Michael Kardinal von Faulhaber begann zwischen 1923 und 1940 jedes seiner Tagebücher mit einer geistigen Jahreslosung. Oft zitierte er Psalmen oder andere liturgische Texte, die ihm theologisch sinnstiftend für das vor ihm liegende Jahr erschienen. Beim Tagebuchjahrgang 1938 verhält es sich anders. An dessen Beginn findet sich kein Zitat aus den biblischen Texten, sondern eine persönliche Sentenz Faulhabers. Dort steht: „Vor meinen Augen liegt das Jahr schwarz wie die Nacht und grausig wie das Höllental“. Faulhaber hatte also vermutlich eine Vorahnung, was ihn in den Tagen des Jahres 1938 erwarten würde, blickte er doch auf ein Jahr zurück, in dem der NS-Staat den Kampf gegen die katholische Kirche abermals forciert hatte. Sein Besuch auf dem Obersalzberg im November 1936 schien keine Wirkung entfaltet zu haben. So entwarf er im Auftrag des Vatikans einen Text, aus dem die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“ hervorging, die am 21. März 1937 von den Kanzeln des Deutschen Reichs verlesen wurde. Faulhaber hätte die Verlesung der Enzyklika vermutlich gerne vermieden. Er gab sich weiterhin davon überzeugt, dass Hitler „gutgläubig“ sei und „keine Vernichtung der Kirche“ wolle. Doch Hitlers Staat verschärfte den Kampf gegen den Katholizismus, schuf die Bekenntnisschulen ab und attackierte die Ordensschulen. Die Nationalsozialisten schränkten die Verbreitung bischöflicher Verlautbarungen ein, erließen Kanzelverbote und verhafteten offen regimekritische Priester wie den Jesuitenpater Rupert Mayer. Am 27. Februar 1937 vertraute ein erschöpfter Faulhaber seinem Tagebuch an: „Ein Tag trauriger als der andere. Jeden Tag eine neue Verordnung. – Der Gemeinschaftsschule entgegen, dem Abfall von der Kirche entgegen, Geistliche und Laien werden zermürbt. Jeder Tag neue Eingabe von Breslau, die Artikel im Schwarzen Korps fordern eine Antwort heraus und dabei der Kopf so schwer und man sieht, es ist alles umsonst.“
Nichts deutete am 1. Januar 1938 darauf hin, dass dieses neue Jahr leichter für den mittlerweile 68-jährigen Erzbischof werden würde; aber, dass die vor ihm liegenden Ereignisse Erinnerungen an die traumatische Revolutionszeit der Jahre 1918/19 wecken würden, hatte er vermutlich nicht gedacht.
Bereits am 2. Januar erreichte ihn die erste Hiobsbotschaft: „Direktor von Scheyern: ‚Mit einer traurigen Nachricht‘ (ich: Das Jahr geht gut an): Auf Silvester Nachricht, daß Scheyern abgebaut wird. Er war beim Weihbischof. Was tun: Die eigentliche Eingabe vom Ordinariat aus, er selber auch für das Kloster. Wesentlich ist, wer Leiter wird. Stufenweise Abbau wie bei den Jesuiten, Berlin. Dann höre ich, daß auch weibliche Höhere Lehranstalten.“
Das Gymnasium Scheyern war nicht die einzige Schule, die auf Anweisung des Kultusministeriums geschlossen werden sollte. Insgesamt 82 klösterliche höhere Schulen sollten auf Anordnung von Gauleiter und Kultusminister Adolf Wagner aufgehoben werden, wogegen Faulhaber am 16. Februar protestierte. Die Anweisung des Kultusministeriums verstoße nicht nur gegen geltendes Gesetz, sondern auch gegen die Regelungen des bayerischen Konkordats von 1924, dessen Weitergeltung das Reichskonkordat von 1933 garantierte. Wie bei den Bekenntnisschulen lenkte das NS-Regime nicht ein. Mit dem Schuljahr 1939/40 wurde das Gymnasium Scheyern aufgehoben. Im Oktober 1938 wandelte das Kultusministerium die letzten Bekenntnisschulen in Gemeinschaftsschulen um.
