboldt mitverbreitet hat, vermutlich ungewollt genau das war, was die Wirtschaft eigentlich brauchte.
Ein letzter Punkt: Was bedeuten die vorangegangenen Erläuterungen für Bildung heute, vielleicht ganz konkret im Bereich des Schulsystems? Wir haben den Aspekt der Leistungsorientierung bereits angesprochen. Ich glaube, wir müssen im Schulsystem sowohl Chancengleichheit als auch Leistungsorientierung verbessern. Eine wichtige Erkenntnis zeigt uns, dass Schülerleistungen dann am besten sind, wenn es einerseits extern vorgegebene und extern überprüfte Standards gibt, den Schulen aber andererseits möglichst viel Selbstständigkeit dabei gegeben wird, den besten Weg zum Erreichen dieser Ziele zu finden. Das ist die Dialektik, die Sie bei Humboldt dargestellt haben, Herr Zierer. Er hat innerhalb eines staatlichen Rahmens für die Freiheit der einzelnen Institutionen plädiert. Das spannende ist, dass die heutige Forschung sehr deutlich zeigt, dass die Schüler von dieser Kombination am meisten profitieren. Es muss klar sein, was das Ziel ist. Und ob es erreicht wurde, muss überprüft werden, ansonsten hätte man keine Anreize, es zu erreichen. Aber wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, schaffen es die Schulen vor Ort am besten, ihren Weg dorthin zu entwickeln. Das heißt für mich, dass wir in Deutschland einerseits mehr vergleichbare Zwischen- und Abschlussprüfungen bräuchten, die den Schulen zeigen, wo sie stehen, andererseits aber auch mehr Freiheit für die öffentlichen Schulen, möglicherweise auch für Schulen in alternativen Trägerschaften.
Klaus Zierer: Wunderbar, vielen Dank. Herr Stadler, ein bunter Blumenstrauß. Pflücken Sie sich selbst eine oder darf ich Ihnen eine reichen?
Rainer Stadler: Dann pflücke ich mir eine, vielen Dank. Ich stimme Ihnen in vielen Punkten zu. Und natürlich dürfen Sie als Bildungsökonom so sprechen, wie Sie es tun, und so forschen, wie Sie es tun. Was mich stört ist, dass die Familien- und Bildungspolitik zu viele Ihrer Argumente bereits aufgegriffen hat. Sie sagen zum Beispiel: Die PISA-Studie sei nicht alles. Gleichzeitig wissen Sie genau, was PISA bei uns verändert hat und wie viele Politiker sich darauf berufen: Der PISA-Schock 2001 hat die Schullandschaft und überhaupt die Art und Weise, wie Kinder heute aufwachsen, radikal verändert- dazu gehören so was wie Ganztagsschulen und der Krippenausbau. Natürlich stimme ich Ihnen dahingehend zu, dass das, was bei PISA abgefragt wird, wichtig ist. Aber in der politischen Diskussion wurde das leider sehr verengt, weswegen viele Dinge, die eben auch wichtig sind, politisch keine Rolle spielen. Und es geht nicht nur um die politische Diskussion, sondern auch um enorme Mittel: Der zumindest auch mit dem Argument der Bildung vorangetriebene Ausbau der Kinderbetreuung verschlingt unfassbare Summen. Laut einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft bekam der Sektor Kinderkrippen und Kindertagesstätten 2015 in Deutschland nach dem Sektor Verkehr die zweitgrößte Subventionssumme. Der Impuls dahinter ist aber letztlich ein wirtschaftlicher, kein pädagogischer: Man hat nicht überlegt, was man tun könnte, um Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Frage war stattdessen: Was können wir tun, um aus den Kindern mehr Nutzbares rauszuholen? Andere Überlegungen spielen in diesem Kontext überhaupt keine Rolle und das finde ich beklagenswert. Also, bei aller Berechtigung Ihrer Position: Natürlich brauchen wir eine funktionierende Wirtschaft, aber wir brauchen schon auch funktionierende Familien und glückliche Kinder, so banal das klingt.
Ludger Wößmann: Wer kann dem nicht zustimmen?! Ich habe selbst drei Kinder und die sind auch mitten in ihrer Schullaufbahn, ich kenne das. Aber ich möchte unterscheiden zwischen frühkindlicher Bildung und Ganztagsschule. Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen haben, und es mag sehr wohl sein, dass die Politik behauptet, wir bräuchten wegen PISA Ganztagsschulen. Aber ich kenne keine einzige Studie – und ich habe selbst viel dazu geforscht –, die zeigt, dass Ganztagsschulen Schülerleistungen verbessert hätten. Eines der Themen, das so gut wie keine Effekte auf Schülerleistungen hat, auch keine negativen. Darum waren Ganztagsschulen eben auch gar nicht unter den von mir angesprochenen Themen. Ich denke, man muss tatsächlich über so etwas wie Prüfungssysteme, über Selbstständigkeit von Schulen und solche Dinge reden.
