Christliche Schöpfungsverantwortung heute

Im Rahmen der Veranstaltung "Biblische Tage 2017", 10.04.2017

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Die Enzyklika Laudato si‘ gilt in der wissenschaftlichen Debatte als einer der wichtigsten Texte der Umweltdebatte der letzten 20 Jahre. Vor allem in Verbindung mit dem Engagement von Papst Franziskus bei der Nachhaltigkeitskonferenz in New York (September 2015) und beim Klimagipfel in Paris (November/Dezember 2015) wird dem Text ein wesentlicher Anteil am Zustandekommen der von allen Nationen weltweit mitgetragenen Beschlüsse zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit zugetraut. Neu sind nicht die Inhalte, sondern die Art und Weise der Diskursbündelung, die zugleich biblisch fundiert, ökologisch informiert, politisch und praktisch-alltagsnah ist, die das Bewusstsein des hohen Problemdrucks mit einer von Hoffnung, Lebensfreude und Dialog geprägten Perspektive verbindet und programmatisch Vorstellungen des „guten Lebens“ (buen vivir) als Basis für einen Kulturwandel einbezieht.

Der Text hat die Kirche, die in der internationalen Umweltdebatte mangels Kompetenz und Glaubwürdigkeit schon längst in eine Nebenrolle abgeglitten schien, in kurzer Zeit in eine neue Schlüsselrolle gebracht. Angesichts der absehbaren Nicht-Umsetzung der Sustainable Development Goals (SDGs) von New York und der Klimaschutzziele von Paris, sind Theologie und Ethik heute auf neue Weise herausgefordert, von ihrer Hoffnung Zeugnis abzulegen: Was berechtigt und befähigt angesichts der Trump’schen Wende rückwärts zur Hoffnung auf eine Erreichbarkeit der Ziele von Klimaschutz und Armutsüberwindung? Weltweit sind die meisten Staaten im business as usual gefangen und weit davon entfernt, ihren eigenen Versprechen und Beschlüssen nachzukommen. Was fehlt, ist nicht primär eine noch bessere Begründung für eine globale Umwelt- und Solidaritätsethik, sondern eine Imagination von Zukunft, die zum Handeln motiviert, eine Perspektive, die nicht an Rückschlägen, Systemproblemen und der Trägheit von Wandlungsprozessen verzagt, eine Haltung der Hartnäckigkeit und Unbeirrbarkeit, die sachlich notwendige von faulen Kompromissen zu unterscheiden vermag.

Laudato si‘ steht im Kontext einer weltweiten Renaissance des gesellschaftlichen Bewusstseins, dass ökologische Verantwortung nicht hinreichend durch Begründungsdiskurse und Konferenzdiplomatie erreicht werden kann, sondern auch einer religiösen und kulturellen Reflexion, Motivation und Praxis bedarf. Die durch die Enzyklika geweckten Erwartungen verpflichten: Gefragt ist eine Bündelung der Kräfte im Follow-up, um das „Fenster der Gelegenheit“ hoher politisch-gesellschaftlicher Wirksamkeit der Kirche im Schatten von Laudato si‘ durch qualifizierte Diskurse, Bildungsmaßnahmen und Praxisinitiativen zu nutzen. Das Niveau der Debatte außerhalb der Kirche ist teilweise deutlich höher als in der Kirche, wo es an Ressourcen und Kompetenzaufbau fehlt.

Vor diesem Hintergrund ist die Leitthese, die ich im Folgenden verdeutlichen möchte: Gegenwärtig besteht eine große Chance und Aufgabe von Seiten der Theologie und der Kirche in der Suche nach Alternativen zur Naturvergessenheit unserer Zivilisation neue Perspektiven aufzuzeigen. Dabei kann und muss die Neuerschließung des biblischen Schöpfungsglaubens, der heute meist nur als inhaltsleerer Appellverstärker genutzt, aber kaum substanziell verstanden wird, zentraler Ausgangspunkt sein.

