Christian Lehnert zu Gast bei Albert von Schirnding

Eine Einleitung

Im Rahmen der Veranstaltung "Christian Lehnert. Autoren zu Gast bei Albert von Schirnding", 04.12.2017

© FabrikaCr / iStock

Hören Sie zunächst ein Gedicht aus dem jüngsten, wenn ich recht gezählt habe, siebten Lyrikband „Windzüge“ meines hochwillkommenen Gastes Christian Lehnert:

 

Du, wie Laub, das dunkler steht, wie Lorbeer,

wie Stamm und Brand und Asche,

wonach die Vögel haschen,

wie langes Ruhen. Wer

kann dich erinnern, wer vergessen?

Du zu sagen, ist es nicht vermessen?

Du, wie schwelendes Gesträuch am Weg,

wie Staubwind, du, wie Schweigen,

dem sich die schnellen Tage neigen,

du erster, nie benannt, wie Laub …

Ich weiß nicht: Hab ich je an dich geglaubt?

Es war vergebens, denn du pochst in mir,

du schwelst, und was ich auch verlier,

du atmest, brennst an meinem Weg.

 

Kein Gedicht, das sich dem Hörer oder Leser ohne weiteres öffnet, dem man aber interpretierend auch nicht allzu nahe treten darf, weil es sich sonst, gegen Berührung allergisch, erst recht in sich zurückziehen würde. Es gleicht in dieser Gleichzeitigkeit von entgegenkommender An-Sprache und sich ins Schweigen entziehender Unverfügbarkeit dem achtmal genannten Du, an das es sich auf höchst indirekte Weise, über Vergleich und Metapher richtet. Am wenigsten verfänglich ist der Blick auf seine Gestalt. Vier Terzinen und zum Schluss ein Zweizeiler ergeben vierzehn Zeilen, und damit verrät es sich als ein sehr originell maskiertes Sonett; ich habe diesen Modus der Zeilen-Anordnung sonst noch nie gesehen. Von der üblichen Form der zwei Quartette und der zwei Terzette kennt man nur die aus dem Shakespeare-Sonett übernommene Abweichung, dass vom letzten Terzett eine sich reimende Doppelzeile abgetrennt wird. Das Sonett, auch in der klassischen, sozusagen in der Petrarca-Form hat seinen favorisierten Platz in Lehnerts Reim und traditionellen Rhythmus keineswegs exklusiv in wählender, aber eben auch keineswegs verschmähender Lyrik. Weil der in vier Zeilen gebrochene, über der Einladung stehende Doppelvers im Band „Windzüge“ unmittelbar auf das eingangs zitierte Gedicht folgt, habe ich den Verdacht, dass auch dieser trotz seines Anklangs an Angelus Silesius als Ende eines fragmentierten Sonetts, als Fazit von zwölf ungesagten Zeilen gelesen werden könnte:

Der Gott, den es nicht gibt, ist mir ein dunkler Riß,
ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß.

„Der Gott, den es nicht gibt“: Da zuckt man als Besucher der Veranstaltung einer Katholischen Akademie und angesichts der Tatsache, dass der Dichter evangelischer Theologe ist, vielleicht im ersten Moment zusammen. Aber Lehnert zitiert das Dictum eines anderen evangelischen Theologen, Dietrich Bonhoeffers: „Gott gibt es nicht.“ Das ist nicht das lakonische Credo eines Atheisten, sondern entspringt der Einsicht, dass Gott auch dem Gläubigen nicht als Gegenstand gegeben ist nach der Weise aller Objekte, mit denen wir es als Subjekte zu tun haben und die wir uns vorstellen, mit unseren Sinnen erfahren, die wir benennen, behandeln, uns anpassen oder auch ignorieren können. Dass nur in paradoxen Sätzen von Gott, den es nicht gibt, die angemessene Rede sein kann, ist alte Weisheit der Mystiker und geht aus den mystischen Nachklängen und pietistischen Vorklängen der Verse des Johann Scheffler alias Angelus Silesius hervor. Das Lehnertsche Paradox der mit Gottes Abwesenheit korrespondierenden Nähe ist den anno 1657 erschienenen „Geistreichen Sinn- und Schlußreimen“ des „Cherubinischen Wandersmanns“ durchaus ebenbürtig.

Kein Zweifel kann bestehen, dass das in dem eingangs zitierten Sonett angesprochene und auch wieder nicht angesprochene Du den Vermissten, das Ich als dunkler Riss verwundenden, unendlich nahen, unendlich fernen Gott meint. „Ich weiß nicht: Hab ich je an dich geglaubt?“ scheint eine Leerstelle auszudrücken, die sich ein Pfarrer eigentlich nicht erlauben kann. Scheinbar. Denn auch hier rückt der Präpositionalausdruck „an dich“ Gott in die unmittelbare Nachbarschaft eines Akkusativ-Objekts; auch hier wäre Gott im positiven Falle ein habhafter Gegenstand. Die Unauflöslichkeit, Unentrinnbarkeit der Ich-Du-Beziehung wird in den letzten drei Zeilen des Gedichts umschrieben.