Ich glaube auch nicht, dass es bei Ganztag und beim frühkindlichen Bereich so ist, wie Sie sagen, dass der Bereich ausgebaut wird, weil man wirtschaftlich funktionierende Kinder heranziehen will. Das halte ich für Polemik. Ich bin komplett bei Ihnen, dass das überhaupt keinen pädagogischen Hintergrund hat und leider auch nicht pädagogisch genutzt wird, sondern vor allem eine Maßnahme ist, die eben nicht die Entwicklungschancen der Kinder verbessern soll, sondern deren Anliegen es immer war, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern und es beiden Elternteilen zu ermöglichen, am Arbeitsmarkt tätig zu sein. Das kann man sehen wie man will, das ist ein anderes Thema. Wir sprechen hier über Freiheiten. Wenn heute beide Elternteile gerne wirtschaftlich tätig sein wollen und denken, dass das funktioniert, dann zeigen Studien, in denen Kinder bis zwei, drei Uhr in Betreuung und anschließend wieder in ihren Familien sind, dass das ihre Entwicklung überhaupt nicht beeinträchtigt. Zu entscheiden, ob sie das wollen oder nicht, das liegt eben schon auch in der Freiheit der Eltern. Wenn es Eltern gibt, die sagen: Ich will komplett zu Hause bleiben – totally fine! Aber ich weiß nicht, ob das der Politik vorzuwerfen ist, wenn heutzutage viele Mütter sagen, ich möchte eben nicht zehn Jahre aus dem Beruf rausgehen, weil ich weiß, dass ich danach sowieso nicht in meinen qualifizierten Job zurückkehren kann.
Beim frühkindlichen Bereich sehe ich tatsächlich eine größere staatliche Aufgabe im Rahmen der Chancengleichheit. Wir sehen, dass die sozioökonomische Ungleichheit der Bildungsverläufe quasi schon vor der Geburt beginnt. Es geht – und das halte ich auch mehr für Polemik als für Realität – nicht darum, dass die Kinder im Kindergarten oder gar in der KiTa anfangen, chinesisch zu lernen. Sondern es geht darum, diesen Kindern Spaß am Lernen zu vermitteln, Spaß daran, die Welt zu entdecken. Das ist das, was wir als Bildungsbürger sowieso mit unseren Kindern machen und was viele Kinder aus bildungsfernen Schichten eben nicht bekommen, weil sie den ganzen Tag zuhause vor den Fernseher gesetzt werden. Die Frage ist: Können wir sagen, das ist allein Sache der Familien, oder müssen wir sagen, dass wir da als Gemeinwesen auch eine Aufgabe haben? Ich bin zunehmend der Meinung, dass es auch um die Freiheit dieser Kinder geht, sich später zu entscheiden. Wenn sie sich mit achtzehn Jahren entscheiden, dass sie Lagerarbeiter werden wollen, dann ist das absolut ihre Entscheidung. Aber wenn wir als Gesellschaft sagen, das ist Familiensache und manche Kinder in den Familien so wenig gefördert werden, dass sie nicht einmal einen Schulabschluss schaffen, dann nehmen wir ihnen diese Freiheit. Und deswegen komme ich doch zu dem Schluss, dass wir sicherstellen müssen, dass Kinder ein entwicklungsfreudiges Umfeld finden, auch in den Kindergärten und Kitas.
Klaus Zierer: Ich greife jetzt mal drei Punkte auf, die angesprochen wurden und die ich gerne der Reihe nach nochmal diskutieren würde. Der eine Punkt ist Schule und PISA. Dazu würde ich gleich noch eine Rückfrage stellen. Der zweite Punkt ist die frühkindliche Bildung, auch die Rolle von Frauen oder von Eltern allgemein. Der dritte Punkt ist Chancengleichheit. Ich möchte nochmal kurz nachfragen, Herr Wößmann: Sie haben völlig recht, ich glaube, wir sind uns alle einig, dass das, was PISA misst, wichtig ist. Und dass man es schlecht den PISA-Entwicklern anmaßen kann, wenn sie eine Kompetenzorientierung entwickelt haben, die man gut messen kann. Das Problem ist sicherlich, wie PISA bildungspolitisch rezipiert worden ist, welche Schlüsse daraus gezogen wurden. Jetzt wollen wir uns mal auf den zweiten Punkt fokussieren und da würde ich gerne nochmal nachfragen. Herr Stadler hat formuliert, dass sich mit PISA, zumindest mit der Rezeption von PISA Vieles verändert hat, und ich möchte vielleicht als Ergänzung dazu den Bildungsauftrag in der bayerischen Verfassung zitieren: „Wir haben nicht nur die Aufgabe, Wissen und Können zu vermitteln, sondern auch, Herz und Charakter zu bilden.“ Wo ist dann der Fehler bei PISA passiert, Herr Wößmann? Oder sehen Sie gar keinen Fehler in der Rezeption?
