I.
Sündig und frei – sitzt Luther auf beiden Stühlen? Ja, das würde ich in der Tat sagen und auszuführen versuchen. Beide Stühle, das heißt: Mittelalter und Neuzeit. Diese Spannung fokussiert sich in seinem Verständnis des Menschen, das auf einen der wenigen Punkte führt, an dem man im Zusammenhang mit der Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 noch eine bleibende und zu klärende Differenz festgestellt hat.
Die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre hat als das große ökumenische Ereignis 1999 festgestellt, dass dasjenige, was als Kern der reformatorischen Theologie gilt, nicht mehr trennend ist, dass gleichwohl Folgerungen daraus gezogen worden sind, schon im 16. Jahrhundert, die zur Konfessionsunterscheidung geführt haben. Es bedeutet zugleich, dass wir im Grundsatz im Bekenntnis dazu, dass unsere Rechtfertigung aus Gnade geschieht, einig sind, nur die Weise, wie sich die Gnade äußert, wie sie am Menschen wirksam wird, uns unterscheidet. Dieser Unterschied hat zu tun mit der evangelisch-lutherischen Grundüberzeugung, dass der Mensch ganz Sünder und zugleich ganz gerecht ist, dass der Mensch von Geburt her in die Sündigkeit hineingesteckt ist, ihr sich in keiner Weise entziehen kann, was sein praktisches Verhalten angeht.
Luther betont immer wieder, dass man zwar alle möglichen Verhaltensweisen ändern kann, nicht aber das Innere, das selbstsüchtig ist. Trotzdem ist der oder die Glaubende das geliebte Kind Gottes, trotzdem angenommen durch Gott und vor Gott. Das ist der Kerngehalt dieses Grundgedankens: Gerechter und Sünder zugleich. Es gibt mittlerweile seit 1999 verschiedene ökumenische Bemühungen, auch den Sinngehalt dieser Aussage ökumenisch verstehbar zu machen. Es gibt eine große Studie des ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, aber eben noch keine offizielle kirchliche Rezeption. Dabei wurzelt Luther auch mit dieser intensiven Betonung der Sündigkeit ganz offenkundig in der gemeinsamen spätmittelalterlichen Tradition. Er kommt aus einer Frömmigkeitstradition, die zunächst einmal den Menschen bei seiner Sündigkeit begreift und erfasst und dem Menschen deutlich macht: Du bist angewiesen, ganz und gar angewiesen auf Christus.
II.
Noch im großen Katechismus, den Luther 1529 verfasst hat, heißt es nach einer berühmten Formulierung: „Worauf du nun dein Herz hangest, das ist dein Gott.“ Dieser Satz bedeutet natürlich nicht, dass Gott erst in dem Moment entsteht, wenn wir glauben. Das bedeutet es nicht im großen Katechismus, das bedeutet es auch nicht hier. Aber es bedeutet, dass Gott die Wirkmacht über die Menschen zugestanden wird, indem die Menschen ihre eigene Begrenztheit anerkennen. Diesen Gedanken entfaltet Luther immer intensiver, herkommend aus dem spätmittelalterlichen Sündenbekennen, hin zu einer Sündenlehre, die dann, schon in der Römerbriefvorlesung, die er 1515/16 gehalten hat, in der Aussage gipfelt: Die Wurzelsünde, das peccatum radicale, ist die Begierde zum Bösen. Da nimmt Luther letztlich die Gedanken des Kirchenvaters Augustin auf, der von der Begierde sprach als das, was mich von Gott fernhält. Auch das ist ein Gedanke, der sich dann bei Luther zeitlebens durchhält. Es ist die Begierde, die die Sünde ausmacht. In seiner Auslegung der zehn Gebote, betont er, nach der Zählung, der er sich angeschlossen hat, das neunte und zehnte Gebot, die vom Begehren reden, und deutet von hier aus auch über die anderen: „Du sollst nicht töten“ heißt vor diesem Hintergrund nicht einfach, darauf zu verzichten, jemanden umzubringen, sondern du sollst nicht begehren, dass irgendjemand Schaden hat. Dies ist ein ganz zentraler Gedanke für Luther, aus dem auch deutlich wird, warum er von der Unausweichlichkeit der Sünde ausgeht.
