„Theologie der Zukunft“ – so lautete der Titel einer erfolgreichen Fernsehserie im Programm BR-Alpha, in der Eugen Biser um die Jahrtausendwende im Gespräch mit Richard Heinzmann für ein breiteres Publikum in kleinen viertelstündigen Einheiten die Grundgedanken seiner Deutung des Christentums vortrug. Bereits der Titel der ersten der insgesamt 27 Episoden war programmatisch: Biser überschrieb sie mit dem Stichwort „Zeitdiagnose“. In der Sendung sprach er von seiner Grundüberzeugung, dass alle Philosophie und Theologie jeweils mit einer Analyse der eigenen Gegenwart beginnen müsse, im Hinblick darauf, welche Tendenzen und Kräfte in der Jetztzeit wirken und welche Chancen oder Gefährdungen sich daraus ergeben. Der Begriff der „Diagnose“ war dabei bewusst gewählt, und die Assoziationen mit dem Bereich von Krankheiten, ärztlicher Kunst und Medizinen wohl beabsichtigt. Es ging Biser nicht nur um eine interessen- und folgenlose Analyse. Seine Zeitdiagnose sollte stets auch eine Therapie zur Folge haben, in welcher der Gegenwart das geboten wird, was ihr fehlt, was sie aber zur Genesung oder einem besseren Leben nötig hat. Genau in dieses Spannungsfeld von Zeitdiagnose und Therapieprozess wollte Eugen Biser seine Theologie und Verkündigung des christlichen Evangeliums positionieren. Es ging ihm ganz wesentlich darum, das Christentum als heilsbringende Antwort gerade auf die Herausforderungen der heutigen Zeit zu erweisen und wirksam zu machen. Das groß angelegte Lebenswerk Eugen Bisers lässt sich als Einlösung genau dieses Programms verstehen.
Während Biser seinen akademischen Kollegen mehr oder weniger indirekt den Vorwurf machte, sie würden sich oft lieber mit der gloriosen Vergangenheit der hehren Tradition befassen, als sich auf das Wagnis einer Diagnose der eigenen Zeit einzulassen, nimmt die Gegenwartsanalyse in seinem eigenen Werk einen bestimmenden und breiten Raum ein. Das Ergebnis seiner Zeitdiagnose fasste er in der These zusammen, dass wir in einem „utopisch-rückschlägigen Zeitalter“ leben. Wenngleich er diese These vor mehr als zwanzig Jahren formulierte, scheint er darin geradezu hellsichtig eine Grundtendenz unserer jüngeren Gegenwart aufgedeckt zu haben, die sich heute, im Jahr seines 100. Geburtstages, stärker zeigt denn je! Doch was meint Biser mit seiner Rede vom „utopisch-rückschlägigen Zeitalter“? Die Formulierung klingt zunächst paradox, denn eine Utopie drängt positiv nach vorne zu einem erhofften Fortschritt, ein Rückschlag wirft negativ nach hinten zu einem gefürchteten, bereits als überwunden geglaubten Unglück. Es war aber die Auffassung Bisers, dass unsere Jetztzeit gerade von dieser Ambivalenz zwischen Aufbruchs- und Krisenmodus bestimmt ist. Und wenn man die Nachrichtenlage der letzten Jahre und Jahrzehnte in Form von Geschichtsbüchern zusammenfassen würde, käme man wohl zu einem ähnlichen Eindruck. Einerseits hat die Menschheit, zumindest beachtliche und tendenziell immer größer werdende Teile der Menschheit, in der jüngsten Vergangenheit rasante Fortschritte gemacht, im technischen, medizinischen, wirtschaftlichen und auch politischen Bereich. Andererseits verursachen kriegerische Konflikte, ungleiche Ressourcenverteilungen, Klimawandel infolge von Naturzerstörung und Chancenlosigkeit breiter Bevölkerungsschichten eine Serie von Katastrophen, die sich in noch nie dagewesenen Migrationsströmen bis hin zu terroristischen Bedrohungsszenarien entladen. Aber auch in den sogenannten westlichen Wohlstandsländern hat die Fortschrittsutopie ihre rückschlägigen Kehrseiten: Wir haben zwar viele Möglichkeiten, nutzen unsere Freiheit aber häufig nur dazu, um uns im distanzlosen Konsum der Mediennetze und Kaufangebote gleich wieder gefangennehmen und betäuben zu lassen. „Utopisch-rückschlägiges Zeitalter“ bedeutet also: Einerseits ermöglichen uns technischer Fortschritt und demokratische Rechtsstaatlichkeit ein noch nie dagewesenes Ausmaß an Wohlstand, Sicherheit und Freiheit, andererseits gefährdet sich die Menschheit durch lethargische Antriebslosigkeit, oberflächlichen Medien- und Güterkonsum und selbstvernichtenden Terror.