Nicht nur dem katholischen Schulwesen hatte der NS-Staat den Kampf angesagt. Auch das Verbandswesen hatte unter immer größeren Repressalien zu leiden. Am 20. Januar 1938 verbot die Geheime Staatspolizei in allen bayerischen Diözesen den Katholischen Jungmännerverband, die Marianische Jungfrauenkongregation sowie den Bund Neudeutschland und beschlagnahmte ihr Vermögen. Die Gestapo begründete ihr Vorgehen mit der sogenannten Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933, die zur „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ erlassen worden war und den Machthabern als Grundlage zur Terrorisierung politischer und weltanschaulicher Gegner jeglicher Couleur diente.
Faulhaber verfasste daraufhin ein Hirtenwort, das am 6. Februar bei allen Gottesdiensten in der Erzdiözese zu verlesen war. Er konstatierte, dass „Schmerz und Trauer, oft genug wohl auch heiliger Zorn und gerechte Entrüstung […] weite Volkskreise“ erfüllt habe, die „in gleicher Weise der staatlichen wie religiös-kirchlichen Volksgemeinschaft“ ergeben sind. Faulhaber versuchte also, die ebenbürtige Loyalität des katholischen Volksteils zum Staat wie zur Kirche zu betonen, verkannte damit allerdings, dass das Volksgemeinschaftskonzept der Nationalsozialisten keine weitere, „religiös-kirchliche“ Volksgemeinschaft vorsah. Es sollte nur eine Volksgemeinschaft geben, in deren ideologischem Fundament zwar religiöse Elemente inkludiert sein konnten, der Katholizismus als Ganzes jedoch – auch praktisch – exkludiert werden sollte.
Kampflos wollte Faulhaber dennoch nicht aufgeben und erklärte die Verbände kurzerhand für nicht aufgelöst, da diese nach Regelung des Reichskonkordates allein der kirchlichen Behörde unterstellt seien. Praktisch änderte diese konfrontative Haltung freilich nichts. Faulhaber selbst war sich dessen vermutlich bewusst, befürchtete aber dennoch Repressalien des Regimes. Am 6. Februar notierte er in seinem Tagebuch: „Heute in der Nacht 2.00 Uhr rattern zwei Auto vor meiner Türe und lautes Sprechen – der erste Gedanke: sie suchen das Hirtenwort, das heute verlesen werden soll und das ich persönlich als verantwortlich gezeichnet hatte.“
Es war indes nicht der Hirtenbrief, sondern seine sieben Tage später gehaltene Papstpredigt anlässlich des Krönungstags von Pius XI., welche die Machthaber verärgerte. Faulhaber sah sich in der Predigt hauptsächlich dazu gezwungen, der NS-Propaganda entgegenzutreten, derzufolge Pius XI. einen Pakt mit dem Bolschewismus anstrebte. Faulhaber wies diesen Vorwurf vehement zurück, betonte die antikommunistische Haltung des Papstes und erinnerte an dessen Weihnachtsansprache von 1937, in der dieser von einer „religiösen Verfolgung“ gesprochen hatte, die hier in Deutschland im Gange sei.