 

Elemente einer naturethischen Erschließung christlicher Schöpfungstheologie

 

Lassen Sie mich mit einigen methodischen Vorbemerkungen beginnen: Die sich in den biblischen Texten der Schöpfungstheologie aussprechende Naturerfahrung muss immer wieder neu erschlossen und angeeignet werden. Das ist nur möglich durch einen Abgleich mit den je eigenen Naturerfahrungen. Diese stehen heute unweigerlich im Kontext der gegenwärtigen Natur- und Umweltkrise. Der Diskurs zwischen heutiger Naturerfahrung sowie Naturethik und der biblischen Naturwahrnehmung ist auch für säkulare Bürger und Naturethiker keineswegs unzumutbar, insofern er nicht auf die Übernahme von ontologischen Prämissen des biblischen Glaubens zielt, sondern auf den wechselseitig erhellenden Dialog zwischen unterschiedlichen Denkformen. Es geht um Übersetzungsarbeit, bei der sich eine überraschend hohe Konvergenz zwischen den propositionalen Gehalten biblischer Schöpfungstheologie und säkularen ökologischen Erkenntnissen und naturethischen Maßstäben unserer Gegenwart ergibt. Christof Hardmeier und Konrad Ott, in ihrem 2015 erschienenen Werk „Naturethik und biblische Schöpfungserzählung. Ein diskurstheoretischer und narrativ-hermeneutischer Brückenschlag“ führen diesen Gedenken weiter aus.

Religionsgeschichtlich ist die Erzählung des Siebentagewerkes in Gen 1 und 2 als ein Text mit kritisch aufklärerischer Intention zu lesen, der in bemerkenswert differenzierter Weise das damalige Wissen über Naturzusammenhänge aufnimmt. Gen 1 setzt das Weltbild der Perserzeit (spätes 6. Jh. vor Chr.) voraus. In narrativer Form werden die natürlichen Daseinsvoraussetzungen als geordnete Welt beschrieben. Die Erzählung ist ein Gegentext zum neubabylonischen Herrschaftsmythos, der als Thronbesteigung Marduks erzählt wurde und der Rechtfertigung der Herrschaftselite in Babylon diente. Ebenso ein Gegentext zum ägyptischen Sonnen- und Gestirnekult (Sonne und Mond werden despektierlich „Lampen am Himmel“ genannt; Gen 1,14-19). Schließlich ist er auch ein Gegentext zu den verschiedenen Fruchtbarkeitskulten im damaligen Palästina, die die Fruchtbarkeitskräfte der Natur unmittelbar divinisierten.

Für die Übersetzung der Schöpfungstheologie von Gen 1 und 2 in den Kontext heutiger Naturethik bedarf es einer analogen Offenheit für gegenwärtige Naturerkenntnisse sowie einer aufgeklärten Kritik gegenüber Mythologien unserer Zeit. Notwendig ist dafür ein theologischer Ansatz als hermeneutischer Rahmen, der Schöpfungstheologie nicht nur als Aussage über etwas versteht, sondern zugleich auch performativ als Ausdruck einer bestimmten Haltung gegenüber der als Schöpfung wahrgenommenen Natur. Der performative Sinn der Schöpfungstexte besteht wesentlich in der Balance zwischen Kontingenzbewusstsein, das die Gaben der Schöpfung als nicht selbstverständlich nimmt und deshalb „immanenzkritisch“ über das rein Faktische hinaus fragt, und – auf der anderen Seite – Vertrauen, das in der Gottesbeziehung gründet und sich auf eine positive Beziehung zu den Mitgeschöpfen überträgt. Es geht um Kontingenzbewältigung, die trotz aller Erfahrungen von Leid und Unsicherheit die Natur bzw. das Leben als gut wahrnimmt. Schöpfungsethik ist darauf ausgerichtet, diese Grundhaltung zu vermitteln und immer wieder in Erinnerung zu rufen.

Die Texte der biblischen Schöpfungstheologie sind „von ihrem sprechakttheoretischen Status her betrachtet, narrativ, adorativ, ‚lobpreisend‘, verkündigend, liturgisch und konfessorisch; insofern sind sie nicht eindeutig den Geltungssphären von Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit zuzuordnen“, so Hardenmeier und Ott. Die biblische Schöpfungserzählung ist ein Narrativ, das sich in seiner Logik grundlegend von Denk- und Diskursformen der objektivierenden Rede unterscheidet. Die wörtliche Lesart der Genesiserzählung im Kreationismus beruht schlicht auf einem Missverständnis der Textgattung.

