Ausgangspunkt
Einer der Aspekte, die den Menschen zum Menschen machen und ihn vom Tier unterscheiden, ist seine Fähigkeit nach seinem „Woher?“ zu fragen. Die berühmte Sinnfrage ist die Frage nach der Zukunft, nach dem „Wozu?“ – aber ähnlich bedeutsam ist die Frage nach der Vergangenheit, eben die Frage „Woher komme ich?“ und: „Woher kommt diese Welt?“
Diese Fragen sind die Triebfeder vielfältiger menschlicher Überlegungen zu allen Zeiten. In der Neuzeit übernimmt die Naturwissenschaft die Vorherrschaft in der Beantwortung der Frage nach dem Woher Die Erklärungsmodelle von Physik und Biologie dominieren heutige Antwortversuche auf die Frage nach dem Woher von Welt und Mensch. In anderen Zeiten haben die Menschen mit anderen Perspektiven andere Antworten gegeben – diese gilt es mit Respekt zu behandeln und nicht voreilig als „veraltet“ abzuqualifizieren.
Die Suche nach dem „Woher?“ mündet immer (irgendwie) in der Frage nach dem Ur-Anfang. Man stellt sie vermutlich auch deshalb, weil man in ihrer Antwort eine sinnstiftende Kraft vermutet, die bis in die Gegenwart von Relevanz ist. Auch wenn die Bibel so daherkommt, als habe es vor ihr nichts gegeben („Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde“), so sind ihre Texte nicht die ersten und nicht die einzigen, die die Frage nach dem „Woher“ bis zum Ur-Anfang zurückverfolgen. Daher ist es für das Verständnis der biblischen Rede von Gott als Schöpfer wichtig, sich durch Kenntnisnahme der Mythen im biblischen Umfeld in das damalige Denken hineinzubegeben.
Mythos
Die Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, die Antworten auf die Frage nach dem Ur-Anfang versuchen, werden in der Regel als Mythen bezeichnet. Ist dieser Begriff im heutigen Alltagssprachgebrauch auch negativ konnotiert, so sollte dies nicht dazu verführen, die mythische Rede als völlig unbrauchbar anzusehen. Der Mythos stellt einen Sprachversuch dar, Dinge in Worte zu fassen, für die konventionelle Begriffe und Modelle nicht mehr ausreichen. Wenn man also das menschliche Sprachvermögen nicht auf das rein naturwissenschaftlich Fassbare (Mess- und Beschreibbare) reduzieren will, kommt man um mythische Redeweise nicht herum. Um allerdings den Mythosbegriff nicht zu weit auszudehnen, sei folgender Definitionsversuch unternommen, der auf den Textbefund aus der Umwelt des Alten Testaments weitgehend zutrifft. Mythen im engeren Sinne, also im Blick auf die Texte aus dem Alten Orient und dem Alten Ägypten, sind dadurch gekennzeichnet,
– dass sie in einer fernen Zeit, jenseits dieser Geschichte, spielen,
– dass eine Gottheit oder mehrere Götter beteiligt sind,
– dass die Ereignisse einmalig und großartig sind,
– dass diese Ereignisse eine Ordnung der vorfindlichen Welt begründen,
– dass der Schöpfer/die Schöpfer ein Teil dieser Welt ist/sind.
Man sieht an dieser Systematisierung, dass Mythen versuchen, die vorfindliche Welt zu ordnen, und damit für den Menschen begreifbar und begreiflich zu machen. Der Mensch braucht das, um sein Verhalten an etwas ausrichten zu können, bisher noch nicht Erfahrenes einschätzen und einordnen zu können und gewisse Prognosen machen zu können, die man als „planen“ umschreiben könnte. Dazu wird die Veränderlichkeit dieser Welt zeitlich und räumlich in Verbindung mit höheren Mächten gebracht, die die Kontingenz (Hinfälligkeit, Zufälligkeit, Unverfügbarkeit) des Menschen und seiner Welt gedanklich übersteigen. Mit anderen Worten: Zur Ordnung und Erklärung dieser Welt hier und jetzt wird zurückgegriffen auf eine Ur-Welt jenseits dieser Geschichte. Zur Erklärung des Daseins und Soseins des Menschen wird zurückgegriffen auf Akte von Gottheiten, die der Wirklichkeit des Menschen und seinem Sosein auch Sinn verliehen haben.