Wenn ich sage: „Du sollt nicht töten“, heißt das: Ich darf niemanden umbringen. Nun gehe ich ganz optimistisch davon aus, dass die allermeisten von uns sagen können: Das Gebot habe ich gehalten. Wenn aber „Du sollst nicht töten“ heißt: Du sollst niemandem etwas Schlimmes wünschen, Du sollst nicht mal schadenfroh sein, wenn jemand, der dich die ganze Zeit geärgert hat, stolpert und sich am Fuß weh tut, dann würde unter Umständen die Menge derer, die sagen können, dieses Gebot erfüllt zu haben, etwas schrumpfen. Also ich zumindest wäre nicht mehr dabei. Das ist das, was Luther durch diesen Gedanken auszudrücken versucht, den er von Augustin aufnimmt: Begierde ist schon im eigentlichen Sinne Sünde. Damit wird die Sünde zur Wurzelsünde, von der alles ausgeht. Das ist der eigentlich viel schönere Begriff, den Luther für das gebraucht, was traditionell als Erbsünde bezeichnet wird oder eben als Ursünde. Die Wurzelsünde ist das, woher jedes einzelne Vergehen entsteht.
Wenn wir aber demnach gar nicht aus der Sünde herauskommen, dann ergibt sich mit einer gewissen Notwendigkeit schon der Gedanke des Gerechten und Sünders zugleich, dann sind Menschen in sich selbst und in Wahrheit ungerecht. Da Gott sie aber als gerecht anerkennt, sind sie im Blick auf den Gott, der sie anerkennt, gerecht. So ist eigentlich die grammatikalische Konstruktion zu verstehen: Im Blick auf Gott, der uns Sünder anerkennt, sind wir Gerechte. Wir sind in Wahrheit Sünder, aber in der Anerkenntnis durch den sich erbarmenden Gott, sind wir gerecht, unwissend gerecht und wissend ungerecht. Sünder in der Tat, Gerechte aber in der Hoffnung. Das ist der Kern des verbleibenden Restes, der 1999 in der gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre nicht geklärt werden konnte.
III.
Der Umstand, dass der Mensch Sünder ist und bleibt und nur durch die Anerkennung Gottes gerecht wird, ist auch Motivation gewesen, zu sagen: Letztlich ist der Mensch aus sich heraus nicht in der Lage, irgendetwas Gutes zu tun. So bewegt sich Luther auch in seiner Zeit, bewegen sich sozusagen die reformatorischen Taten oder die reformatorischen Äußerungen im Rahmen der spätmittelalterlichen Bußfrömmigkeit. Ganz charakteristisch ist Luthers eigene Auslegung der sieben Bußpsalmen aus dem Frühjahr 1517. Wie selbstverständlich Luther sich im Frühjahr 1517 in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit bewegt, merkt man schon an der Veröffentlichungszeit dieses Textes: Luther veröffentlicht sie in der Fastenzeit. Die Fastenzeit ist die klassische Zeit, in der in den Orden und nach Möglichkeit auch unter den Laien die sieben Bußpsalmen täglich gebetet werden – eingedenk dessen, dass man Teil hat an der Sündengeschichte des Alten und des Neuen Testamentes. Diese sieben Bußpsalmen und ihre liturgische Verwendung sind ein intensiver Ausdruck der Zusammengehörigkeit des alten und des neuen Bundes, in der Stellung vor Gott. Genau so versteht Luther diese sieben Bußpsalmen auch, vor dem Hintergrund seiner frühen akademischen Bemühungen.
Schon allein dadurch, dass er seine akademischen Kenntnisse überhaupt an die Öffentlichkeit gebracht hat, hat Luther ein eigenes Profil gewonnen. Und zu diesen akademischen Erkenntnissen gehörte auch: Wenn nun der Mensch so untergeht und zunichte wird, dass nur mehr ein elender, verdammter, verlassener Sünder da ist, kommt die göttliche Hilfe und Stärke. Wie, so Luther, bei Hiob. Auf die Anerkenntnis unseres Elends reagiert Gott und stärkt uns und hilft uns. Das ist mit dem Sünder- und Gerechtsein zugleich gemeint: dass die gesamte Verfügung über das Heil des Menschen nur von außen kommt.