Sprachlich besonders bemerkenswert sind die Einstreuungen theozentrischer Wertungsperspektiven („und Gott sah, dass es gut war“; Gen 1,4.10.12.18.21.25) sowie vor allem die metanarrative Evokation in Gen 1,31 („und da! sehr gut ist es!“). Diese Gesamtwertung des Schöpfungswerkes als sehr gut liegt nicht unmittelbar auf der Ebene des Erzählten, sondern ist ein Zwischenruf des Erzählers selbst, der unmittelbar den Leser anspricht und zur staunenden Einstimmung in diese positive Wertung des Schöpfungswerkes auffordert. Ziel des Leserappells ist es, eine Haltung der Dankbarkeit und Freude zu vermitteln. Diese Aufforderung ist nicht nur die Sinnspitze der Schöpfungserzählung, sondern wird beispielsweise auch im Schöpferlob der Psalmen 8 und 104 in Gebetsform fortgeführt. Sie prägt die biblische Naturerfahrung und Lebenseinstellung auf grundlegende Weise.

Eine anthropologisch und kultursoziologisch interessante Frage ist, ob Dankbarkeit für die Güter der Natur auch ohne die Annahme eines Gebers der Gaben denkbar ist. Betrachtet man die Güter als Ergebnis der Lotterie der Natur im evolutionären Prozess von zufälliger Mutation und Selektion, ergibt die Haltung der Dankbarkeit genauso wenig Sinn, wie es unangebracht wäre, der Lostrommel, die mir einen Lottogewinn ermittelt, dankbar zu sein. „Zumindest eine affektive Beziehung und Einstellung gegenüber all diesen natürlichen primary values als unverfügbare Vor-Gaben des Lebens ist – säkular gedacht – im Grunde paradox, nämlich adressatenlose Dankbarkeit“, so wieder Hardenmeier und Ott. Dankbarkeit ergibt nur Sinn, wenn auf der Seite des Gebenden Absichten unterstellt werden, und zwar eine positive Absicht des Wohlwollens und der Liebe, des Schenkens, das nicht auf abhängig machende Verpflichtung ausgerichtet ist, sondern umsonst gibt, eben „gratis“, was nicht von ungefähr mit dem lateinischen Begriff gratia, Dankbarkeit zusammenhängt. Wenn man davon ausgeht, dass der Wunsch nach Dankbarkeit für Güter der Natur anthropologisch angelegt ist, kann man von dieser Haltung, die sich einen Adressaten sucht und sich in Lobpreis ausdrückt, möglicherweise einen Zugang zum Gottesglauben finden. Dann wäre der Glaube an einen Schöpfergott die Explikation dieser Erfahrung von Dankbarkeit, während konkrete Vorstellungen über ein bestimmtes Wirken und bestimmte Eigenschaften dieses Gottes als sekundär einzuordnen wären.

Biblische Schöpfungstheologie, die die Naturerfahrung coram Deo reflektiert und daher so etwas wie eine „Erfahrung mit der Erfahrung“ (Eberhard Jüngel) darstellt, drängt darauf, sich auch als Symbolpraxis handelnd zum Ausdruck zu bringen. Von daher steht sie nicht in einem antagonistischen, sondern viel stärker in einem komplementären Verhältnis zur diskursiven Rationalität der Moderne.

 

Vier Leitbegriffe biblisch inspirierter Schöpfungsverantwortung

 

In der vielschichtigen Debatte um die Konsequenzen des christlichen Schöpfungsglaubens für die Umweltethik sind es vor allem vier Begriffe, die sich als Leitkategorien herausgeschält haben:

  • Gottebenbildlichkeit: Der Mensch kann dem Weltverhältnis Gottes so entsprechen, dass er als sittliches Subjekt frei über sich selbst bestimmt. Dies macht seine besondere Würde aus und verpflichtet ihn zur Verantwortung gegenüber allen Kreaturen. Die Betonung der unantastbaren Würde des Menschen als Person und Ebenbild Gottes schließt keineswegs die Anerkennung des Eigenwerts der Natur aus, sondern ist in gewisser Weise deren logische Voraussetzung, insofern nämlich nur sittliche Wesen, also Personen, dazu fähig sind. Auch wenn es durchaus sehr unterschiedliche Interpretationen und Positionen zur „Anthropozentrik“ gibt, bleibt auch aus der Perspektive christlicher Schöpfungstheologie und Anthropologie festzuhalten, dass die Stellung des Menschen als sittliches Subjekt und von dort her auch ein humanistischer Zugang zur Umweltethik unaufgebbar sind. Dabei wird der Mensch schöpfungsethisch jedoch zugleich in der Würde seiner Verantwortungsfähigkeit und in seiner bleibenden Erdverbundenheit als „Adam“ („Erdling“ von adama Erde) gesehen. Er ist „Staub“, in seiner Begrenztheit ein Irdischer, eine der Erde zugehörige Kreatur. Eine biblisch orientierte Schöpfungsethik ist weder anthropo- noch bio- oder physiozentrisch, sondern theozentrisch. Gottebenbildlichkeit meint die Fähigkeit und Berufung zu Verantwortung, wobei biblische Ethik immer zugleich die ständige Möglichkeit der Verfehlung und des Scheiterns an diesem Anspruch mitdenkt.
  • Mitgeschöpflichkeit: Den Menschen verbindet mit allen übrigen Kreaturen das gemeinsame Geschaffensein von Gott. Dies verbietet, dass er seine Mitgeschöpfe nur als Mittel zum Erreichen seiner Zwecke behandelt. Die Achtung der Mitgeschöpfe ist eine notwendige Konsequenz der Gottesliebe. Als Geschöpf steht der Mensch in einer umfassenden Schicksalsgemeinschaft mit allen Lebewesen, denen ihr je eigener Ort im „Lebenshaus“ der Schöpfung zugewie­sen ist. Angesichts der Tatsache, dass gegenwärtig durch Klimawandel und die Zerstörung von Lebensräumen ein massives, erdgeschichtlich relevantes Artensterben stattfindet, verpflichtet dies zu intensiven Maßnahmen des Biodiversitäts-, Lebensraum- und Tierschutzes. Als konkrete Konsequenz einer Theologie der Mitgeschöpflichkeit sind bspw. für die Landwirtschaft Kriterien artgerechter Tierhaltung zu entwickeln und einzuhalten, wovon wir gegenwärtig weit entfernt sind.
  • Ehrfurcht: Dem christlichen Schöpfungsglauben geht es um eine Haltung der Ehrfurcht, die die Un­versehrtheit und Schönheit der Schöpfung inmitten von Leid und Konflikt immer wieder neu entdeckt und schützt. Die Ehrfurcht vor dem Schöpfer impliziert die Ehrfurcht vor dem Erschaffenen auch hinsichtlich der ihm innewohnenden Entfaltungsbedingungen. Im Fokus christlicher Umweltethik stehen nicht primär einzelne Schutzregeln für den Umwelt-, Natur-, Tier- oder Klimaschutz, sondern die Einübung einer Grundhaltung der Ehrfurcht, Freude und Dankbarkeit sowie der respektvollen Achtung gegenüber den Gütern und Lebewesen der Schöpfung. Auch staunende und achtsame Neugier, die nach Wissen strebt, kann Ausdruck einer solchen Ehrfurcht sein.
  • Ökonomie der Gabe: Christliche Schöpfungstheologie geht davon aus, dass die Güter der Schöpfung Gaben Gottes für alle Lebewesen sind. Ihr Fluchtpunkt ist nicht ein Denken in den Kategorien der Knappheit und der Konkurrenz, sondern in denen des Geschenkes und der Logik des Gebens, das Teilhabe und Fülle ermöglicht. Daraus folgt, dass die grundlegenden Umweltgüter, wie etwa ein stabiles, menschenverträgliches Klima, der Zugang zu sauberem Wasser, die Verfügbarkeit von fruchtbarem Boden oder Artenvielfalt gemeinwohlpflichtig sind. Dementsprechend unterliegen hierfür relevante Eigentumsrechte stets der Bedingung, dass die globalen und intergenerationellen Dimensionen des Gemeinwohls im Umgang mit den grundlegenden Naturgütern nicht verletzt werden.