Die biblischen Schöpfungstexte sind nicht im luftleeren Raum entstanden. Wie ein Blick auf eine Karte des Vorderen Orients zeigt, befindet sich das Land der Bibel im Zentrum beziehungsweise Schnittpunkt der Verbindungslinien zwischen den vorderorientalischen Hochkulturen der Hethiter in Anatolien, der Assyrer und Babylonier im Zweistromland (Mesopotamien) und der Ägypter. Zugleich wird die Kleinheit des Heiligen Landes deutlich, wenn man sich die dazu überwältigend erscheinenden Flächen der umgebenden Hochkulturen ansieht.
In dieser geographischen Situation werden also die biblischen Schöpfungstexte geschaffen, die nicht nur bestimmte altorientalische Schöpfungsvorstellungen kennen, sondern auch auf sie reagieren. Einiges übernehmen sie, aber in vielen Punkten unterscheiden sie sich auch signifikant von ihrer Umwelt. Wir würden der biblischen Botschaft ein gutes Stück ihrer Schlagkraft nehmen, wenn wir uns nicht um den altorientalischen Hintergrund bemühen. Zwei Beispiele aus Babylon und Ägypten regen zum Vergleich an.
Ein Beispiel aus Mesopotamien: „Enuma elisch“
Das erste Beispiel stammt aus Babylonien und wird meist als Babylonisches Weltschöpfungsepos bezeichnet. In der altorientalischen Welt kannte man es aber unter seinen Anfangsworten „Als oben“, akkadisch: „Enūma eliš“. So beginnt das poetische Werk, das als Hauptthema gar nicht die Erschaffung der Welt hat, sondern den Aufstieg Marduks zum Herrn der Welt. Die Welterschaffung ist nur ein vergleichsweise kleiner Teil einer Gesamtkomposition, die eine fulminante Karriere erklären und rechtfertigen will: wie und warum der Stadtgott von Babylon, Marduk, der ursprünglich ein niederer Gott in der babylonischen Götterwelt (Pantheon) war, zum obersten Gott und Anführer der Göttinnen und Götter Babyloniens wurde und seither als solcher verehrt werden soll.
Dahinter steckt eine politische Geschichte. Der für seinen Codex, sein Gesetzeswerk, bekannte König Hammurapi (18. Jahrhundert v. Chr.) machte Babylon zur politischen Hauptstadt desjenigen Gebiets, das heute als „südlicher Irak“ umschrieben werden kann. So wurde aus dem Stadtgott schon ein „großer Gott“ (neben den anderen großen Göttern wie Anu und Enlil). Im 12. Jahrhundert v. Chr. ist es der babylonische König Nebukadnezar I., der seinen Stadtgott, also Marduk, zum „König der Götter“ erklärt – doch dafür brauchte er eine theologische Begründung und eine Geschichte. „Enuma elisch“ ist wahrscheinlich in dieser Zeit entstanden, um ein theologisches Narrativ, eine Erklärung in Form einer Erzählung, dafür zu liefern, dass die alten Götterherren wie Anu und Enlil von Marduk abgelöst werden.
Der Name des Dichters wird – wie meist im Alten Orient – nicht genannt. Er gehörte mit großer Wahrscheinlichkeit der Marduk-Priesterschaft an. Als gebildeter Mensch kannte er die mythologische Vorstellungswelt seiner Zeit und konnte die Motive sinnvoll zu einem neuen, originellen und kunstvollen Text zusammenfügen. Dieser Text besteht aus 1094 Zeilen (meist in Verspaaren geschrieben), die sich auf sieben Tafeln verteilen. Bruchstücke hat man an nahezu allen Grabungsorten in Assyrien und Babylonien gefunden. Sie sind etwa in die Zeit zwischen 900 und 300 v. Chr. zu datieren. An diesen Zahlen sieht man schon die weite Verbreitung dieser Dichtung über Raum und Zeit in Mesopotamien.