IV.
Zu den im 16. Jahrhundert und bis heute strittigsten Aussagen Luthers gehört auch seine Bestreitung des freien Willens, die sich sehr früh durchsetzt, schon im April 1518 in der Heidelberger Disputation. Eine der Thesen, die er hier zur Disputation vorlegte, lautet: „Der freie Wille ist nach der Sünde eine Sache allein dem Namen nach“, und wer nur aus menschlichen, natürlichen Kräften heraus handelt, ist in der Sünde gefangen. Dieser sündentheologische Kontext führt dazu, zu sagen: Einen freien Willen gibt es nicht.
Schon hier ist deutlich, wie umfassend und zugleich eingeschränkt das gemeint ist. Umfassend heißt: Es gilt tatsächlich für jeden Menschen und in jeder Situation, auch für den Getauften, auch für den Gerechtfertigten. Einen freien Willen im Sinne des Entscheidens, mich nach Gott oder gegen ihn auszurichten, gibt es nicht. Da es hier aber um die Sünde geht, ist es zugleich nur diese Frage der Stellung zu Gott, die von der Bestreitung des freien Willens betroffen ist. Luther will mit dieser Lehre nicht eine allgemeine Lehre über die Möglichkeiten des menschlichen Willens verfassen, etwa: Ob ich morgens eine Tasse Kaffee trinke oder nicht. Diese Art von Entscheidungen sind für ihn ausdrücklich Entscheidungen, die unterhalb der Ebene dessen sind, um die es bei der Frage nach dem freien Willen geht. Die Bestreitung des freien Willens betrifft allein das Heil. Wie man dann genau die Grenze zieht, ist natürlich eine heikle empirische und philosophische Frage. Aber intendiert ist, dass es um das Heil geht, wie es Luther dann auch in seinem berühmten Streit mit dem Gelehrten Erasmus von Rotterdam verfochten hat, als er sagte: „So ist der menschliche Wille in die Mitte gesetzt, wie ein Zugpferd; wenn Gott drauf sitzt, will es und geht es, wohin Gott will – wie der Psalm sagt: Ich bin zu einem Zugpferd gemacht worden; wenn der Satan drauf sitzt, will und geht es dorthin, wohin der Satan will; es ist entweder vom Teufel oder von Gott, nicht aber dem eigenen, freien Willen geritten.“ Auch das ist wieder ein extrem hartes Bild, das ich so noch nicht auf der Kanzel verwendet habe – damit hätte ich tatsächlich auch Schwierigkeiten. Theologisch ist damit genau das gemeint, was Luther von früh an sagte: Es gibt keinen freien Willen und es gibt keinen freien Willen deswegen, weil der Mensch keine eigene Fähigkeit zu seinem Heil hat.
Letztlich heißt die Bestreitung des freien Willens: Uns gilt das große Gnadengeschenk und die große Gnadenzusage Gottes. Das ist es, worauf Luther zielt. Deswegen hat er die mit der Bestreitung des freien Willens zusammenhängenden spekulativen Fragen der Prädestination im Laufe der Jahre nicht sehr prominent in den Vordergrund gestellt. Sie waren eine Art Stützargument in der Auseinandersetzung mit Erasmus, die im Übrigen nicht nur an inhaltlichen Fragen gescheitert ist, sondern auch an Stilfragen. Erasmus konnte sehr gut damit leben, dass beispielsweise der Zürcher Reformator Zwingli den freien Willen bestritten hat. Die Freundschaft hat darunter nicht gelitten, aber dass Luther erstens den freien Willen bestritten hat und zweitens am Ende seines Textes schrieb: „Das sage ich nun nicht als Meinung, sondern das ist eine Wahrheit, der du zu folgen hast.“, erst diese extreme Wahrheitsbehauptung Luthers hat ihre Freundschaft ruiniert.
V.