Ludger Wößmann: Natürlich sind da sehr viele Fehler passiert, und wir können in die Details gehen, aber ich möchte doch lieber aufs Gesamtbild blicken. Ich glaube nicht, dass PISA dazu geführt hat, dass alles andere über Bord geworfen wurde. Ich glaube, das ist eine Verherrlichung der Vergangenheit: früher war alles besser und wir alle sind von unseren Lehrern in unserem Charakter gebildet worden. Wenn wir an unsere Lehrer zurückdenken, gab es mit Sicherheit ein, zwei, die unseren Charakter gebildet haben, aber die anderen 20 Lehrer, die wir hatten, die haben keine so entscheidende Rolle gespielt. Und es hat keine wesentlichen Veränderungen der Fächer gegeben, etwa dahingehend, dass Fächer, die Herz und Charakter bilden, abgeschafft wurden. Musik, Sport, aber auch Politik, all diese Fächer haben meine Kinder heute genauso wie ich sie früher hatte. Und das ist überall so, weil die Stundenpläne sich nicht wesentlich geändert haben. Sicherlich ist die Ergebnisorientierung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich und auch im Fach Deutsch stärker geworden, was ich für extrem wichtig und richtig halte. Das geht an mancher Stelle vielleicht auch mal zu weit. Aber: Deutschland ist eines der wenigen Länder, das sich seit dem PISA-Schock 2000 in diesen Bereichen stetig verbessert hat. Wir sind eben nicht mehr im unteren Mittelfeld, sondern im oberen Mittelfeld. Das ist sehr wichtig, zum einen für die einzelnen Menschen und ihre Teilhabemöglichkeiten an der Gesellschaft, zum anderen auch für die Wirtschaft, aber das können wir hintanstellen. Insofern glaube ich, dass es funktioniert hat. Zwei Punkte noch: Ganztagsschulen, darüber haben wir schon ein bisschen gesprochen, und die G8/G9-Debatte. Das hat beides nichts mit PISA zu tun, vielleicht mit Wirtschaft, darüber kann man in der Tat diskutieren, aber nichts mit PISA. Ich wüsste nicht, wie man von PISA eine Verkürzung der Schulzeit ableiten sollte. Viele haben jetzt den Eindruck, dass die Mittelstufe überfrachtet ist und die Kinder nur noch lernen müssen und keine Zeit mehr haben, sich sozial zu engagieren. Studien zeigen: Das ist nicht so. Es gibt heute wie vor 20 Jahren einen kleineren Teil der Schüler, der sich sozial engagiert, und den größeren Teil, der das nicht tut. Und diejenigen, denen das wichtig ist, kriegen das auch heute hin. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen und das ist das, was man hört, wenn man mit Kindern und Jugendlichen spricht. Da gibt es einfach unterschiedliche Perspektiven. Die einen sagen, das ist alles so schwer; die anderen sagen, ich schaff das schon.
Rainer Stadler: Darf ich einhaken oder wollen Sie, Herr Zierer?
Klaus Zierer: Ja, vielleicht gleich noch den Hinweis: Mir ist gerade, als Sie die Ausführungen getätigt haben, eine schöne Folie von Remo Largo, dem Schweizer Psychologen und Pädagogen, eingefallen, der recht schön nachweisen konnte, dass in den letzten 10-15 Jahren die Gabe von Ritalin bei Kindern im Schulbereich entsprechend der Wirtschaftskurve steigt. Was sind die Gründe für den Wandel, Herr Stadler, wenn es weder PISA noch ein verändertes Bildungsverständnis sind?