Das Narrativ beginnt mit einer Hervorbringung der Götterwelt, also einer „Theogonie“. Dabei ist bemerkenswert, dass schon in den ersten neun Zeilen mehrere „als noch nicht“-Aussagen zu finden sind. Der Mythos geht also systematisch vor: Um sich dem Ur-Anfang zu nähern, wird die vorfindliche Welt Stück um Stück negiert. Der Text landet bei einem uranfänglichen Götterpaar, das zwei Varianten des Elements „Wasser“ repräsentiert. Der männliche Apsû ist die große Masse aus Süßwasser, von der man sich vorstellte, dass sie unter der Erde liegt und alle Quellen speist. Die weibliche Tiʾāmat ist das Salzmeer. Ihre Vereinigung („mischen“) führt zur Geburt der Götter. Der Text auf Tafel I, 1-9, lautet nach der Übersetzung von K. Hecker wie folgt:
Als oben die Himmel nicht benannt waren,
unten die Erde mit Namen nicht ausgesprochen war,
(da) war Apsû, der Erste, ihr Erzeuger,
(und) Mummu Tiʾāmat, die sie alle gebar,
sie mischten ihre Wasser zu einem,
aber Weide war nicht gebildet, Röhricht nicht sichtbar.
Als von den Göttern noch kein einziger entstanden war,
mit Namen nicht ausgesprochen, Schicksal (ihnen) nicht zubestimmt war,
(da) wurden die Götter in ihnen [in Apsû und Tiʾāmat] erschaffen
Es folgt nun eine Liste mit den jüngeren Gottheiten, die nach und nach entstehen. Ihr Lärmen (Tanzen!) stört die Ruhe des uranfänglichen Paars erheblich. Apsû beschließt daher, seine Nachkommenschaft wieder auszurotten, um seine Ruhe wiederzugewinnen. Doch Ea, der Sohn des Gottes Anu, ein Enkel des Urpaares, hört von dem Plan. Er ergreift die Initiative und tötet Apsû. Auf dem Leichnam errichtet Ea seine Wohnung. Mit seiner Gattin Damkina zeugt Ea in dieser Wohnung „den Tüchtigsten der Tüchtigen“, seinen Sohn Marduk.
Tiʾāmat hingegen berät sich mit den anderen Göttern, und in mehreren Debatten kommt sie zu dem Ergebnis, dass ihr das gleiche Schicksal wie das ihres getöteten Gatten droht, wenn sie untätig bleibt. Also erschafft sie eine Schar von Ungeheuern und unterstellt sie ihrem neuen Ehegatten, dem Gott Qingu. So endet die erste Tafel. Der Götterkampf steht unmittelbar bevor.
Die zweite Tafel erzählt, wie Tiʾāmat und ihre Anhängerschaft angreifen. Der König der jüngeren Götter, Anšar, schickt zunächst seinen Erstgeborenen Ea. Doch Ea wird, sobald ihm Tiʾāmats Pläne klarwerden, totenstill und kehrt um. Als zweiten schickt Anšar seinen Sohn Anu. Doch dem geht es genauso wie Ea. Alle sind ratlos. Keiner der Götter wagt es, gegen Tiʾāmat anzutreten. Ea bringt nun seinen Sohn Marduk dazu, dass er seine Dienste anbietet. Man kommt überein, dieses Angebot anzunehmen. Marduk aber stellt die Bedingung, dass er – wenn er Erfolg hat – die oberste Gewalt und Macht erhält. Das wird nun auf Tafel 3 ausgehandelt, und so stimmen die Götter ihrer potentiellen Selbstentmachtung zu. Auf Tafel 4 stellen ihrerseits die Götter die Bedingung, dass Marduk den Erwerb und Besitz der obersten Macht dazu verwenden muss, die Versorgung der Götter zu sichern. Bisher war es nämlich so, dass die Götter selbst hart arbeiten mussten, um sich ihr tägliches Brot zu verschaffen. Marduk soll nun dafür sorgen, dass ihre Tempel mit Lebensmitteln ausgestattet werden. Doch zunächst steht Marduk ein Zweikampf bevor.