Der Sache nach geht es uns um das Menschenbild, denn der Mensch ist in die Mitte gesetzt. Das ist das, was Lukas Cranach in den Prager Bildtypus von Gnade und Gesetz gebracht hat. Es gibt noch einen anderen, den Gothaer Typus, auf dem der Mensch zwei Mal dargestellt ist. Aber auf dem Prager Typus haben wir den Menschen in die Mitte gesetzt zwischen Gesetz und Gnade: das Gesetz, das in den Tod führt, wenn ich ihm allein folgen will und auf meine eigenen Kräfte vertraue; das Evangelium, das mich hinführt zu der Auferstehung Christi, das mich hinführt zum ewigen Leben. Ausdrücklich sieht man auf Cranachs Bild auch, dass es um die Unterscheidung zwischen Gesetz und Gnade geht, also um die Unterscheidung zwischen eigener Leistung, so Luthers Perspektive, und dem Geschenk Gottes. Dabei geht es nicht um die Alternative Altes oder Neues Testament. Mose und Christus weisen gemeinsam auf das Evangelium hin. Luther hatte Zeit seines Lebens die Überzeugung, dass auch das Alte Testament das Evangelium enthält.
Zu dieser Spannung von „Sünder“ und „gerecht“ kommt nun die Spannung zwischen „befreit“ und „Knecht“. Und auch hier kommt Luther aus der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, insbesondere verbürgt in dem 1516 veröffentlichten Büchlein, dem Luther erst zwei Jahre später den Titel „Theologia Deutsch“ gegeben hat und das auch als „Der Frankfurter“ bezeichnet wird. Als Luther dieses Werk das erste Mal herausgibt, ahnt er schon, dieser Text ist ein mystischer Text aus dem 14. Jahrhundert, von dem er sagen kann, er sei ihm so wichtig und so lieb wie Augustin und wie die Bibel. Darin versucht der Autor die Stellung des Menschen vor Gott zu verstehen – durch die Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Menschen. Entscheidend ist, wie der innere Mensch vor Gott steht als einer, der nicht durch sein äußeres Tun irgendetwas erlangen kann. Dieser Autor, wir sind nicht bei Luther, wir sind beim Autor des 14. Jahrhunderts, erklärt, dass wir durch nichts, was wir tun, Gott nahe kommen können, sondern nur durch die Einigung, die Vereinigung, die unio mystica, die nicht der Mensch produziert, sondern die Gott schafft. Von dem Menschen, der zu dieser Einigung gekommen ist, heißt es dann: „Auch stehen diese Menschen in einer Freiheit, sodass sie verloren haben Furcht der Pein“, also Furcht vor der Strafe oder Hölle, und sie haben auch die Hoffnung auf Lohn oder das Himmelreich verloren. Diese Menschen stehen da von Gott getragen, ohne jeden Willen, ohne jedes Bestreben, allein von Gott geleitet. Das ist die Lehre dieses Autors des 14. Jahrhunderts und es ist für ihn Freiheit, dass wir nicht mehr streben, durch eigenes Tun irgendetwas zu erlangen, sei es die Strafe zu vermeiden oder den Lohn für das Himmelreich zu bekommen.
Diese Überlegungen aus dem 14. Jahrhundert haben Luther offenbar zutiefst geprägt. Das merkt man nicht nur daran, dass er 1516 und dann nochmal 1518 den Text herausgebracht hat, sondern wir merken es auch seinem wahrscheinlich berühmtesten Text an, der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Darin geht Luther von einer Doppelthese aus, die er mit Paulus begründet: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Damit meint Luther, dass ein Christ oder eine Christin frei ist von allem Zwang, irgendetwas zu seiner Erlösung zu tun. Das ist genau die Freiheit, die die „Theologia Deutsch“ vertreten hat: Ich muss keine Werke tun, Gott verlangt nichts von mir. Gott braucht das auch gar nicht, dass wir irgendetwas tun. Warum sollte es Gott auch in irgendeiner Weise scheren, dass wir irgendetwas Gutes tun? Es ist doch angesichts des großen Gottes immer nur klein und marginal, was wir machen können.
