An der Grenze zum Schatten

Zur Eröffnung der Ausstellung

Die heute zu eröffnende Ausstellung lässt sich nicht recht einer bestimmten Kunstgattung zuordnen, weder der Malerei, noch der Bildhauerei, noch der Installations- oder der Video-Kunst. Denn von allem findet sich etwas darin. Die Künstlerin Dorothea Reese-Heim schert sich nicht um Gattungen, ihr Interesse gilt Formen, Farben und Materialien, vor allem solchen Materialien, die in der bildenden Kunst normalerweise keine große Rolle spielen, denen sie aber neue ästhetische Qualitäten entlockt und die sie zum Sprechen bringt.

Es ist kein Zufall, dass diese Künstlerin vom Textilen herkommt. Damit befasste sie sich schon an den Akademien in Karlsruhe und München. Aber in dieser Zeit machte sie auch bereits Erfahrungen mit handgeschöpftem Papier, unter anderem angeregt durch den Münchner Akademieprofessor Eduardo Paolozzi.

Von 1983 bis 2009 war sie Professorin an der Universität Paderborn, und zwar an der Fakultät Kulturwissenschaften Institut Kunst/Musik/Gestaltung. Sofort veranlasste sie dort die Einrichtung einer Papierwerkstatt, in der Papier nicht nur verarbeitet, sondern auch aus den verschiedensten Materialien hergestellt wird.

Der enge Zusammenhang von Textil und Papier ist vielleicht nicht jedem so anschaulich: Es beginnt schon damit, dass man zum Papierschöpfen ein „Sieb“ benötigt, dass in der Regel irgendwie aus Kette und Schuss gewebt ist. Es geht damit weiter, dass sowohl Textilien als auch Papiere oft aus pflanzlichen Fasern bestehen. Das teuerste Papier, das sogenannte Bütten, ist sogar oft aus Lumpen, aus alten Leinenhemden oder ähnlichem entstanden, also aus Textilien. Umgekehrt gibt es seit einiger Zeit sehr belastbare Textilien, Stoffe und Teppiche, aus Papier. Dorothea Reese-Heim hat sich ausführlich mit diesem Materialkomplex befasst.

Wir sehen hier, sozusagen „auf der Bühne des Vortragssaals“, die Papierobjekte „Präparat I–VII“, die aus Kozo-Papier bestehen, einer Masse aus der inneren Rinde, dem Bast, des Maulbeer-Baumes. Aber während andere Kozo-Papier-Hersteller gefällige Blätter, Blüten oder Gräser in dieses Papier integrieren, ist es hier ein eher „papierfeindliches“ Material: eiserner Schweißdraht. Diese sieben Stelen oder Schilde haben etwas urtümliches, sie wirken zugleich schwebend und schwer. In Wirklichkeit sind sie ganz leicht. Durch die eingearbeiteten Kreis-Strukturen entsteht eine gewisse Dreidimensionalität. Man hat den Eindruck, es handle sich um Spiralen. Und so ist es auch! Die ersten Versuche mit dieser Material-Kombination waren auch wirklich dreidimensionale runde Türme, die durch die Metallspiralen getragen wurden. Jetzt liegen die Spiralen flach und rosten ein wenig durch das schrundige Kozo-Papier. Die sieben Stelen neben dem Kruzifix und dem Kerzenleuchter erinnern mich an den Siebenarmigen Leuchter, aber das mag wohl jeder ein bisschen anders sehen.

Die „Rotationen“ bzw. „Doppelrotationen“ an der Wand hinter mir sind mit Kreiden, Graphit- und Buntstiften auf große Papiere gezeichnet. Für den harten äußeren Rand hat sich die Künstlerin eine Schablone gemacht, von der aus mit der immer gleichen, aus dem ganzen Arm heraus vollzogenen Bewegung gekrümmte Linien auf die langsam gedrehten Papierbögen gezeichnet wurden. In diesen großen Blättern steckt also etwas Performatives, eine Körper-Aktion, die aber durch die immer gleiche Bewegung nichts Wirres oder Wildes hat, wie etwa beim „Action-Painting“, sondern an natürliche Formen erinnern und einen ganz eigenen Tiefensog entwickeln. Versäumen Sie nicht, in diese Bilder, die irgendwie an Pupillen erinnern, mit Ihren Augen hineinzukriechen!

Aber Dorothea Reese-Heim bleibt nicht beim Papier. Im Foyer haben Sie bereits die Installation „Nahe an der Grenze zum Schatten“ gesehen, die dieser Ausstellung den sprechenden Namen gab. Hier sind es lichtleitende Acryl-Scheiben und PVC-Schläuche, die zu schwebenden, raumfüllenden Elementen zusammengesetzt wurden. Dieses Acryl wird LISA genannt, eine Abkürzung für „licht-sammelnd“, denn die Flächen sammeln das Tageslicht oder auch das UV-Licht aus den am Boden stehenden Scheinwerfern ein und entlassen es wieder über die Ränder der Scheiben. Licht und Schatten sind wichtige Themen für Dorothea Reese-Heim. Dafür ist sie immer auf der Suche nach neuen Materialien und Materialkombinationen. Übrigens plant sie zurzeit ähnliche, aber viel größere Gestaltungen für den Erweiterungsbau des Terminal I am Münchner Flughafen; sie hat den entsprechenden Wettbewerb gewonnen. Weil Acryl den dortigen Brandschutz-Vorschriften nicht entspricht, müssen die Scheiben aus Glas gefertigt werden. Sie sind aber so groß und so schwer, dass überhaupt nur eine Firma in Deutschland in der Lage ist, sie herzustellen.