Ausführlich wird Marduks Waffenrüstung beschrieben, zu der auch die Wetterphänomene der Blitze, des sintflutartigen Regens und der vier Winde als Stürme gehören. Doch bei der ersten Begegnung schreckt Marduk noch zurück. Die Beschwörungen Tiʾāmats erscheinen zu stark. Aber dann schöpft Marduk wieder Mut, bietet alle seine Kräfte und Waffen auf und entfesselt einen gewaltigen Kampf. Am Ende siegt Marduk und kann Tiʾāmat töten. Die Ungeheuer und ihr Anführer Qingu werden dann schnell überwältigt.
Nach dem großen Kampf will Marduk Kunstvolles erschaffen. Er spaltet den Leichnam der Tiʾāmat in zwei Teile und baut aus dem oberen Teil das Himmelsdach:
Dann trat der Herr [Marduk] Tiʾāmats Unterteil nieder,
mit seiner schonungslosen Waffe spaltete er dann den Schädel.
Er durchschnitt ihre Adern (voll) Blut,
dann ließ er den Nordwind es ins Verborgene tragen.
(Als) seine Väter (das) sahen, freuten sie sich und jubelten,
Gaben und Geschenke ließen sie für ihn bringen.
Der Herr [Marduk] ruhte aus, um ihren Leichnam zu betrachten,
den Körper zu zerteilen, Kunstvolles zu schaffen.
Er brach sie wie Stockfisch in zwei Teile
aus einer ihrer Hälften erstellte er das Himmelsdach.
Er breitete die Haut aus, Wachen setzte er ein.
ihr Wasser nicht hinausgehen zu lassen, befahl er ihnen.
Auf diese Weise hat Marduk das Firmament eingerichtet (Ende von Tafel 4). Er platziert nun (Tafel 5) die Sternbilder als Abbilder der großen Götter, gibt dem Mondgott Nannar (auch: Sîn) seine Aufgabe, den Monat zu regeln, während der Gott Šamaš (die Sonne) den Tag reguliert. Marduk selbst übernimmt die meteorologischen Phänomene. Schließlich formt Marduk aus dem unteren Teil des Leichnams der Tiʾāmat die Erde mit ihren Landschaften. Aus den Augen werden Euphrat und Tigris, aus der Brust die fernen Berge.
Im weiteren Verlauf wird ausführlich beschrieben, wie Marduk seine Wohnung im Zentrum der Welt nimmt. Hier ist der Versammlungsort aller Götter. Schließlich werfen sie sich vor Marduk nieder. So endet Tafel 5. Auf Tafel 6,49-66 wird nachgeholt, dass die Götter in Anerkennung von Marduks Verdiensten für ihn den Tempel Esagila in Babylon bauen, die hohe Ziqqurat (Stufentempel).
Auf Tafel 6 wird am Beginn der Faden wieder aufgegriffen, dass sich die Götter die Versorgung ihrer Heiligtümer erbeten hatten. Marduk erschafft dazu aus Blut und Knochen die Menschen. Sie sollen die Mühsal der Götter tragen. Als Material zieht Marduk das Blut des Gottes Qingu heran: Qingu wird als schuldig befunden, den Aufruhr der Tiʾāmat angezettelt zu haben. Dafür wird er getötet, und aus seinem Blut wird die Menschheit gemacht. Dabei stammt die Idee von Marduk, die Ausführung erfolgt durch Ea.
Sie banden ihn [Qingu] und hielten ihn vor Ea fest,
Sie legten ihm die Strafe auf und schnitten sein Blut [Adern] durch.
Aus seinem Blut erschuf er die Menschheit,
legte ihr die Mühsal der Götter auf, die Götter stellte er frei.
Nachdem der weise Ea die Menschheit geschaffen,
(und) ihr die Mühsal der Götter auferlegt hatte,
– dieses Werk ist zum Verstehen ungeeignet,
denn mit den Künsten des Marduk schuf Nudimmud (Ea) –
teilte Marduk, der König der Götter,
die Anunnaki (die Götter) alle oben und unten.
Mit der Erschaffung der Menschen hat die Welt die Gestalt, wie man sie sich im damaligen Babylonien vorstellte. Im weiteren Verlauf preisen die Götter den Helden Marduk und zählen seine 50 Namen auf (Tafeln 6 und 7). Im Epilog umschreibt der Text seinen Sinn und seine Absicht: Die Kenntnis von Marduks Größe soll durch alle gesellschaftlichen Schichten verbreitet werden. Ob das Epos tatsächlich im Kult rezitiert wurde, bleibt unsicher.