Im zweiten Teil seines Traktates sagt Luther dann: Gerade deswegen, weil wir von Gott erfahren, dass Gott nichts von uns verlangt, geben wir diese Liebe Gottes weiter, deswegen machen wir uns zu Knechten anderer. Die Liebe und die Zuwendung ist der Ausgangspunkt dessen, was wir als Menschen überhaupt sein können und daraus gestaltet sich dann auch frei ein neues Verhältnis zu den anderen Menschen. Wie stark Luther hier von der „Theologia Deutsch“ geprägt ist, merkt man auch in diesem Gedanken der Freiheit, den er in der „Theologia Deutsch“ gelesen hatte. Das, was uns nach der „Theologia Deutsch“ frei macht, ist die mystische Einigung mit Christus. Sie schildert Luther nun in den Farben der Brautmystik, wie sie seit dem zwölften Jahrhundert von Bernhard von Clairvaux in die christliche Tradition eingebracht worden ist: „Nicht allein gibt der Glaube so viel, dass die Seele dem göttlichen Wort gleich wird, aller Gnaden voll, frei und selig, sondern vereinigt auch die Seele mit Christus wie eine Braut mit ihrem Bräutigam, aus welcher die Ehe folgt, wie Paulus sagt“.
VI.
Bleibt noch die Frage nach der Modernität Luthers. Auch die gibt es und auch die liegt in Luthers Anthropologie. Und sie liegt genau in den Zügen, die für uns manchmal schwierig sind. hier geht es um das, was wir als Luthers Zwei-Reiche- oder Zwei-Regimentenlehre kennen. „Hier müssen wir Adams Kinder und alle Menschen in zwei Teile teilen: die ersten zum Reich Gottes, die anderen zum Reich der Welt. Die, die zum Reich Gottes gehören, sind alle Rechtgläubige in Christus und unter Christus. Zum Reich der Welt oder unter das Gesetz gehören alle, die nicht Christen sind.“ – und mit Nicht-Christen sind auch die getauften Christen gemeint, die nicht im Glauben an Christus leben. Streng genommen kann man sich fragen, ob Luther hier eigentlich ganz bei seiner Theologie geblieben ist. Er teilt das, was er vorher in einem Menschen immer gemeinsam vorfindet, Sünder und Gerechter, plötzlich in zwei Gruppierungen ein. Das ist ein Denkexperiment, mit dem Luther den Gedanken abzuwehren versucht, dass man die Geschicke der Welt allein mit dem Evangelium lenken könnte. Das ginge doch nur, wenn alle Menschen glauben würden und dem Evangelium folgen würden.
Aber so ist es nicht und in diesem Kontext greift Luther Überlegungen von Augustinus zur Einteilung der Welt in zwei Bürgerschaften, zwei civitates, auf, spricht von diesen beiden Reichen und will im Grunde sagen: Soviel auch immer wir glauben, es gibt in unserer Welt auch welche, die offenkundig sündig sind, die offenkundig weiter nur ihren Vorteil suchen, und diese können wir nicht mit dem Evangelium regieren, denn wenn diese Menschen frei gelassen werden, dann würden sie wie die wilden Tiere übereinander herfallen, dann würden sie sich zerreißen, dann wären sie nicht mehr kontrollierbar. Das ist für ihn der Ausgangspunkt, um zu erklären, wie in seinen Augen diese Welt zu regieren ist, in der das Reich der Welt und das Reich Gottes ineinander liegen. Damit all dies ordentlich zugeht, auch dort, wo das Reich der Welt präsent ist und dennoch Menschen auch zu Gott gerufen werden, hat Gott zwei Regierweisen, zwei Regimente, eingerichtet: das weltliche Regiment und das geistliche Regiment. Weil „Reich Gottes“ und „Reich Welt“ ununterschieden ineinander liegen, müssen die Menschen durch äußere Ordnung kontrolliert werden. Dies geschieht durch die weltliche Obrigkeit. Sie benutzt hierzu das Gesetz im sog. politischen Gebrauch. Luther sagt sogar, der erste Gebrauch des Gesetzes, und zwar auch des alttestamentlichen Gesetzes und der zehn Gebote, ist der politische Gebrauch. Das Gebot: „Du sollst nicht töten“ heißt zunächst und in erster Linie: Die Obrigkeit sorgt dafür, dass niemand den anderen einfach tötet. Die Obrigkeit hat die Aufgabe, dieses Tötungsverbot durchzusetzen.
