Angehörigenpflege – Dilemma zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Wirklichkeit

 

Ich beginne mit der Wirklichkeit. Nach der deutschen Reichsgründung 1871 gab es durch den Aufschwung vom Agrar- zum Industriestaat immer größere Unterschiede zwischen den Besitzverhältnissen in der Gesellschaft. Die soziale Lage verschlechterte sich. Reichskanzler Otto von Bismarck sah eine große Gefahr für die Monarchie heraufziehen und versuchte Unruhen vorbeugend zu begegnen: Dazu zählte unter anderem seine Sozialgesetzgebung von 1880. Diese Sozialgesetzgebung gilt relativ unverändert bis zum heutigen Tag und damit über 130 Jahre später.

Zu Zeiten Bismarcks gab es allerdings vor allem „Vater-Mutter-Kind-Familien mit Trauschein“. Der Vater ging arbeiten, die Mutter versorgte den Haushalt, zog die Kinder groß und pflegte. Frauen hatten in der Mehrzahl keine erlernten Berufe, die Gesellschaft unterstützte sich familien- und generationensolidarisch in der Sorge für und um Angehörige. Natürlich geschah das unentgeltlich.

Diese Bismarck‘sche Grundlage besteht bis heute, also bis zum 21. Jahrhundert nahezu unverändert. Laut § 1618a BGB – „Pflicht zu Beistand und Rücksicht“ – sind Eltern und Kinder „einander Beistand und Rücksicht schuldig.“

Nach der letzten Destatis Pflegestatistik 2015 gibt es derzeit 2,9 Millionen Pflegebedürftige: 2,08 Millionen werden zu Hause versorgt, 1,38 Millionen von Angehörigen alleine, 692.000 gemeinsam mit einem professionellen Pflegdienst. Dabei sind nur Pflegebedürftige berücksichtigt, die in einen Pflegegrad eingestuft sind. Mit Einführung der Pflegeversicherung 1995 wurde die Pflege in die freie Wirtschaft verlagert. Angebot und Nachfrage der stationären und der professionellen Pflege sollten die Qualität der Pflege bestimmen. Damit entledigte sich der Staat seiner Fürsorgeverantwortung.

Der Schwerpunkt wurde dabei auf den ökonomisch verwertbaren, technischen Aspekt der Pflege gelegt. Die Gesundheits- und Pflegewirtschaft ist mittlerweile eine relevante Säule der deutschen Wirtschaft geworden: Laut Statistischem Bundesamt zählt dieses Wirtschaftssegment mit einem Umsatz von 336,4 Milliarden Euro im Jahr 2016 und 7 Millionen Beschäftigten zu den größten und dynamischsten Wirtschaftszweigen in Deutschland.

Nach dem AOK Pflegereport 2017 beträgt die Wertschöpfung der Arbeit von pflegenden Angehörigen etwa 37 Milliarden Euro. Es gibt bislang keinen finanziellen Ausgleich für diese erbrachten Leistungen, ein möglicher Kostenträger ist nicht vorgesehen.

Der Begriff „Pflegender Angehöriger“ ist bislang nicht eindeutig definiert. Im PSG I, II und III wird von „pflegenden Angehörigen“ gesprochen, von „Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen“, von „Pflegebedürftigen und häuslich Pflegenden“. Es geht um „Pflegepersonen“, um „pflegende Angehörige und nahestehende Pflegepersonen“. Es gibt keine „Arbeitsplatzbeschreibung“.

Die Beziehung zum Pflegebedürftigen umfasst Blutsverwandte wie Eltern, Kinder, Geschwister, Großeltern, Tante/Onkel, Cousine/Cousin sie umfasst auch Angeheiratete, in Lebensgemeinschaft Lebende, Freunde, Arbeitskollegen, Nachbarn und so weiter. Es wird familien- und generationensolidarische Fürsorge und Pflege geleistet, die sich durch eine Verbundenheit mit dem zu Pflegenden auszeichnet. Das kann Verwandtschaft, Freundschaft oder auch Bekanntschaft sein.

Diese Pflege wird als Laien- oder informelle Pflege bezeichnet, das heißt, sie wird ohne formalen Auftrag nicht professionell unentgeltlich und freiwillig erbracht. Sie verfolgt keine finanziellen oder beruflichen Absichten. Es wird erwartet, dass die Angehörigenpflege- und Sorgeleistung eine potentielle Verfügbarkeit an 24 Stunden und 365 Tagen im Jahr aufweist.