Wie soll man nun mit einem derart paradox-ambivalenten Ergebnis der Zeitdiagnose weiter umgehen und welche Konsequenzen daraus ziehen? Zunächst folgt daraus, dass an unserer modernen Zeit nicht einfach alles schlecht ist. Biser gehört keineswegs zu jenen Philosophen und Theologen, die, wie beispielsweise Martin Heidegger und tendenziell auch Romano Guardini, Neuzeit und Moderne als eher üble Dekadenzphänomene bewerteten, die es zu überwinden oder gar rückgängig zu machen gelte. Biser sieht und schätzt durchaus die positiven Seiten unserer Zeitläufe, im Blick auf die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands und Europas im Jahre 1989 sogar in einer theologischen Euphorie, die selbst so manchem aus seiner Fan-Gemeinde zu weit ging. Aber andererseits bewahrt die Biser’sche Zeitdiagnose auch davor, den Fortschritt kritiklos naiv sofort als alternativlos zu betrachten und in einem säkularen Sinn gleich heiligzusprechen. Biser warnt durchaus davor, dass der moderne Beschleunigungsmotor mit fatalen Folgen seinem Erfinder entgleiten könnte und schon eine Reihe von Kollateralschäden verursacht hat. An der Gegenwart ist nicht alles schlecht, vieles sogar in Top-Form, jedoch wird diese gute Kondition durch einige Krankheitskeime ernsthaft gefährdet, die es zu identifizieren und zu behandeln gilt.
Doch wie kann nach einer derart verfahren-paradoxen Diagnose überhaupt eine Therapie aussehen? Hier kommt nun nach Eugen Biser das Heilsangebot des Christentums ins Spiel, das in seiner Sicht als eine Medizin erscheint, die genau für diese Situation wie geschaffen ist. Dass der Bezug des Christentums auf die gegenwärtige Situation erfolgversprechend ist, hat nach Biser eine entscheidende Voraussetzung: Das Christentum braucht auf den Organismus der Gegenwart nicht erst von außen appliziert zu werden, es steht dazu vielmehr immer schon in einem inneren Bezug: Ohne die christliche Vorgeschichte wäre die Genese der modernen Welt nicht möglich gewesen. Neben der Antike und der Aufklärung gehört der christliche Glaube zu jenen Faktoren, welche die Entwicklung unserer Kultur und Lebenswelt entscheidend mitgeprägt haben. Auch in einer vom Gottesglauben losgelösten, eben säkularisierten Form, wirken christliche Impulse in bestimmender Weise weiter. Biser macht das am Beispiel der drei großen theologischen Tugenden deutlich, welche da nach 1Kor 13,13 sind: Glaube, Hoffnung und Liebe. In säkularer Form wird die Hoffnung zum Fortschritt, die Liebe zur Solidarität und der Glaube zur Weltanschauung oder schlimmstenfalls zur Ideologie. Die nach christlichem Glauben durch das göttliche Erlösungshandeln gnadenhaft geschenkte Freiheit wird in der Neuzeit zum Ergebnis rein innerweltlicher Emanzipationsakte. In den treibenden Kräften der Moderne kann das Christentum also durchaus eigene Wirkungen wiedererkennen, wenngleich aus seiner Sicht in entstellter, weil vom religiösen Ursprung losgelöster Gestalt.
Doch ist das wirklich so schlimm? Haben die christlichen Impulse nicht paradoxerweise gar erst durch ihre Säkularisierung für eine Vielzahl von Menschen heilsbringend gewirkt, weil sie erst damit von ihren dogmatischen und kirchlich-hierarchischen Einschränkungen befreit wurden? Wenn man betrachtet, wie viele Menschen in welchem Ausmaß heute von ihren Freiheitsrechten Gebrauch machen können, verglichen mit Zeiten, die christlich-kirchlicher bestimmt waren, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass diese Säkularisierung der christlichen Religion tatsächlich ein Heilsereignis war. Doch scheint die Sache so einfach nicht zu sein. Schon der von Eugen Biser seit seiner Dissertation intensiv studierte Nietzsche fragte sich, ob die Menschen nicht selber zu Göttern werden müssten, wenn sie die Begründung ihrer Kultur von Gott lostrennen wollen. Wenngleich Nietzsche mit seinem Gedanken des Übermenschen einen solchen innerweltlichen Ersatzgott schaffen wollte, scheint er die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens zumindest geahnt zu haben. In einem Bild aus Nietzsches Zarathustra, das Biser gerne und häufig zitiert, vergleicht Nietzsche den aus sich selbst heraus Utopien entwerfenden Menschen mit einem Kind, das einen schweren Stein vom Boden aufhebt und aus eigener Kraft in der Höhe der Sonne entgegenwirft, was zu Folge hat, dass der Stein nur aus noch größerer Fallhöhe auf den Werfer zurückfallt und diesen zermalmt. Was ist in diesem Bild gesagt? Wenn der Mensch nur aus sich heraus Höheres erreichen will, wird und kann er immer nur bei dem bleiben, was er schon ist und hat. Darauf wird er in seinen Steigerungsversuchen immer wieder zurückgeworfen werden und das wirkt dann auf ihn frustrierend, lähmend und schließlich verzweifelt destruktiv.