Der Aufstieg Marduks zum Herrn der Welt spiegelt als theologisches Narrativ den Herrschaftsanspruch des babylonischen Reiches und seines Königs. Wie der Stadtgott Marduk zum Herrn aller übrigen Gottheiten wird, so erhofft und versteht sich Babylon als Zentrum und Herrscher über der Welt. Das Thema „Erschaffung der Welt und des Menschen“ ist nur ein Teilaspekt davon. Die Hauptpunkte sind jedoch beeindruckend bis heute. Die Götterwelt entsteht demnach aus einem einzigen, wässrigen Ur-Götterpaar (Apsû und Tiʾāmat). Der Kosmos selbst wird vom obersten Gott Marduk durch Teilung des Leichnams der Tiʾāmat geschaffen: Firmament und Erde. Die Menschheit wiederum entsteht, um den Göttern die Mühsal der Arbeit abzunehmen. Die Menschen werden aus dem Blut des geschlachteten Gottes Qingu geschaffen. Dahinter steht die ältere Vorstellung, dass die Götter zur Erschaffung der Menschen einst das Blut eines geschlachteten Gottes mit dem Ton (Lehm) vermischten, um daraus den Menschen zu formen. So erzählt es das altbabylonische Atra-ḫasīs-Epos (Tafel 2, 67–116, K. Hecker, 138–139). Das göttliche Blut im Menschen kann vieles erklären: dass der Mensch denken kann, dass er den Göttern so ähnlich ist … Damit wird auch die Aufgabe dieser Schöpfungsnarrative deutlich: Sie wollen die vorfindliche Welt erklären, indem auf ihre Entstehung gedanklich zurückgegriffen wird. Zugleich aber wird ihr damit ein innerer Zusammenhang, ein Sinn, verliehen.
Ein Beispiel aus Ägypten: Der große Sonnenhymnus des Echnaton
Mit dem Alten Ägypten begegnet man einer anderen Hochkultur, die sich in vielerlei Hinsicht vom Zweistromland unterscheidet. Mit Echnaton wiederum kommt man in eine einzigartige Epoche, die bedeutsame Unterschiede zur vorhergehenden und nachfolgenden Zeit aufweist.
König Amenophis IV. regierte im 14. Jahrhundert v. Chr. (1351-1334 v. Chr.). Seinen Namen (ägyptisch: Amenhotep, „Amun ist zufrieden“) änderte er später in Echnaton („Nützlicher für Aton“) um. Er gründete eine neue Hauptstadt, Achetaton („Horizont des Aton“). Der Ort heißt heute Tell el-Amarna, und danach wird die Epoche als Amarnazeit bezeichnet. In dieser Zeit gab es einen radikalen, aber kurzlebigen Bruch mit der Tradition: Echnaton verordnete die Hinwendung zur Alleinverehrung des Sonnengottes als personifizierte Sonnenscheibe „Aton“ unter gleichzeitiger Abkehr von der polytheistisch geprägten Götterwelt Ägyptens.
Bereits in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. gab es in Ägypten einen theologischen Diskurs über die Wirkung des Sonnengottes auf die irdische Schöpfung. Re-Harachti, Amun-Re, Ptah nehmen die Rolle des Schöpfergottes ein, der die Ordnung der Schöpfung hervorbringt und durch sein Sonnenwirken erhält. Viele Gottheiten gehen im Sonnengott auf. Insofern sind die Veränderungen durch Amenophis IV. Echnaton eine konsequente Fort- und Umsetzung der theologischen Vorgaben der vorausgehenden Generationen. Gerade diese Konsequenz – und vielleicht auch politische Auseinandersetzungen mit den priesterlichen Eliten in Theben und Memphis – führen zur Radikalisierung der bestehenden Formen und Vorstellungen und zum Ausschluss der traditionellen Götterwelt.