Rainer Stadler: Ich finde, dass Herr Wößmann den Einfluss der Wirtschaft kleinredet. Sie haben gesagt, es ginge bei dem Ausbau der Kinderbetreuung für Kleinkinder nur um Vereinbarkeit. Das stimmt nicht. Ich kann Ihnen als Beispiel ein Zitat von Bert Rürup vorlesen, dem Wirtschaftsweisen, der bei der Umwandlung und Einführung von Ganztagsschulen und Krippen eine entscheidende Rolle gespielt hat. Der hat in einer Studie für das Bundesfamilienministerium 2005 geschrieben, dass es in einer Gesellschaft „mit schrumpfendem Erwerbspotential“ unumgänglich sei, die künftigen Arbeitskräfte besser auszubilden. Bereits bei Kleinkindern sei es deshalb lohnend, „in Humankapital, kognitive und Schlüsselqualifikationen zu investieren“. „Es kann nicht mehr nur die Quantität, sondern es muss auch die Qualität des Humankapitals zählen“. Das sind eindeutige Sätze: Gerade bei dem Ausbau der Kinderbetreuung hat die Wirtschaft massiv gedrängt. Natürlich wollten die einerseits die Frauen in Erwerbsarbeit bringen, aber es geht eben auch um die Kinder. Die Argumentation verstehe ich ja: Die sagen, es gibt weniger Kinder und deshalb müssen wir dafür sorgen, dass alle die gleichen Chancen bekommen. Das ist ja prinzipiell etwas Positives. Aber die wollen sich die Kinder möglichst früh so heranziehen, wie sie sie später brauchen können und haben deshalb massiv in die Politik eingegriffen. Und diese Studien wurden vom Familienministerium, egal wie die jeweilige Ministerin hieß, eins zu eins verwendet. Frau Schwesig rechnet Ihnen vor, man müsse so und so viele Milliarden investieren, dass die Frauen besser arbeiten und die Kinder besser ausgebildet werden können. Am Schluss steht eine Bilanz, laut der das Vorgehen zu Steuereinnahmen von X-Milliarden mehr führt. Diese Rechnungen gibt es und die waren DIE Begründung, um diesen Kurs, der ja tendenziell nicht nur elternfreundlich und schon gar nicht kinderfreundlich ist, durchzusetzen. Insofern störe ich mich an der Aussage, die Wirtschaft hätte da doch keinen großen Einfluss und das müsse man alles den Eltern überlassen. Das stimmt nicht! Die Eltern sind nicht frei in der Entscheidung. Ich habe mit vielen Eltern gesprochen, die unter enormem Druck stehen, die sich rechtfertigen müssen, falls sie ihre Kinder nicht in die Krippen schicken wollen, weil sie ihnen dadurch angeblich Bildung vorenthalten. Wenn man sich als Eltern dem entziehen will, was allgemein als wünschenswertes Modell vorgegeben ist, muss man sich doch den Vorwurf, man lasse sein Kind daheim verwahrlosen, anhören. Und dahinter sehe ich absolut die Wirtschaft als treibenden Motor. Wer sonst hätte daran Interesse?
Ludger Wößmann: Jetzt weiß ich nicht, wer oder was für Sie die Wirtschaft ist?
Rainer Stadler: Rürup und solche Leute sind für mich Wirtschaft.
Ludger Wößmann: Okay, ich stimme zu, dass man aus volkswirtschaftlicher Sicht sagen kann, dass es Sinnergibt, wenn wir allen Kindern die Möglichkeit geben, ihr Potenzial zur vollen Entfaltung zu bringen und dass man damit eben nicht erst mit 15 anfangen kann, weil wir aus der Pädagogik wissen, dass Bildung ein Prozess ist, bei dem man immer auf das vorher Gelernte aufbaut. Es gibt ein kritisches Zeitfenster, in dem bestimmte kognitive Entwicklungen geschehen, in dem wir also entsprechende Chancen schaffen müssen. Es stimmt auch, dass die eben nicht nur zur Förderung der Persönlichkeit der Kinder beitragen, sondern auch ihre künftige Erwerbstätigkeit betreffen können und dass man ausrechnen kann, dass das gesamtwirtschaftlich Sinnergibt. Dass die Familienministerin sich gerne auf solche Zahlen beruft, liegt vielleicht daran, dass sie die dafür notwendigen Milliarden vom Finanzminister ansonsten nicht bekommt. Das ist alles komplett richtig, heißt aber nicht, dass wir das machen, weil wir die Menschen einzig und allein als Maschinen für die Wirtschaft vorbereiten wollen.
Klaus Zierer: Hierzu passen aus meiner Sicht ein Humboldt-Zitat und eine aktuelle Studie. Humboldt schreibt: „Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht nur alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte. Wer aber für andere so räsoniert, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, dass er die Menschheit verkennt und aus den Menschen Maschinen machen will.“ Weil Sie gerade von Maschinen sprechen… Ich möchte aus pädagogischer Sicht eine zweite Studie anbringen und würde Sie dann beide bitten, dazu Stellung zu nehmen. Ich merke nämlich, dass Sie sich nach wie vor nicht einig sind. Es gibt verschiedene Studien, die sich mit der frühkindlichen Bildung auseinandersetzen. Bekannt ist die groß angelegte NICHD-Studie aus den USA, die verglichen hat, welchen Effekt die familiäre Erziehung im Vergleich zu einer Erziehung im Kindergarten oder in Kindertagesstätten hat. Diese Studie weist sehr deutlich nach, dass, mal angenommen, beide Fälle funktionieren grundsätzlich, die familiäre Erziehung wesentlich positivere Effekte als eine staatliche Institution hat. Das sind aus empirischer, erziehungswissenschaftlicher Sicht die Fakten. Was machen Sie jetzt daraus, Herr Stadler? Was bedeutet das für Sie, Herr Wößmann?