Faulhaber führte dazu aus: „Wie überall gibt der Heilige Vater auch hier den Dingen den rechten Namen, um das Weiße weiß und das Schwarze schwarz zu nennen. Die Frage, ob es eine Verfolgung der Religion in Deutschland gebe, muß wohl in erster Linie von den Verfolgten beantwortet werden, die das am eigenen Leben spüren, nicht von den Verfolgern. Man sagt, es werden bei uns keine Kirchen niedergebrannt oder profaniert. Wenn in Bayern auf einmal 82 höhere Ordensschulen mit oder ohne Galgenfrist aufgehoben werden mit 15 000 Kindern, dann ist das für das religiöse Leben ein schwererer Schlag, als wenn ein paar Kirchen niedergebrannt würden […] Dem Heiligen Vater und den deutschen Bischöfen will man das Recht nicht zuerkennen, zu urteilen, wo der religiöse Katholizismus aufhöre und der politische anfange. Die Gesetze der sittlichen Ordnung, der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, der Liebe und der Treue verkünden, ist religiöser, nicht politischer Katholizismus. […] Es ist ein Irrwahn zu glauben, das deutsche Volk könne seine Zukunft ohne das Christentum aufbauen, nachdem es in seiner tausendjährigen Vergangenheit mit tausend Wurzeln mit dem Christentum verbunden war. Ich habe das Vertrauen, das deutsche Volk ist geistig zu klar, als daß es sich statt des Evangeliums Christi einen Mythus, statt des lebendigen Brotes einen Stein reichen lasse.“
Damit hatte Faulhaber sowohl die Repressionen gegen die katholische Kirche scharf kritisiert als auch den Versuch von Teilen des NS-Regimes, ein politisch-religiöses Glaubenskonzept in Form von Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ zu etablieren. Nicht ohne Grund notierte daraufhin Joseph Goebbels in sein Tagebuch: „Cardinal Faulhaber hat wieder mal eine freche Rede gegen uns gehalten. Aber unsere Rache wird nicht lange auf sich warten lassen.“ Neun Monate später sollte sich das mit dem sogenannten Sturm auf den Bischofshof im Rahmen der Novemberpogrome bewahrheiten.
Was Faulhaber möglicherweise zu erwarten hatte, konnte er in Österreich beobachten. Dort waren am 12. März 1938 deutsche Soldaten einmarschiert, um den sogenannten Anschluss nötigenfalls mit offener Gewalt zu vollziehen. Faulhaber notierte dazu: „Samstag, 12.3.38. 5.00 Uhr höre ich im Radio, in Oesterreich eine neue Regierung: Schuschnigg sei gestern Abend zurückgetreten, Seyß-Inquart bildet eine neue Regierung. 2.00 Uhr. Bittet um den Einmarsch deutscher Truppen. Ein geschichtlicher Tag. Diesen Morgen marschieren Truppen aller Formation in Österreich ein. Der Führer Nachmittag in Braunau, Linz. Über den Empfang dort sehr viel im Radio.“
Faulhaber dürfte angesichts der großdeutschen Tradition des deutschen Katholizismus dem „Anschluss“ grundsätzlich positiv gegenübergestanden haben. Österreich fungierte nun allerdings nicht mehr als Schutzmacht der katholischen Kirche, sondern entwickelte sich unter den neuen Machthabern zum Aggressor: Um 4 Uhr morgens wurden die Scheiben des erzbischöflichen Palais in Salzburg eingeschlagen und Erzbischof Waitz für mehrere Tage darin gefangen gehalten. SA-Männer verhafteten Fürstbischof Pawlikowski in Graz und inhaftierten ihn für 24 Stunden. Trotz der Repressalien gegen seine Bischofskollegen traf sich am 14. März der Wiener Erzbischof, Kardinal Theodor Innitzer, mit Adolf Hitler in Wien.
Der Kardinal sicherte Hitler dabei die Bereitschaft der Katholiken zu, „loyal zum neuen Staate zu stehen“. Hitler antwortete darauf, dass die Kirche dies sicher nicht bereuen würde, denn wenn „sich hier in Österreich eine gute Zusammenarbeit ergebe, was in Deutschland leider nicht gelungen sei, dann könne dieser religiöse Frühling sich auf das Altreich auswirken, wo die Fronten bedauernswerter Weise festgefahren“ seien. Innitzer, der trotz des Kirchenkampfs in Deutschland versuchte, eine Brücke zu den neuen Machthabern zu bauen, wollte den Inhalt der Unterredung mit Hitler sogleich publik machen. Gauleiter Joseph Bürckel hielt ihn jedoch zurück und forderte eine gemeinsame Loyalitätserklärung der österreichischen Bischöfe, in der sie die Bevölkerung zudem aufrufen sollten, bei der Volksabstimmung am 10. April für den „Anschluss“ zu stimmen.