Der Sonnengott Aton wird nicht mehr in Menschengestalt wie die früheren Götter dargestellt, sondern als bloße Sonnenscheibe mit einer Uräus-Schlange. Von ihr gehen Strahlen ab, die in Händen enden. Unter diesem „Strahlenaton“ ist der König mit seiner Gemahlin Nofretete und ihren Töchtern in anbetender beziehungsweise opfernder Haltung abgebildet. Die Hände am Ende der Strahlen überreichen dem König und der Königin das Leben, symbolisiert im Anch-Zeichen („Henkelkreuz“).
Bemerkenswert ist auch die Kunst, die die Amarnazeit hervorgebracht hat. Es entsteht eine vom früheren Idealbild ganz erheblich abweichende Darstellungsweise, die zum Beispiel Schädel und Gesicht unnatürlich verlängert und den Bereich um Bauch und Oberschenkel extrem verbreitert. In Bezug auf die Abbildungen des Königs wird dies unterschiedlich erklärt: als symbolische Darstellung Echnatons als androgyner Schöpfergott oder als reale Abbildung von Krankheitssymptomen.
Die Umbenennung in Echnaton in seinem fünften Regierungsjahr sowie die Gründung der neuen Residenz- und Kultstadt Achetaton unterstützen die neue Aton-Religion: Nur Aton durfte dort verehrt werden. Es bedurfte keines Kultbildes, da die Sonnenscheibe jeden Tag zu sehen war. Die Heiligtümer bestanden aus offenen Höfen mit Altären. Mittler zwischen Aton und dem Volk waren allein Echnaton und seine Familie. Aton, Echnaton und Nofretete bildeten eine Triade, eine heilige Dreiheit.
Die alten Götterbilder und Götterhymnen sowie ihr Kult waren abgeschafft. Stattdessen wurde in den Aton-Hymnen das Lob der Erschaffung der Natur und allen Lebens durch Aton gepriesen. In Achetaton fand man allerdings auch viele kleinformatige Bildnisse anderer Götter. Das kann nur bedeuten, dass einzelne Aspekte der alten Kulte im Privatbereich weiterlebten.
Wer in dem Zeitraum nach dem Tod Echnatons und vor der Thronbesteigung seines mutmaßlichen Sohnes Tutanchaton in Ägypten geherrscht hat, ist schwer zu rekonstruieren. Mit letzterem setzte jedoch die Restauration der traditionellen Kulte wieder ein. Die Umbenennung von Tutanchaton in Tutanchamun zeigt, dass erneut Theben mit dem Gott Amun das religiöse Zentrum wurde. Die Stadt Achetaton gab man auf. In einer späteren Quelle wird die Amarnazeit als „Krankheit“ umschrieben, und die Namen ihrer Könige fehlen in den Königslisten darauffolgender Tempel. Bald nach dem Tod Echnatons spielt Aton in der ägyptischen Religion keine Rolle mehr.
Der „Große Hymnus“ des Echnaton an Aton ist im Grab des Eje in Tell el-Amarna aufgezeichnet. Eje war unter Echnaton ein hoher Hofbeamter. Bisher hat man nur diese einzige Abschrift gefunden. Sie ist in Hieroglyphenschrift geschrieben. Man nimmt an, dass Echnaton selbst den Text verfasste, allerdings gibt es keine Beweise. In hymnischer Sprache wird der Gott Aton gepriesen, der sichtbar repräsentiert durch die Sonnenscheibe über den Horizont zieht. Der Zielpunkt am Ende des Textes ist jedoch die Herrschaft Echnatons und seiner Gemahlin Nofretete. Der Große Hymnus an Aton beginnt mit einer Anrufung der Sonne bei ihrem Aufgang:
Schön erscheinst du
im Lichtland des Himmels,
du lebende Sonne, Ursprung des Lebens.
Du bist aufgegangen im östlichen Lichtland,
und du hast jedes Land mit deiner Schönheit erfüllt.
Du bist schön, gewaltig und funkelnd,
du bist hoch über jedem Land.
Der Lauf der Sonne ist für die Menschen offenbar immer schon ein Anlass zur hymnischen Bewunderung gewesen. Die Parallelen zu Psalm 19,5-7 sind auffällig:
Dort hat er (Gott) der Sonne ein Zelt gebaut.