Rainer Stadler: Ich habe die Studie natürlich mit großem Interesse gelesen und auch ausführlich zitiert. Nachdem Sie vorher das Argument Chancengleichheit genannt haben, kann ich gleich noch eine zweite Studie anführen: Aus Kanada gibt es die Quebecstudie. Das war auch eine sehr umfangreiche Studie, die nachgewiesen hat, dass Kinder aus extrem prekären Verhältnissen von Krippen profitieren. Bei den anderen Kindern verwischen die positiven Effekte: Je besser die Kinder zu Hause aufgehoben sind, umso überflüssiger und negativer ist es letztlich, wenn sie eine Krippe besuchen. Ich will hier kein Krippenmonster aufbauen: wenn man das hinterfragt, heißt es immer, man sei krippenfeindlich. Es gibt viele Menschen, die aus ökonomischen Gründen existentiell auf solche Einrichtungen angewiesen sind, weil das Leben in unserer Stadt teuer ist, und man sich selbst als Akademikerpaar heutzutage schwer tut, die Mieten zu zahlen. Das sind Fakten, die sehe ich schon auch. Aber wenn man darauf eingeht, wer davon profitiert, dann sind es mit Sicherheit nicht die Kinder. Wobei ich absolut dafür bin, Kinder zu fördern, die schlechtere Startchancen haben als andere, damit sie nicht mit einer riesigen Hypothek ins Leben starten. Und die, die eh gut aufgehoben sind, sollte man da lassen, wo sie sind.
Ludger Wößmann: Da sind wir jetzt komplett einer Meinung. Dazu gibt es viele Studien und wir müssen differenzieren, worum es geht, um welches Alter und um welche Dauer. Geht es darum, dass die Kinder vier, fünf Stunden in Einrichtungen sind oder ganztags? Geht es um Kinder bis drei Jahre oder ältere? Ich kenne keine Studien, die gezeigt hätten, dass Kinderbetreuung ab dem Alter von drei, vier Jahren negative Effekte hätte. Davor kann sie, gerade wenn sie sich über den ganzen Tag erstreckt, negative Effekte haben. Bei halbtags kenne ich ebenfalls kaum Beispiele, die negative Effekte belegt haben. Aber wie Sie bereits gesagt haben, bei Kindern aus bildungsnahen Schichten gibt es wiederum keine positiven Effekte. Man muss immer in Alternativen denken: entweder fremdbetreut oder zu Hause. Was heißt das, zu Hause? Wenn das heißt, dass sich Eltern kümmern, die an der Entwicklung ihres Kindes interessiert sind, dann ist das gut; wobei ich glaube, es tut auch diesen Kindern in ihrer Entwicklung gut, wenn sie vier, fünf Stunden mit anderen Kindern spielen. Frühkindliche Bildung ist aber natürlich gerade dort wichtig, wo Kinder zu Hause keine guten Alternativen haben. Darum bin ich komplett bei Ihnen, wenn Sie sagen, dass wir spezielle Förderung nicht mit der Gießkanne ausschütten dürfen, sondern da fördern müssen, wo die Kinder zu Hause nicht gefördert werden. Das ist sehr schwierig, weil wir das in Deutschland nicht gerne machen. Das heißt nämlich, gezielt Benachteiligte zu fördern. Wir fürchten immer, dass sie dadurch gebrandmarkt werden. Damit wird in anderen Ländern viel lockerer umgegangen. Einfach ist es nicht, aber ich bin zunehmend davon überzeugt, dass wir zielgerichteter fördern müssen. Weil der Kindergartenausbau, so wie er momentan ist – da haben Sie recht –, vor allem von bildungsnahen Schichten genutzt wird. Alle Bildungsbürger geben ihre Kinder mit spätestens drei Jahren in Kindergärten und wollen das auch. 95 Prozent aller Kinder gehen in den Kindergarten. Es geht gerade um die restlichen fünf Prozent, um Kinder aus prekären Schichten, die diese Chance ebenfalls bekommen sollten. Von daher halte ich eine Diskussion, die sich mit der Frage beschäftigt, ob wir für über Dreijährige Kindergärten brauchen oder nicht, für abstrus. Worüber wir diskutieren können, ist, ob wir Kindergrten-Betreuung bis fünf Uhr nachmittags brauchen oder ob zwei Uhr eigentlich besser wäre. Das wäre wohl wichtig, da ein zu langer Kindergartenbesuch erwiesenermaßen negative Effekte haben kann. Vermutlich habe ich mit meinen Ausführungen nur bestätigt, was Sie gerade gesagt haben.