Wie sag ich’s meinem Kinde? Christian Lehnert hat als evangelischer Pfarrer in zwei Dörfern in der Nähe von Dresden gewirkt. ‚Pfarrer‘ hängt etymologisch mit ‚Pferch‘ zusammen, ein Wort, das einen eingehegten Platz bezeichnet hat (wir kennen noch ‚einpferchen‘); also ist der Pfarrer nichts anderes als der Pastor, der seine ihm anvertrauten Gläubigen wie Lämmer hütet. Muss er da nicht auch seine Zunge hüten, falls Zweifel an der Wahrheit, die er zu verkünden hat, ihn heimsuchen? Die Gratwanderung zwischen Prediger und Zweifler führen die beiden Prosabücher Lehnerts vor: die „Korinthischen Brocken“, ein Buch über Paulus anhand der sechzehn Kapitel des ersten Briefs an die Korinther und die in diesem Jahr unter dem Titel „Der Gott in einer Nuß“ erschienenen „Fliegenden Blätter von Kult und Gebet“. Es fällt auf, dass in beiden Bänden die essayistische Rede an manchen Bruchstellen ins Gedicht übergeht. Im Gedicht, scheint mir, kann ein schreibender homo religiosus weitergehen, weiter weg vom empirischen Ich, weiter weg von den Eindeutigkeiten des Credo ins Mehr- und Vieldeutige, hinaus und hinein ins Offene. Gerade deshalb ist es wichtig, dass er das „in aller Form“ tut; sonst ginge der Weg ins Unverbindliche.

Die Titel von Lehnerts Gedichtbänden sind ihrerseits so poetisch, dass ich sie aufzählen will: „Der gefesselte Sänger“ (1997), „Der Augen Aufgang“ (2000), „Finisterre“ (2002), „Ich werde sehen, schweigen und hören“ (2004), „Auf Moränen“(2008), „Aufkommender Atem“ (2011) und eben die „Windzüge“ von 2015. Fast alle sind im Suhrkamp-Verlag erschienen. Im vorigen Jahr hat der Lyriker Lehnert den Eichendorff-Preis, 2012 den Hölty-Preis der Stadt Hannover erhalten. Aus der Laudatio von Sebastian Kleinschmidt zitiere ich einen Satz, weil ich’s selber nicht so schön ausdrücken könnte. „Ich bewundere an ihm“, so der Laudator, „dass seine Dichtung Gesang ist, wehendes Lied, ein Lied der Höhe, der Tiefe, der Weite, ein Lied, das vom Schauvermögen der Sinne, von der Nennkraft der Worte und von der Frageunruhe des Geistes lebt.“

Die Frageunruhe des Geistes, eines vom christlichen Glauben affizierten Geistes, wie ich hinzufügen möchte, liegt als Antriebskraft auch den „Fliegenden Blättern von Kult und Gebet“ zugrunde. In diesem Jahr sind mir drei Bücher begegnet, die im Namen Gottes verfasst sind, zumindest tragen sie seinen Namen auf der Titelseite: Yuval Noah Hararis „Homo Deus“, Peter Sloterdijks Aufsatzsammlung „Nach Gott“ und Christian Lehnerts „Der Gott in einer Nuß“. Wer über Gott, den sich offenbarenden und sich entziehenden, anwesenden oder abwesenden, lebendigen oder toten, schreibt, will hoch hinaus. Zu den höchsten und letzten Fragen. Dem Eindruck des Höhenflugs beugt Christian Lehnert allerdings mit der Synthese von Gott und Nuss vor.