Vielleicht merkt man da schon, in welche Richtung die Modernität geht. Luther wendet sich damit gegen das spätmittelalterliche Fehderecht, in dem man das Recht in die eigene Hand nehmen kann, und sagt dagegen: Das ist Sache der Obrigkeit. Dieser Gedanke ist eine Vorandeutung des Gewaltmonopols der Obrigkeit. Es ist die Obrigkeit, die Gesetze durchzusetzen hat. Also genau die Frage, wie man politische Macht durchsetzen kann, versucht Luther, mit dem Begriff „weltliches Regiment“ deutlich zu machen. Dieses setzt Gottes Willen durch, auch dort, wo die Menschen Gottes Willen nicht folgen wollen, weil sie Sünder sind. Dem Menschen seine Sündigkeit zu zeigen, wie wir es im ersten Abschnitt dieses Vortrags behandelt haben, das ist die Aufgabe des geistlichen Regiments. Es ist die Aufgabe der Predigt im theologischen Gebrauch, das Gesetz so predigen, dass ich meine Sündigkeit erkenne; und zwar allen zu predigen. Der Pfarrer, und heute können wir auch sagen die Pfarrerin, weiß nicht, ob die Menschen, die da in der Gemeinde sitzen, alle schon gläubig sind. Ihre Aufgabe ist zunächst einmal der Aufweis der Sündigkeit durch den theologischen Gebrauch des Gesetzes. Und hinzu tritt für die, die glauben, die Verheißung des Evangeliums.
Das weltliche Regiment hingegen sorgt mithilfe des Gesetzes im politischen Gebrauch für Ruhe und Ordnung. Das geistliche Regiment bereitet mit Predigt des Gesetzes im theologischen Gebrauch und Predigt des Evangeliums den Weg für die Erlösung. Da spiegelt sich die Spannung von „Sünder“ und „gerecht“ wieder. Das geistliche Regiment sagt: Tatsächlich bist du, wie Luther es in der Auslegung des Römerbriefs gesagt hat, Sünder. Der Hoffnung nach aber bist du gerecht: das Evangelium.
Wenn man in dieser Grundstruktur die weltliche, obrigkeitliche Seite sieht, kommen wir sehr nah an die Entwicklung des modernen Staatsrechts. Im „Leviathan“ kann man zeigen, dass Thomas Hobbes Gedanken Luthers in seine Entwicklung des Staatsrechtes einarbeitet, indem er den Gedanken aufnimmt, dass der Mensch dem Menschen grundsätzlich ein Wolf ist. Da haben wir das reißende Tier, das uns auch bei Luther begegnet. Und weil der Mensch eigentlich ein reißender Wolf ist, der den anderen vernichten will, braucht man einen „starken Staat“, wie man heute wohl sagen würde.
Der Gedanke also, dass der Mensch nicht von sich aus gut ist, sondern dass der Staat zunächst einmal da ist, den Menschen auch vor anderen Menschen zu schützen, geht ein in die moderne Staatstheorie und im Grunde auch in die Grundstruktur unseres Grundgesetzes, das ja sehr bewusst so aufgebaut ist, dass zunächst die Sicherung von Grundrechten als den Staat verpflichtende Maßnahme deutlich gemacht wird, dass etwa die Unversehrtheit meines Leibes gesichert wird durch den Staat, weil ich damit rechnen muss, dass viele Menschen meinen Leib nicht unversehrt lassen wollen. Das ist ein Ausdruck dessen, dass unser Staatswesen von dem von Luther entwickelten skeptischen Gedanken ausgeht, dass der Mensch zunächst einmal das Üble für den anderen Menschen will.
Da sind wir bei einem Luther, der eingeht in eine moderne Entwicklung, allerdings mit dem deutlichen und doch markanten Unterschied, den wir als Rest noch im Vorspann unseres Grundgesetzes haben, mit der berühmten Verantwortung vor Gott und dem Menschen. Für Luther stehen weltliches und geistliches Regiment immer im Auftrag Gottes. Er ist derjenige, der die Obrigkeit beauftragt hat, der Sünde zu wehren. Er ist derjenige, der die Predigt letztlich inspiriert. Das ist ein Gedanke, der bei Hobbes so schon nicht mehr erscheint und der natürlich in die moderne Staatstheorie nicht eingegangen ist, so dass selbst diese Staatstheorie Luthers, die viele Folgen für die Moderne hat, auch zwischen Mittelalter und Neuzeit steht, so wie der Mensch zwischen Gesetz und Gnade.