Rechtlich liegt bei der Übernahme der Fürsorge ein Auftrag des Pflegebedürftigen vor, der, weil so verfasst, unentgeltlich erbracht wird und als Liebesdienst anzusehen ist. Die Altersspanne pflegender Angehöriger reicht vom Kindesalter bis zum Lebensende.

Männer und Frauen pflegen im Verhältnis 1:3. Gesetzlich festgelegte Unterstützungsangebote beziehungsweise -anspruche hat zum Beispiel, wer als Angehöriger, Verwandter oder Freund in häuslicher Umgebung eine pflegebedürftige Person betreut und deshalb seinen Job ganz oder teilweise aufgegeben beziehungsweise Pflegezeit oder Familienpflegezeit beantragt hat. Wer hierzu zählt, ist auf Antrag wie folgt versichert: rentenversichert in einem vom Pflegegrad des Pflegebedürftigen abhängigen Maße, wenn eine Person mit Pflegegrad 2-5 gepflegt wird; ufallversichert, wenn die Pflegeleistungen verteilt auf zwei Tage wöchentlich mindestens 10 Stunden in der Woche betragen. Auch hier muss der Pflegebedürftige einen Pflegegrad 2 bis 5 haben.

Die Pflege muss im häuslichen Umfeld durchgeführt werden. Das häusliche Umfeld kann die Wohnung des Pflegebedürftigen, aber auch die Wohnung der Pflegeperson sein. Außerdem ist auch der „Rüstigenbereich“ einer stationären Einrichtung oder das „Betreute Wohnen“ als häusliche, ambulante Pflege zu sehen.

Die Arbeitslosenversicherung greift, wenn unter anderem der Pflegebedürftige wenigstens in Pflegegrad 2 eingestuft ist, Leistungen der Pflegeversicherung oder Hilfe zur Pflege nach dem Sozialhilferecht bezieht und der Zeitaufwand für die Pflege mindestens 10 Stunden pro Woche ausmacht. Zusätzlich muss die Pflegetätigkeit auf regelmäßig mindestens zwei Tage in der Woche verteilt sein.

Weiter besteht ein Anspruch auf Urlaub. Von der Versicherung des Pflegebedürftigen gibt es Geldmittel für Verhinderungspflege. Auf dem Papier liest sich das gut. Allerdings gibt es nicht überall Kurzzeitpflegen – und wenn es sie gibt, dann stehen sie in der Regel nicht planbar zur Verfügung. Auch vorgesehene Nachtpflegen sind in der Realität Mangelware. Die mögliche Beschäftigung von Betreuungsassistenten steht ebenfalls nicht flächendeckend zur Verfügung.

Um es noch komplexer zu machen: Angehörigenpflege ist zumeist gar nicht in erster Linie „technische Pflege“. Als Angehöriger organisiert man den Lebenskreis eines anderen Menschen. Auch der Pflegebedürftige muss zum Friseur und zum Arzt, er benötigt regelmäßig und zuverlässig etwas zum Essen und zum Anziehen, auch seine Wohnung muss in Ordnung gehalten werden, Haustiere und Blumen wollen versorgt sein.

Der Pflegebedürftige benötigt einen Ausweis, eine Steuererklärung, möchte auch mal seine Freunde treffen, sich in seinem Sozialraum bewegen. Das alles gilt es neben den eigenen Lebensplanungen und -vorstellungen zu managen – und das an 24 Stunden und 365 Tagen im Jahr „so nebenher“. Familie, Beruf und Pflege zufriedenstellend miteinander zu vereinbaren ist ausgesprochen schwierig bis unmöglich.

 

Wunsch

 

Was wünschen wir uns? Die Wünsche sind natürlich so vielfältig, wie es die unterschiedlichen Pflegesituationen mit unterschiedlichen Beziehungsgeflechten sind. Der vordringliche Wunsch ist es wohl, eine Pflege sicherstellen zu können, die den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt. An den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und der sie Pflegenden sollte und muss das Angebot ausgerichtet sein.

Als erstes muss es die Wahrnehmung in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik geben, dass pflegende Angehörige die Personen sind, welche die Basisversorgung unserer Pflegebedürftigen jeden Alters flächendeckend rund um die Uhr sicherstellen. Eine rechtssichere Begriffsdefinition von „pflegender Angehöriger“ ist längst überfällig. Wer gehört dazu? Welche Rechte und Pflichten hat ein Angehöriger? Erwachsene Kinder sind beispielweise rechtlich verpflichtet, die Pflege der Eltern anteilig mitzufinanzieren. Eltern sind verpflichtet für ihre unmündigen pflegebedürftigen Kinder Sorge zu tragen. Außerdem steht eine rechtssichere Arbeitsplatzbeschreibung aus. Außerdem sollte Transparenz in der Gelderverwendung hergestellt werden. Damit sind nicht die Geschäftsberichte von Unternehmen angesprochen. Gemeint ist die Finanzierung von Angeboten, deren Nutzen nicht unbedingt den Alltagserfordernissen der Angehörigen entspricht, zum Beispiel die unübersehbare Flut von Informationsbroschüren, die in einer Notsituation nur bedingt hilfreich sind, oder Projektförderungen, deren Nachhaltigkeit nicht gesichert ist.