Klaus Zierer: Auf der Ebene scheinen wir einen Konsens gefunden zu haben. Jetzt komme ich aber doch auf eine aktuelle bildungspolitische Frage zurück: Sie haben vorher Frau Schwesig genannt, den Ausbau der Krippenplätze: immer mehr, immer mehr, immer mehr. Irgendwelche Quoten stehen im Raum. Ich finde Quoten im Bildungsgeschehen immer spannend, weil jede Quote ja letztendlich dazu führt, dass ich Menschen als Zahl fasse und dann wird es schwierig: Zahlen muss ich bewerten, darf ich Menschen bewerten? Wiederspricht eine Quote der Bundesregierung von über 50 Prozent nicht dem von Ihnen beiden formulierten Anspruch einer gezielten, individuellen Förderung von Schwächeren?
Rainer Stadler: Ich finde Quoten generell schwierig. Wenn viele Kinder in Krippen sind, wird das als Erfolg betrachtet. Das Problem ist, je mehr Kinder Krippen besuchen, umso mehr ächzt das System. Fahren sie mal an Kindertageseinrichtungen vorbei, Sie werden überall das Plakat sehen: „Erzieher/innen gesucht“. Das Problem wird umso größer, je mehr Betreuungsplätze geschaffen werden. Wir haben momentan laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung einen Erziehermangel von 100.000-120.000. Und dazu gibt es viele Studien, nageln sie mich also nicht auf die Zahlen fest. Es fehlen definitiv zehntausende. 2013 gab es eine große Untersuchung des Bundesfamilienministeriums, die Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit (NUBBEK). Lediglich drei Prozent der untersuchten Kindertageseinrichtungen haben das Qualitätsurteil „gut“ bekommen. Dann waren 80 Prozent irgendwie mittelmäßig und 16 Prozent schlecht. Ein wichtiger Richtwert für die Messung der Qualität so einer Einrichtung ist das Verhältnis von Betreuern und Kindern, also rein zahlenmäßig: Für Kleinkinder wird empfohlen, dass zwei, drei Kinder auf einen Erzieher kommen sollen. Später im Kindergarten können das schon mal fünf oder sechs Kinder pro Erzieher/in sein. Und das Verhältnis wurde in den meisten Krippen einfach nicht eingehalten. Sie finden nicht so viele Erzieher, die sich für 2.500 Brutto den ganzen Tag in eine Krippe reinstellen. Ich war da mal einen ganzen Tag. Das ist ein wirklich anstrengender, heftiger Beruf. Deswegen wäre ich dafür, dass die Kinder, bei denen es ohne Krippe funktioniert, irgendwie die Möglichkeit erhalten, da zu bleiben, wo sie sind. Dann könnten diejenigen, die wirklich auf Krippen angewiesen sind, und da gibt es viele, ihre Kinder mit einem guten Gefühl dahin schicken, weil sie wissen, dass sie da gut aufgehoben sind.
Ludger Wößmann: Leider ist zumeist das einzige Qualitätsmerkmal, das in solchen Studien geltend gemacht wird, das Betreuer-Kind-Verhältnis. Wenn Sie selber mal Kinder in einer Einrichtung gehabt haben, wissen Sie aber, dass das nicht der entscheidende Faktor ist und es auf die Qualität des Personals ankommt. Die ist sicherlich sehr schwer festzumachen. Ich hatte meine Kinder in unterschiedlichen Einrichtungen mit identischem Betreuungsschlüssel, die sich aber bezüglich der Fragen, wie wohl sie sich gefühlt haben und was es ihnen gebracht hat, um Welten unterschieden haben. Ich glaube, dass wir tatsächlich über Qualität reden müssen, nicht nur über den Betreuungsschlüssel. Ich glaube auch, dass wir dann darüber reden müssen, ob es angebracht ist, die Menschen, die unsere Kinder betreuen, so niedrig zu bezahlen. Wenn wir mehr wollen, heißt das, dass wir mehr investieren müssen, dass man höhere Gehälter zahlt, um mehr und entsprechend kompetente Menschen für den Erzieherberuf zu gewinnen.