Die Bischöfe formulierten nun keinen eigenen Text, sondern übernahmen den Entwurf Bürckels, den sie am 18. März sofort unterzeichnen und zwei Tage später verlesen sollten. Einen Gegenentwurf von Erzbischof Waitz lehnten die Bischöfe ab. So stand am Ende ein Text, in dem die Bischöfe aus „innerster Überzeugung und mit freiem Willen“ freudig anerkannten, „dass die nationalsozialistische Bewegung auf dem Gebiet des völkischen und wirtschaftlichen Aufbaues sowie der Sozial-Politik für das Deutsche Reich und Volk und namentlich für die ärmsten Schichten des Volkes Hervorragendes geleistet hat und leistet“ sowie den „alles zerstörenden gottlosen Bolschewismus abgewehrt“ habe. Die Bischöfe würden „dieses Wirken für die Zukunft mit ihren besten Segenswünschen“ begleiten und sahen es als „selbstverständlich nationale Pflicht“ an, „uns als Deutsche zum Deutschen Reich zu bekennen“, was sie auch „von allen gläubigen Christen“ erwarteten.
Damit waren die Oberhirten zwar nicht glücklich, letztlich glaubten sie aber, dass es besser sei, dem NS-Regime in „unwichtigen Sachen entgegenzukommen, um Größeres zu erwirken“, wie es Erzbischof Waitz formulierte. In einem Begleitschreiben zur feierlichen Erklärung unterschrieb Kardinal Innitzer auf Wunsch Bürckels sogar noch mit der Grußformel „Heil Hitler!“. Die Bischöfe dachten, die Erklärung würde lediglich von ihnen verlesen werden und danach in den Akten verschwinden. Sie staunten daher nicht schlecht, als am 28. März im ganzen Deutschen Reich die Erklärung der Bischöfe samt Unterschrift plakatiert war – eine Aktion, für die Joseph Goebbels verantwortlich zeichnete.
Faulhaber war – wie der Vatikan – entsetzt darüber, was in Österreich vor sich ging. Pius XI. war bereit, bei einer Audienz Innitzers am 6. April dessen sofortigen Rücktritt anzunehmen. Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli soll von der „beschämendsten Episode der Kirchengeschichte“ gesprochen haben. In einem Brief an seine bayerischen Bischofskollegen vom 30. März konnte Faulhaber seine Empörung nicht mehr zurückhalten. Es sei der „Grundfehler“ gewesen, überhaupt eine Erklärung Bürckels entgegenzunehmen. Die Bischöfe seien naiv gewesen, Bürckel zu vertrauen, der als „Reichsstatthalter für die Rückgliederung des Saargebiets“ bereits dort die Kirche bekämpft habe. Nicht nur, dass nun auch an die deutschen Bischöfe die Aufforderung erging, eine ähnliche Erklärung zu unterzeichnen, verärgerte ihn. Er erkannte auch, dass sich seine österreichischen Bischofskollegen in gewisser Weise ihr eigenes Grab geschaufelt hatten, weil sie als Gegenleistung für die Erklärung die Anerkennung des österreichischen Konkordats von 1933 nicht einmal angesprochen hatten.
So entwickelte sich Österreich im Jahr 1938 nicht nur zum Laboratorium für antijüdische Maßnahmen, die „krasser“, „sadistischer“ und „besser organisiert“ waren als im „Altreich“, wie Saul Friedländer schrieb, sondern auch zum Experimentierfeld für eine radikale antikirchliche Politik. Hitler lehnte – wie Faulhaber es vorausgesehen hatte – den Weiterbestand des österreichischen Konkordats durch den Beitritt zum Deutschen Reich ab und erklärte völkerrechtswidrig, man habe das deutsche Konkordat für die österreichischen Gebiete als „nicht existent“ zu betrachten. Damit waren die österreichischen Gebiete zum „konkordatsfreien“ Raum geworden. 26 große Stifter und Klöster sowie weitere 188 Männer- und Frauenklöster löste das NS-Regime auf.