Sie tritt aus ihrem Gemach hervor wie ein Bräutigam;
sie frohlockt wie ein Held, ihre Bahn zu laufen.
Am einen Ende des Himmels geht sie auf und läuft bis ans andere Ende;
nichts kann sich vor ihrer Glut verbergen.
Der Hauptunterschied ist jedoch schnell zu sehen: Bei Echnaton ist die Sonne selbst göttlich (Aton), während in Ps 19 mehr als deutlich wird, dass die Sonne ein bewundernswertes Geschöpf des Schöpfergottes ist. Im Folgenden soll aber weniger der Vergleich mit biblischen Texten im Vordergrund stehen als vielmehr der Text des Sonnenhymnus selbst.
Die Abschnitte (genauer: die Kolumnen) 2 und 3 preisen Aton als die lebende Sonne und Ursprung des Lebens. Überall hin reichen die Strahlen der Sonne, somit ist Aton überall gegenwärtig. Doch die Sonne geht auch wieder unter. Diese Zeit wird in beiden Abschnitten thematisiert: Die Abwesenheit des Schöpfers bedeutet Finsternis und Tod, Gewalt und Untergang. Doch glücklicherweise geht die Sonne an jedem Morgen wieder auf: Aton vertreibt die Finsternis und erschafft die Erde wieder neu. In den Abschnitten 4 bis 6 wird das vielfältige Tagesgeschehen beschrieben: die Menschen tun ihre Arbeit, die Tiere und Pflanzen gedeihen. In Abschnitt 6 beginnt die Rede von der belebenden Kraft Atons: Aton bewirkt, dass Kinder im Mutterleib heranwachsen. Als Analogie wird in Abschnitt 7 das Küken im Ei genannt.
Am Ende von Abschnitt 7 leitet ein Lobruf die Besinnung darauf ein, dass Aton alles geschaffen hat:
Wie zahlreich sind deine Werke
die dem Angesicht verborgen sind,
Du einer Gott, dessengleichen nicht ist!
Du hast die Erde erschaffen nach deinem Herzen, der du allein warst,
mit Menschen, Herden und jeglichem Wild,
allem, was auf Erden ist und auf (seinen) Füßen läuft,
(allem,) was in der Luft ist und mit seinen Flügeln auffliegt.
Aton ist dabei der alleinige Schöpfergott, der die Erde nach seinem Herzen erschaffen hat. Wie meist in der Antike ist das Herz hier nicht der Sitz des Gemüts und der Emotionen, sondern des Verstandes, des Denkens und des Planens. Im weiteren Verlauf werden verschiedene Bereiche und Phänomene genannt, die sämtlich auf das Schöpferhandeln Atons zurückgeführt werden: die Fremdländer ebenso wie das Land Ägypten, die verschiedenen Sprachen und Hautfarben der Menschen, der Nil auf der Erde sowie der Himmels-Nil (Regen), die Jahreszeiten. Alle diese Phänomene dienen den Geschöpfen, vor allem dem Menschen.
In Abschnitt 11 wird erneut thematisiert, dass Aton der eine (und einzige) Gott am fernen Himmel ist, aus dem zugleich alle Vielfalt hervorgegangen ist:
Du hast den Himmel fern gemacht, um an ihm aufzugehen,
um alles zu sehen, was du erschaffst, indem du allein bist.
Du bist aufgegangen in deiner Verkörperung als lebende Sonne,
du bist erschienen und strahlend, du bist fern und nah (zugleich).
Du erschaffst Millionen Verkörperungen aus dir, dem Einen,
Städte und Dörfer, Äcker, Weg und Fluß.
Alle Augen sehen dich ihnen gegenüber,
indem du als Sonne des Tages über 12 der Erde bist.