Rainer Stadler: Ich glaube, man könnte das auch am anderen Ende lösen, indem man die Eltern unterstützt, die sich entscheiden, zuhause zu bleiben. Das Betreuungsgeld wurde damals einfach vom Tisch gewischt. Es ist für mich nicht zu verstehen, wie man das so einseitig totmachen konnte. Für mich ist das eine zugegebenermaßen läppische Anerkennung der Erziehungs- und Bildungsleistung, die Eltern erbringen, und die uns nicht mal 150 Euro wert war. Es gibt andere Länder, zu denen wir aufschauen, Norwegen oder Schweden beispielsweise, die ein dichtes Netz an Ganztagsbetreuung haben, trotzdem aber ein Betreuungsgeld von 600 Euro im Fall von Norwegen, 350 Euro im Fall von Schweden zahlen. Die öffentliche Diskussion bei uns fand ich sehr einseitig, sehr polemisch: Schnapsprämie war so ein Schlagwort derjenigen, die argumentiert haben, dass Eltern aus prekären Verhältnissen das Geld eh nur versaufen würden oder sich davon einen Flachbildfernseher kaufen. Es wurde völlig übergangen, dass es eine enorme gesellschaftliche Aufgabe und Leistung ist, wenn Eltern ihre Kinder erziehen und bilden, sodass die sich später bewähren können. Das wird in unserer Gesellschaft nach wie vor nicht honoriert. Aber wenn Krippe oder Tagesmutter die Kinder erziehen, kriegt man Geld dafür – und das finde ich seltsam.
Klaus Zierer: Ich gebe den Ball gleich weiter zu Herrn Wößmann: Sie sind ja Bildungsökonom. Könnte man das irgendwie verrechnen? Man verrechnet ja gerne die Kita- und Krippenbeiträge; warum ist man vom Betreuungsgeld so schnell weggekommen? Bildungsökonomisch hätte es sich ja wahrscheinlich gelohnt– oder nicht?
Ludger Wößmann: Nein, ich glaube nicht, dass sich das rechnet. Ich glaube aber, dass diejenigen, die Sie, Herr Stadler, kritisieren, irgendwo recht haben: Ich muss ganz ehrlich sagen, dass es für mich und die meisten Menschen in meinem engeren Bekanntenkreis irrelevant ist, ob ich 150 Euro dafür bekomme, dass ich mein Kind nicht in eine Einrichtung schicke. Diese 150 Euro sind nicht ausschlaggebend, wenn wir uns entscheiden, ob einer von uns zu Hause bleibt oder nicht, da sind andere Sachen viel wichtiger. Sie können das als Anerkennung sehen, das finde ich fair enough, aber unsere Entscheidung wird das überhaupt nicht beeinflussen. Die Entscheidung von Menschen, die von Hartz 4 leben müssen, beeinflusst es aber extrem: Die kriegen 650 Euro, und wenn man ihnen dann sagt: „Wenn ihr euer Kind nicht in den Kindergarten schickt, kriegt ihr 150 Euro drauf“, hat sich ihr Einkommen um ein knappes Viertel erhöht. Diese Menschen sind durch 150 Euro beeinflussbar – und gleichzeitig die Eltern der Kinder, die Sie in Einrichtungen fördern wollen. Ich verstehe die Argumente, aber vom Ergebnis her gedacht ist das Betreuungsgeld extrem kontraproduktiv. Ich sehe das sehr kritisch.
Rainer Stadler: Ich würde dem nur entgegensetzen, dass ich nicht nachvollziehen kann, warum man die 150 Euro damals so kritisiert hat und kein Problem damit hat, dass Krippenplätze subventioniert werden, die 1000 Euro oder mehr kosten und unter anderem von Leuten in Anspruch genommen werden, die sich das sehr gut selbst leisten könnten. Das ist ein extremes Misstrauen gegenüber ärmeren Familien. Ich finde, die sollten genauso das Recht und die Möglichkeit haben, ihre Kinder zu erziehen, wenn sie es gut machen. Missbrauch gibt es natürlich bei jeder staatlichen Leistung.
Klaus Zierer: Ich komme nun zum letzten Punkt, den ich noch mit Ihnen ansprechen möchte, bevor wir in die offene Fragerunde gehen: Chancengleichheit ist vielfach thematisiert worden. Es ist sicherlich auch im humboldtschen Sinn, dass Bildung in einer Leistungsgesellschaft letztendlich ein Schlüssel ist, um vorwärts zu kommen. Jetzt gibt es aber, beispielsweise in Anschluss an Bourdieu, die Feststellung, dass Bildung gleichzeitig die gesellschaftlichen Unterschiede verhärtet. Vielleicht ein Beispiel dazu, der bekannte 30 Millionen-Wörter-Unterschied: Man hat in einer Studie festgestellt, dass Kinder aus bildungsfernen Milieus bis zur Einschulung zuhause 30 Millionen Wörter weniger hören als Kinder aus bildungsnahen Milieus. Und das ist unabhängig davon, ob sie in Kindergärten gehen oder nicht. Ist es nicht doch ein Mythos zu glauben, Bildung sei der Schlüssel zur Chancengerechtigkeit?