Die Lösung für dieses von Nietzsche suggestiv ins Bild gebrachte Dilemma kann nach Eugen Biser nur darin bestehen, dass dem Menschen das Ziel für seine utopische Höherentwicklung von anderswoher, eben von oben her gegeben wird. Und genau das leistet seiner Interpretation nach das Christentum in seinem Spitzenbegriff der Gotteskindschaft, den Biser am Ende seines Lebens in den Mittelpunkt seiner Theologie gestellt hat. Die Gotteskindschaft ist nach Biser die von Gott her frei geschenkte und in Jesus Christus anschaulich gemachte Zielbestimmung menschlicher Entwicklung. Das dieser theologischen Idee zugrundeliegende Bild vom Menschen deckt sich dabei überraschend mit der Selbsterfahrung des modernen Menschen. Der moderne Mensch empfindet sich nicht als fertige Gestalt einer bestimmten Form von Wirklichkeit. Er hat vielmehr die Freiheit und sieht sich der Herausforderung konfrontiert, aus einer Vielzahl offener Möglichkeiten seine Individualität überhaupt erst zu schaffen. Diese moderne Sicht des Menschen als Möglichkeitswesen findet nach Biser seine erste Wurzel im biblischen Schöpfungsbericht. An den ersten Menschen richtete der Schöpfergott die Frage: „Adam, wo bist du?“ Biser versteht dies in Einklang mit der jüdischen Schriftexegese als Ausdruck dafür, dass der Mensch nach biblischer Sicht kein fertiges Wesen ist, sondern zu seiner von Gott gewollten Gestalt eigentlich erst unterwegs ist. In seinem Buch mit dem vielsagenden Titel „Der Mensch – das uneingelöste Versprechen“ formuliert Biser diese Frage um: „Ist der Mensch das, was er sein kann?“. Der Mensch hat bisher nur einen Bruchteil seiner Möglichkeiten positiv verwirklicht, vielfach auch seine damit verbundene Freiheit in das abgründig Böse verkehrt. Und viele der gegenwärtigen Probleme, Krisen und Katastrophen mögen ihren Grund darin haben, dass der Mensch mit der Freiheit seiner Möglichkeiten nicht umzugehen weiß und teilweise sogar davor zurückschreckt.
Woran mag das liegen? Schon die französischen Existenzphilosophen wie z. B. Jean-Paul Sartre haben darauf hingewiesen, dass die Freiheit der Möglichkeiten für den Menschen auch eine Belastung, ja sogar eine Verurteilung oder Verdammung sein kann, denn damit ist der Mensch sich selbst, der Möglichkeit des Scheiterns und einer stets ungewissen Zukunft ausgeliefert. Die Kehrseite der großen Freiheitsmöglichkeiten der Moderne ist damit unweigerlich die Angst. Und aus der Angst entstehen die Aggressionen, aus den Aggressionen die Katastrophen des Bösen. Eine positive Gestaltung der offenen Freiheitsmöglichkeiten setzt daher unbedingt die Angstüberwindung voraus. Diese muss dem Menschen die Zuversicht geben, dass er in seinen selbst gewählten Freiheitsakten gewollt und bejaht ist und auch dann noch geborgen bleibt, wenn er in seinen Lebensentwürfen scheitert.
Und genau hier sieht Eugen Biser die aktuelle Bedeutung der christlichen Gottesoffenbarung für den modernen Menschen in den säkularen Freiheitsräumen. Nur die Zusage der bedingungslosen Liebe durch den von Jesus als barmherzigen Vater entdeckten Gott kann dem Menschen jenes Vertrauen geben, das er zur Umsetzung seiner autonomen Freiheitsmöglichkeiten braucht. Die in Christus geschenkte Gotteskindschaft bedeutet letztlich nichts anderes, als dass der Mensch seine ihm wesentliche Freiheit aus der Zusage einer allumfassenden Liebe lebt.
Diese existenzermöglichende Bedeutung des Christentums für den Menschen gerade der Welt säkularer Freiheiten hat aber zur Voraussetzung, dass der christliche Glaube primär als innerliche, als mystische Größe begriffen wird. Denn nur als eine innerlich erfahrene Liebeszusage kann das Christentum zur Freiheit befreien, nicht wenn es bloß äußere Lehre oder Institution ist. Der mögliche Bedeutungsgewinn des Christentums in der säkularen Moderne muss daher auch ein gewandeltes Selbstverständnis des Christentums zur Folge haben. Diesen Prozess hat Eugen Biser in utopischer Vorausschau als „Glaubenswende“ vorausverkündigt, als Wende vom Autoritäts- zum Innerlichkeitsglauben.
In seinem letzten, noch unveröffentlichten Werk mit dem Titel „Geistesgegenwart“ sagt Biser voraus, dass das Christentum der Zukunft nur eine pneumatisch-mystische, vom grenzenlos belebenden Wirken des Heiligen Geistes bestimmte Religion sein kann. Bleibt nur zu hoffen, dass wir Christen unserem Heiligen Geist es wirklich zutrauen, alle Grenzen zwischen Säkularität und Religiosität zu durchbrechen, die religiöse und säkulare Welt zu durchwehen – und auch kräftig aufzwirbeln!