Es ist also nicht so, dass einfach die Sonne als Gott verehrt wird. Vielmehr ist die Sonne die Verkörperung des universalen Gottes Aton. Aus diesem Einen und Einzigen ist alles, was ist, hervorgegangen. Wichtiger aber ist noch, dass die Strahlen Atons alles am Leben erhalten und somit immer wieder neu schaffen: „Wie die lebenserweckenden Sonnenstrahlen ans Ende der Welt und ins Innere des Meeres dringen und auch im Mutterleib Leben erschaffen, so ist alles, was auf Erden durch diese Strahlen entsteht, seinem Schöpfer in Abhängigkeit verbunden. Was ist, lobt schon durch seine bloße Existenz den Schöpfer. Die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf wird bis an die Grenze der Identität geführt, wenn die geschaffenen Wesen und Dinge als ‚Verkörperungen‘ (chprw) des Aton bezeichnet werden. Die Kraft, die von Aton ausstrahlend in millionenfachen Gestaltungen auf Erden erscheint, hat man als ‚Leben‘ gedeutet“ (Carsten Knigge Salis).
In den letzten beiden Abschnitten 12 und 13 wird allmählich deutlich, worauf der Hymnus eigentlich hinausläuft. Zunächst wird wieder betont, dass der Untergang der Sonne eigentlich das Leben wegnimmt; alles ruht. Allerdings ist Aton auch dann im Herzen Echnatons, wenn die Sonne untergegangen ist. Echnaton hat teil an den Plänen und der Macht Atons. Gegen Ende hin wird immer klarer, dass Aton alles wachsen lässt und belebt – für den König, der der Sohn Atons ist.
Der Aufgehende, er läßt [alles Seiende] wachsen für den König;
Eile ist in jedem Fuß, seit du die Erde gegründet hast,
Du richtest sie auf für deinen Sohn, der aus deinem Leibe kam,
den König von Ober- und Unterägypten, der von der Wahrheit (maʿat) lebt,
den Herrn der beiden Länder (vollkommen an Gestalten ist Re, Einziger des Re)|,
den Sohn des Re, der von der Wahrheit lebt,
den Herrn der Kronen (Echnaton)| mit langer Lebenszeit
und die große Königsgemahlin (Nofretete), die er liebt, die Herrin beider Länder,
Nofretete, die lebendig und verjüngt ist für immer und ewig.
Die gesamte Schöpfung ist durch Aton auf den König (Echnaton) und die Königsgemahlin hin ausgerichtet. Der König, Echnaton, ist der Sohn Gottes, der aus dem Leib des Aton hervorkam, der der einzige Gott im Denken Echnatons ist. Die Erschaffung der Welt und ihre Erhaltung am Leben ist das Tun des Gottes Aton, und die einzigartige Brücke zwischen Aton und der Welt sind Echnaton und Nofretete.
Ausblick
Schon die zwei näher dargestellten Beispiele aus Babylonien und Ägypten zeigen die Vielfalt, wie sich Menschen die Entstehung der Welt als uranfängliche Schöpfung („Creatio prima“) sowie die Erhaltung der Welt („Creatio continua“) vorgestellt haben. Dabei wurde zum einen deutlich, dass die Existenz dieser Welt höheren Mächten, Gottheiten, zugeschrieben wird, die diese Welt in ihrem Sosein hervorgebracht haben. Zugleich stehen diese Welt und mit ihr die Menschen in dauernder Verbindung mit diesen Gottheiten, und all dies geschieht nicht zufällig, sondern geordnet, nach Plan und mit einem höheren Sinn. Dazu werden entsprechende Narrative geprägt.
Zum anderen ist auch klar geworden, dass die sinnstiftenden theologischen Narrative eng mit politischen Interessen und Botschaften verbunden sind: Mit der Erhöhung des babylonischen Stadtgottes Marduk zum Herrn des Pantheons und zum Schöpfer der Welt ist der Führungsanspruch Babylons mit imperialem Charakter verbunden. Mit der Alleinverehrung Atons und den einzigen Mittlerwesen Echnaton und Nofretete (als Triade von Gott, König, Königin) geht der Führungsanspruch Echnatons und seiner Familie einher. Schöpfungsnarrative „machen Sinn“, sie ordnen die Welt im Sinne derer, die sie erzählen, und sie führen Gottheiten ein, die als Schöpfer nicht mehr weiter hinterfragbar sind und in ihrer Autorität über allem stehen (Marduk, Aton). Die biblischen Schöpfungstexte greifen diese theologischen und politischen Fäden ebenso wie manche Motive auf und kreieren ihrerseits neue Schöpfungsnarrative.