Über 1.400 katholische Schulen sowie die theologischen Fakultäten in Salzburg und Innsbruck wurden geschlossen, über 6.000 Vereine verboten, die Kirchenzeitungen eingestellt sowie kirchliches Vermögen beschlagnahmt. Bis 1945 wurden 300 Priester „gauverwiesen“, 724 inhaftiert und 110 in Konzentrationslager verbracht, wovon 35 ermordet wurden. Der österreichische Fall zeigt somit nebenbei, wie das Reichskonkordat, bei aller berechtigter Kritik daran und allen Rechtsbrüchen des NS-Staates, den Bestand der katholischen Kirche im „Altreich“ schützte und zumindest letzte Freiräume erhielt.
Im Oktober 1938 kam es dann zu einem Gewaltausbruch in Wien. Nachdem sich am 7. Oktober etwa 6.000 Jugendliche im Dom versammelt hatten, zogen sie auf den Stephansplatz und riefen Parolen wie „Wir wollen unseren Bischof sehen“, „Ein Volk, ein Reich, ein Bischof“, worauf sich Innitzer am Fensterbrett zeigte. Zum letzten Mal hatten katholische Jugendliche „den Nationalsozialisten noch einmal für eine knappe Stunde das Straßenmonopol entrissen [und] sie verhöhnt“, wie der österreichische Kirchenhistoriker Rupert Klieber schrieb. Am nächsten Tag folgte die Rache der Nationalsozialisten: Mitglieder der Hitlerjugend bewarfen das Erzbischöfliche Palais mit Steinen, brachen das Tor auf, stürmten das Gebäude und verwüsteten es.
Das gleiche Schicksal ereilte Faulhaber am Abend des 11. November. Infolge der zwei Tage zuvor begonnen Pogrome gegen die jüdischen Bürgerinnen und Bürger des Reichs richtete sich der Zorn nun auch gegen Faulhaber, der nicht wenigen Nationalsozialisten als „Judenkardinal“ galt. Faulhaber hielt in einem Beiblatt detailliert fest, was an jenem Abend nach einer Reihe von Demonstrationen geschah, die sich „gegen das Weltjudentum und seine schwarzen und roten Bundesgenossen“ gerichtet hatten.
Faulhaber schrieb: „Eine ungeheure Aufregung weht durch die Stadt. ‚Endlich geht’s auf‘, strahlte es von den Gesichtern der einen, bange Sorge von den Gesichtern der anderen. Das Ordinariat richtet ein Schreiben an drei Stellen: Gestapo, Wagner, Epp und dränge … Mit dem Abendessen geht es schnell. Rosenkranz verspätet erst nach 20.30 Uhr. Wir gehen noch eine Viertelstunde auf und ab, probieren die Türschlösser im Kohlenlager. Ich suche meine Hausgenossen zu beruhigen: Goebbels hat ja abgeblasen, in Wien hat man es nachher bereut. Diesmal würde es nicht um 4.00 Uhr in der Früh sein wie bei den Juden, sondern sicher im Anschluß an die Abendversammlungen, also etwa 22.30 Uhr, wenn es bis 24.00 Uhr ruhig bleibt, ist alle Gefahr vorbei. Bruder Friedbald geht zu Tisch heim, kommt aber 19.30 Uhr und bleibt im Hause. […] Alles bleibt auf. Da, plötzlich, es ist erst 21.30 Uhr, ich lese gerade die Reinschrift des Briefes mit dem Glückwunsch an die Anima durch – Sirenengeheul von der Prannerstraße her, etwa drei Auto und zehn Motorräder unter Schreien und Pfeifen und Sirenengeheul mit großen Lichtern angefahren, die ersten halten vor meinem Haus. Die Lage ist klar, ich drücke sofort auf den Polizeiruf, Herr am Telefon. Bruder Friedbald hat bereits angerufen […]. Die Schwestern und Katharina kommt leichenblaß ins Zimmer und schon krachen die schweren Ziegelsteine an die Fenster oben und unten, Splitter klirren, dazwischen Schläge wie von einer Kanone, ein Johlen und Pfeifen. Ich lege den Talar ab, nehme Brustkreuz und Birett, das vorher schon zurechtgelegt, immer aber lauter und rascher krachen die Steine. Neben dem Bischofshof seit Monaten die Pfälzer Bank umgebaut, Steine und Schutt auf der Straße und davon nehmen sie die schweren Backsteine, die in größeren Stücken oder zerkleinert gegen die Scheiben prasseln, zum Teil die Winterfenster ganz durchschlagen, sogar die Rahmen splittern. […] Plötzlich ein Rammen gegen das Haupttor mit einem Handkarren von der Baustelle, das Tor bekommt einen großen Sprung, den Riegel verbogen, aber das Tor hält stand, ebenso die meisten Fensterläden.“
Die SS- und SA-Männer hatten sich offensichtlich den Sturm auf das Wiener Palais zum Vorbild genommen und verhöhnten Faulhaber mit Sprechchören wie „Wir wollen unseren Bischof sehen“ – dem Ruf der Wiener Jugend einen Monat zuvor. Faulhabers Glück war, dass die Aktion früher abgebrochen wurde als in Wien.