Wir benötigen vordringlich flexible, unbürokratische kommunale Beratungsangebote, die jederzeit und rund um die Uhr zugänglich sind. Diese Beratung sollte telefonisch, per Internet, aber auch zugehend gewährleistet sein. Wir benötigen planbare Unterstützungshilfen wie beispielsweise einen Rechtsanpruch für einen planbaren Kurzzeitpflegeplatz. Wir erwarten, dass Angebote auf dem Papier in der Realität auch existieren, zum Beispiel flächendeckende Angebote für Tages- und Nachtpflegen.

Wir benötigen kurzfristig einsetzbare Hilfe, wenn beispielsweise der Angehörige selbst ausfällt oder beruflich flexibel sein muss. Zukunftsweisend wäre eine Art „ADAC-Pannenhilfesystem“: Ich rufe an und in einer akzeptablen Zeiteinheit wird mir die benötigte Unterstützung zur Verfügung gestellt.

Die Angebote der Pflegewirtschaft und die politischen Rahmenbedingungen müssen sich an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und der sie Pflegenden ausrichten und nicht andersherum. Wir brauchen das Recht auf finanzierte Auszeiten sowie präventive Unterstützungs- und Entlastungsangebote für pflegende Angehörige.

Es sollten uns alle derzeit vorhandenen technischen und digitalen Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt beziehungsweise zugänglich gemacht werden. Das sollte sich auch auf die Kommunikation mit anderen Pflegenden und Netzwerkbildung erstrecken, um Synergien zu nutzen.

Das beinhaltet aber auch den Bereich Alltagsunterstützung, beispielsweise im Bereich der Pflegebettensteuerung, der technischen häuslichen Anpassungen wie Herdabschaltungen, Wassertemperaturregelungen, leichte Zugänglichkeit von Stauraum durch schwenkbare Inneneinbauten, Hebe- und Tragehilfe, Rollstuhltechnik und vieles andere mehr.

Gesellschaftspolitisch wichtig ist die Unterstützung einer Lobbybildung von pflegenden Angehörigen an ihren Wohnorten. Vertreter von Angehörigen müssen an allen relevanten kommunalen runden Tischen sitzen und ihre Erfahrungen und Erwartungen auf gleicher Augenhöhe mit anderen Interessenvertreten einbringen können.

Besonders wichtig und unabdingbar ist ein finanzieller, möglicherweise steuerfinanzierter Leistungsausgleich für die Zeit der Angehörigenpflege. Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die maßgeblich die Grundpflege ganzheitlich und in der Regel empathisch sicherstellen, ein Armutsrisiko eingehen müssen.

 

Ausblick über den deutschen Tellerrand hinaus

 

In Nachbarländern gibt es andere Versorgungsvarianten: In Skandinavien ist die Pflege kommunal organisiert und steuerfinanziert. Wenn ich mich als Angehörige entschließe, meinen Pflegebedürftigen selbst zu versorgen, schließt die Kommune mit mir einen Vertrag ab. Meine Pflege- und Sorgeleistung wird anteilig bezahlt. In Frankreich gibt es Gutscheine, mit denen man sich pflege- und hauswirtschaftliche Leistungen einkaufen kann. In Belgien existiert ein ähnliches Modell.

Ich bin sicher: So, wie es derzeit ist, kann es nicht bleiben! Unsere Gesellschaft muss darüber nachdenken, wie wir pflegende Angehörige in Zukunft sehen und behandeln wollen und können: Weiterhin als die Laien, die widerspruchslos 24 Stunden an 365 Tagen die Pflege in Deutschland unentgeltlich und ideal-solidarisch auf Kosten ihrer eigenen Existenz einschließlich ihrer Gesundheit sicherstellen werden – oder als selbstbewusste Bürger, als Finanziers und Wähler, deren Erfahrung wir benötigen um eine menschenwürdige Pflege und Sorge auch im 21. Jahrhundert sicherzustellen. Das erwarten wir auch angesichts eines Generationenwechsels von der Politik.

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