„Nach Gott“ gibt zu verstehen, dass die Sache mit Gott, die für Nietzsche am wenigsten da erledigt war, wo er seinen Tod verkündete, hundertsiebzehn Jahre später zu den Akten gehört, nicht mehr interessiert. Die Gleichung von Homo und Deus läuft auf ein vielfältiges Minus hinaus. Der von Freud als solcher bezeichnete „Prothesen-Gott“ ist im Begriff, zum Anhängsel eines von den Fortschritten der Wissenschaft und Technik, namentlich der Medizin neu geschaffenen Kunstprodukts zu schrumpfen. Daneben existiert noch immer der alte Mensch mit seinen Leiden, seiner Sehnsucht nach Sinn und Geborgenheit, seiner Erlösungsbedürftigkeit. Da sind die Kirchen, die diese Bedürfnisse gewissermaßen bedienen. Und es gibt eine Theologie, die, wie jüngst wieder das in der FAZ gedruckte Interview mit dem Kardinal Brandmüller erhärtete, sich ihrer prekären Sache so sicher zu sein glaubt, dass sie einen Papst nicht erträgt, der den Mut hat, das „Roma locuta, causa finita“ außer Kurs zu setzen und gewisse strittige Themen der Gewissensentscheidung mündigen Klerikern zu überlassen. Zwischen einer von sich selbst überzeugten Theologie beider Konfessionen und einer nicht weniger selbstsicheren Nach-Gott- Philosophie klafft eine Lücke, und ich kenne wenige Bücher, die in diese Lücke einspringen und sich ihrer Bodenlosigkeit aussetzen. Christian Lehnert bietet sich seinen Lesern, und das sind, wenn Autor und Leser zusammenfinden, aus überlieferten Selbstverständlichkeiten verstoßene Christen, auf ihrer intellektuellen und emotionalen Wüstenwanderschaft als solidarischer Begleiter an. Es ist nicht etwa die Überlegenheit des Besserwissens, die ihn so vertrauenswürdig macht, vielmehr der einzigartige Charakter des uns namentlich aus dem jüngsten Buch zuteilwerdenden Zuspruchs: der Dreiklang aus kompetenter theologischer Reflexion, persönlicher Erfahrung und poetischer Sprache. Die Wüstenwanderschaft verwandelt sich im Lauf der Lektüre in eine aufregende Gebirgswanderung, bei der das Leitseil der lateinischen Messe vom „Kyrie“ bis zum „Agnus Dei“ den Bergführer und uns, die wir ihm folgen, vor Abstürzen sichert. Die Orientierung an der mir so vertrauten Liturgie kam mir aus der Feder eines evangelischen Theologen überraschend katholisch vor – aber dann dachte ich an Bachs h-moll-Messe. Und schließlich ist Lehnert seit 2012 Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Institutes der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands bei der Universität Leipzig.

Es ist hier nicht der Ort, das Themengewebe dieser aus Gedanken, Erinnerungen und Gedichtzeilen komponierten Lehnertschen Messe zu entfalten, gar zu analysieren. Ich greife nur Einzelnes heraus, das mich besonders bewegt hat. Da ist das Kierkegaardsche (die „Korinthischen Brocken“ zitieren ja einen Kierkegaard- Titel) existenzielle Sich-Einbringen in nahezu jeden geschriebenen Satz: die eigenen Zweifel, die eigene Verzweiflung spricht mit, wenn es um „unsere“ Wahrheit geht; man begegnet auf Schritt und Tritt dem sokratischen Verzicht auf Weisheit, Gewissheit zugunsten des Eros des leidenschaftlichen Fragens. „Jede Heilsgewißheit braucht ihren Verräter“, schreibt Lehnert. Denn er weiß: „Nur dort, aus seiner eigenen Negation heraus, kann der Glaube das werden, was er ist: Wagnis und Gnade und wirkliche Bergung.“ Deswegen durchzieht das Buch ein tiefes Misstrauen gegen jede Art von Organisation in Sachen des Glaubens. Ein Gottesdienst, der nicht geschieht, sondern gemacht wird, gibt sich selber auf – in der Sprache des Dichters Lehnert: „Er wird zum Gegenstand – wie Kiefernholz in einer Monokultur, angepflanzt, gefällt, zerspannt, zu Platten gepreßt.“ In der Konsequenz dieses Glaubens-Denkens liegen die Ablehnung einer wachstumsorientierten Kirche, der Lobpreis auf die „Statistiken des Niedergangs“, die Parole zum Aufbruch in „die Wahrheit der Verluste“. Denn: „in den Auflösungserscheinungen dessen, was Bestand hat und gilt, lag schon immer die Rettung für die Kirche.“ Ein zentraler Begriff, der im Zusammenhang mit den paradoxen Notaten auf diesen fliegenden Blättern immer wieder auftaucht, ist Unverfügbarkeit.

Christian Lehnert wurde 1969 in Dresden geboren, wo er auch aufgewachsen ist. Er hat seine Kindheit und Jugend also in der DDR verbracht. Die Verweigerung des Wehrdienstes trug ihm Schwerstarbeit als Bausoldat in den Baueinheiten der damaligen NVA in Prora und Merseburg ein. Nach 1989 studierte er Evangelische Theologie und Orientalistik in Leipzig, Berlin und Jerusalem, von 1998-2000 lebte er in Santiago de Compostela, von 2000 bis 2008 wirkte er als Pfarrer in zwei Dörfern südlich von Dresden. Vier Jahre war er Studienleiter für Theologie und Kultur an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg; von seiner derzeitigen Tätigkeit war schon die Rede. Die Theologische Hochschule Augustana in Neuendettelsau hat ihm 2016 die Ehrendoktorwürde verliehen. Christian Lehnert ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

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