Der Erzbischof lebte von nun an in einer Angst, die er zuletzt zur Zeit der Münchener Räterepubliken verspürt hatte. In den Aufzeichnungen zum Überfall schrieb er: „Ich mahnte, von den Fenstern weg in die Küche zu gehen. Beim Rosenkranz ‚jetzt und in der Stunde unseres Todes‘.“ Faulhaber ließ bei der Renovierung des Palais die Fensterläden verstärken und Eisentüren vor dem Balkon anbringen. Besuche ließ er aus Vorsicht grundsätzlich nur von Bekannten zu. Doch trotz der persönlichen Furcht und all der Geschehnisse, die hinter ihm lagen, wollte er die Hoffnung auf eine Verständigung mit Hitler nicht aufgeben, wie er zwei Bischöfen am 4. Dezember mitteilte. Nach dem Münchner Abkommen vom 30. September des Jahres hatte Kardinal Faulhaber beim Vorsitzenden der Fuldaer Konferenz, Kardinal Bertram, sogar noch ein Telegramm an Adolf Hitler angeregt, um diesen zu seiner „Friedenstat“ bei der „Lösung“ der „Tschechischen Frage“ zu beglückwünschen.
Faulhaber glaubte nach wie vor, den eigentlich „guten Führer“, der – wie er oft wiederholte – in Glauben an Gott lebte, von der „schlechten“ NS-Bewegung scheiden zu können. Das verzerrte seinen Blick auf die Realität, sodass er Handlungsoptionen jenseits der von ihm präferierten klassischen Eingabepolitik nicht weiter in Betracht zog. Hinzu kam, dass Faulhaber sich nur für den Schutz der eigenen Kirche und seiner Diözesanen zuständig fühlte. Predigten, wie sie Bischof Clemens August Graf von Galen 1941 in Münster gehalten hatte, waren für Faulhaber nicht vorstellbar, ja er hielt sie für schädlich.
So fand sich Faulhaber am Silvesterabend des Jahres 1938 in der Situation wieder, von allen Seiten mit Erwartungen konfrontiert zu werden, die er durch seinen Blick auf die Dinge und den daraus resultierenden strategischen Überlegungen, nur enttäuschen konnte, was ihm selbst bewusst war: „17.00 Uhr Silvesterpredigt im Dom. 40 Minuten, Das Lied der neuen Zeit, die Einfachheit. Man hat natürlich eine Sensation erwartet gegen die Judenverfolgung oder zum Fenstereinwerfen – die Gerüchte sprechen von Krieg und von Katholikenverfolgung. Nichts von alledem.“
Faulhaber wollte versöhnliche Töne anschlagen, nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen – das freilich die Nationalsozialisten entfacht hatten – um eine Verständigung mit dem NS-Regime zu erreichen. Für Pater Rupert Mayer, der am 5. Januar 1938 erneut verhaftet worden war und erst fünf Monate später freikam, war diese Predigt eine herbe Enttäuschung. Rückblickend schrieb er dazu: „Aber seit der Silvesterpredigt 1938 über die Einfachheit war in meinem Herzen etwas gesprungen, was mich davon abhielt, mich dort noch einmal sehen zu lassen. Und das ist leider heute noch so. […] Seit jener Kardinalspredigt im Jahre 1938 habe ich sein Vorgehen in einer Reihe von Dingen einfach nicht mehr verstehen können.“