Auf der Holzwand im Flur gegenüber werden Sie „Tektonische Überzeichnungen“ sehen, die an Birken oder Architekturen erinnern. Aber auch hier ist die Sache komplizierter, als man auf den ersten Blick denken würde. Hinter der Glasscheibe ist mit Tusche und Tinte auf ein dickes Papier gemalt oder sollte ich sagen: gezeichnet? Aber ein Teil der Zeichnungen sind – sozusagen als Hinterglasmalerei – mit spezieller Farbe auf die Rückseiten der Gläser aufgebracht. Wenn man genauer hinschaut, was ich Ihnen sehr empfehle, ist das auch zu sehen. Man stellt einen gewissen Abstand zwischen der Malerei auf Papier und der Hinterglasmalerei fest, und die Glasmalerei fällt auch als Schatten auf das darunter liegende Papier.

Die drei mittleren Bilder an der Holzwand gehören eigentlich zu den „Rotationen“, sind aber zu Streifen zerschnitten und neu zusammengesetzt. Und haben dadurch einen vollkommen anderen Charakter erhalten.

Aber damit nicht genug: In zwei Vitrinen des Foyers finden Sie einige Beispiele aus der umfangreichen Serie „Versiegelte Schriften“. Manchmal hießen diese Buchobjekte auch „Unnütze Bücher“, denn in den darin verarbeiteten alten Büchern kann man nicht mehr lesen kann, sie sind z.T. kaum mehr als Bücher zu erkennen. In Paraffin „einbalsamiert“, entwickeln die alten Bücher ein zweites, aber erstarrtes Leben. So wie Insekten, die in Bernstein eingeschlossen sind und sich dadurch Jahrtausende lang erhalten haben. Man mag auch an den merkwürdigen Menschheitstraum denken, sich einfrieren zu lassen, um potentiell ewig zu leben.

Im Atrium neben diesem Vortragssaal schwebt an der Decke eine siebenteilige „Wolke“ aus Aluminiumgewebe und kleinen Acryl-Stäbchen, ein Beispiel für die raumgreifenden Installationen von Dorothea Reese-Heim. Schon oft hat sie viel größere Objekte ausgestellt, aber die hätten in den Räumlichkeiten der Katholischen Akademie in Bayern keinen Platz gefunden.

Schließlich sehen Sie noch der Kapelle die Video-Arbeit „Klangrosette“, eine sechsfache Klang-Bild-Komposition. Töne werden sozusagen automatisch in bildliche Bewegungen umgesetzt. Wie sind diese „Klangrosetten“ entstanden? Auf einer waagrechten Membran wurden Farbpigmente, Bärlapp-Pulver oder Blütenstaub verteilt. Dieses von dem Münchner Organisten Michael Grill komponierte Musikstück für Orgel wird über Lautsprecher auf diese Membran übertragen, und die Tonschwingungen versetzen die diversen Pulver in Bewegung. Das Ganze wird dann per Video aufgenommen. Diese Arbeit passt sehr gut in eine Kapelle und ist auch schon mit Erfolg in anderen, größeren Kirchen gezeigt worden. Durch diese Arbeit soll Ihnen nicht etwa „Hören und Sehen vergehen“, sondern im Gegenteil: „Hören und Sehen“ sollen und können eine synästhetische Symbiose eingehen.

Nun habe ich Ihnen, obwohl ich schon so lange rede, eigentlich nur aufgezählt, was Sie in dieser umfangreichen Ausstellung alles entdecken können. Sollte ich nun noch etwas über das Was und Wie oder gar über das Warum dieser Kunstwerke sagen? Wozu sonst haben Sie hier einen Kunsthistoriker am Rednerpult stehen?

Einen gemeinsamen Stil im traditionellen Sinne der Kunstwissenschaft kann man in den ausgestellten Arbeiten oder überhaupt im Werk von Dorothea Reese-Heim nicht so leicht entdecken. Es ist eher eine Einstellung, ein neugieriges Zupacken, das zum Ausdruck kommt.

Es wird ja oft betont, dass „Kunst“, also das Wort „Kunst“, von Können komme. Das stimmt auch. Aber ich möchte heute mit einem anderen Vorschlag enden: Wirkliche Kunst ist immer eine Art Forschung. Ähnlich wie z.B. Naturwissenschaftler oder Archäologen suchen und entdecken die Künstler immer neue Formen, neue Farbkombinationen, neue Materialien, kurz: neue Sprachen. Sie forschen und experimentieren, sie stellen Hypothesen auf und verwerfen viele davon wieder, sie ringen um Probleme, die andere noch gar nicht bemerkt haben. Künstler sind wirkliche Forscher. Und wie viele neue Welten haben Künstler schon für uns entdeckt! Und sie werden es weiter tun. Das ist es, wofür wir den Künstlern, den wirklichen Künstlern, wie Dorothea Reese-Heim eine ist, dankbar sein dürfen.

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