Ludger Wößmann: Naja, zum einen glaube ich, dass das nicht unabhängig davon ist, ob man in eine gute Kindereinrichtung gegangen ist oder nicht, aber das nur nebenbei. Es ist unrealistisch, komplette Chancengleichheit herzustellen, dem stimme ich zu. Ergebnisse von Bildungsvergleichsstudien wie PISA hängen extrem eng mit dem familiären Hintergrund zusammen. Wenn Sie den Bildungsstand der Eltern oder die Anzahl der Bücher in dem jeweiligen Haushalt als sozioökonomischen beziehungsweise kulturellen Indikator messen, zeigt sich, dass die Ergebnisse damit viel stärker korrelieren als mit irgendwelchen politischen Maßnahmen. Aber das heißt ja nicht, dass wir deshalb aufgeben sollten. So lange das Bildungsbürgertum der Bildung der Kinder mehr Gewicht beimisst, wird man nur dann gleiche Chancen bekommen, wenn man gemäß Platon den Eltern die Kinder bei der Geburt wegnimmt – ich glaube, das will keiner. Einen Zusammenhang zwischen familiärem Hintergrund und Bildungsleistung gibt es in allen Ländern. Aber Deutschland gehört immer zu den vier, fünf Ländern, in denen sich der familiäre Hintergrund am deutlichsten auswirkt. Deswegen glaube ich, dass wir viel mehr tun könnten, das ist unser gesellschaftlicher Auftrag. Darum muss das System allen Menschen, so gut es geht, Chancen offen halten, bis sie mündig sind. Was ich aus rein wirtschaftlicher Sicht als unsinniges Argument zurückweisen muss, ist, wenn Menschen aus meinem Umfeld meinen, dass das auf ihre Kosten geht, wenn andere bessere Bildung bekommen. Das ist diese Vorstellung eines Kuchens, der verteilt werden muss: Wenn die Anderen mehr bekommen, dann bekomme ich weniger ab. Die bildungsökonomische Forschung zeigt, dass das wirklich Quatsch ist. Stattdessen können sich besser gebildete Menschen produktiver in die Wirtschaft einbringen, weswegen mehr produziert werden kann, wodurch der Kuchen wächst. Wenn wir es also schaffen, dass mehr Menschen gut gebildet sind, dass mehr Menschen Kompetenzen entwickeln, Persönlichkeit entwickeln, die es ihnen ermöglicht innovativ zu sein, weiterzudenken, Dinge zu verbessern, dann wird das unseren Wohlstand insgesamt erhöhen. Das wiederum heißt natürlich nicht, dass alle gleich sind; ich glaube, an diesen Punkt kommen wir nie.
Rainer Stadler: Ich würde das schon anzweifeln, dass Bildung einen so weiterbringt, wie es gemeinhin heißt. Da gibt es Gegenbeispiele, die einen zum Nachdenken bringen. Wir haben ja am vergangenen Wochenende in der SZ einen großen Artikel über den Wert eines Uniabschlusses gebracht. Andererseits wurde kürzlich eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass gerade der wissenschaftliche Nachwuchs an den Hochschulen extreme Schwierigkeiten hat, Familien zu gründen, weil die Betroffenen immer nur befristetet Verträge erhalten und damit einfach auf keinen grünen Zweig kommen. Sie haben ja selbst geschrieben, Herr Wößmann, dass es sehr auf das Fach ankommt, das man studiert. Da kann ich als Journalist auch einige Geschichten erzählen, hochgebildete Leute, die keine Chance auf Karriere bekommen, weil es dort – wie in anderen Branchen auch – immer weniger gut bezahlte Stellen gibt. Insofern setzt man diese Leute zusätzlich unter Druck, wenn man ständig proklamiert: Bilde dich, dann wird das schon was, Du bist deines Glückes Schmied. Als stünde das nur in ihrer eigenen Macht! Welche Chancen Sie im Leben haben, hängt vor allem mit dem Vermögen, das Sie im Hintergrund haben, zusammen. Es gibt viele, die immer im Hamsterrad bleiben werden, die können sich gut bilden, haben aber nie die gleichen Chancen wie diejenigen, die entsprechendes Vermögen mitbringen. Richtig ist, dass ich mit einer guten Bildung und den daraus resultierenden besseren Berufschancen weniger Gefahr laufe, zu verarmen, Aufstiegsmöglichkeiten sind aber natürlich begrenzt. Und je mehr Akademiker es gibt, umso härter wird der Wettbewerb, irgendwann wird ein Studium kaum mehr zählen. Das ist ein Wettlauf, jeder gegen jeden. Da sind wir Marktteilnehmer, mehr nicht.
Klaus Zierer: Ich danke Ihnen, Herr Wößmann, Herr Stadler, für dieses Gespräch.