Entscheidend für einen Neuansatz christlicher Umweltethik ist, die Zusammengehörigkeit dieser vier Aspekte zu erkennen und sie nicht gegeneinander auszuspielen: Die besondere Würde des Menschen als Gottes Ebenbild ist in der christlichen Schöpfungstheologie in keiner Weise so gedacht, dass dadurch seine Eingebundenheit in die Natur aufgehoben wäre. Nur in der Übernahme einer aktiven Gestaltungsverantwortung auch für die übrigen Kreaturen, mit denen ihn eine Schicksalsgemeinschaft verbindet, findet der Mensch seine schöpfungsgemäße Bestimmung und Identität. Die Haltung von Ehrfurcht, Respekt und Achtsamkeit muss sich auch unter den Bedingungen von Knappheit und Konkurrenzverhältnissen bewähren. Dieses ökonomische Paradigma kann jedoch nicht für eine Gesamtsicht der Natur generalisiert werden, diese wird vielmehr primär als Ort der Fülle des geschenkten und geteilten Lebens gesehen.

Schon diese knappe Skizze verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung mit den Modellen der Naturdeutung in der gegenwärtigen Ökonomie das entscheidende Feld ist, in dem christliche Umweltethik ihre Sicht bewähren und als Diskursangebot immer wieder kritisch, aber auch konstruktiv und kompromissbereit ins Gespräch bringen muss.

 

„Laudato si’“ – ein neues Kapitel in der Entwicklung der katholischen Soziallehre

 

Die Enzyklika Laudato si‘ ist ein neues Kapitel der Entwicklung der katholischen Soziallehre. Erstmals wird das komplexe Themenfeld der ökologischen Herausforderung umfassend auf der Ebene der päpstlichen Lehrschreiben behandelt. Ihr roter Faden ist das Postulat einer „ganzheitlichen Ökologie“, das an die Wendung „ganzheitliche Entwicklung“ aus der Entwicklungsenzyklika Populorum progressio von 1967 anknüpft. Es stellt diese jedoch erstmals konsequent unter den Anspruch ökologischer Erneuerung. Denn ohne eine solche alle Handlungsfelder durchdringende Erneuerung sind heute weder globale und intergenerationelle Gerechtigkeit noch humanverträgliche Technik zu denken.

Zentrale Leitlinien, die den Ansatz der Enzyklika prägen, sind:

(a) katastrophentheoretisch: Die Zeit drängt, die ökologischen Kapazitäten sind weitgehend erschöpft, für zahllose Menschen geht es um existentielle Fragen des Überlebens;

(b) ökosozial: Es besteht ein grundlegender Zusammenhang zwischen Umwelt- und Gerechtigkeitsfragen; globale und intergenerationelle Gerechtigkeit können nicht ohne Umweltschutz erreicht werden; zugleich muss Umweltschutz von den legitimen Interessen der Armen ausgehen;

(c) pragmatisch: Den Schrei der Schöpfung und der Armen zu hören und darauf mit einer entsprechenden Verantwortungspraxis zu reagieren, ist unmittelbar Glaubenspraxis und unausweichliche Aufgabe der Kirche heute;

(d) befreiungstheologisch: Um die ökologische Krise zu lösen, müssen unbequeme Fragen von Macht, Korruption und systemischen Fehlentwicklungen angesprochen werden;

(e) anthroporelational: Die christliche Tradition der Anthropozentrik muss hinterfragt und so differenziert werden, dass der Eigenwert der Schöpfung und die existentielle Verbundenheit aller Kreaturen in voller Weise anerkannt wird;

(f) transformativ: Jeder Einzelne ist zu einer „ökologischen Umkehr“ aufgerufen, einem Richtungswechsel in der Lebens- und Wirtschaftsweise.

Inhaltlich folgt die Enzyklika dem Aufbauschema „sehen – urteilen – handeln“. Sie beginnt mit einer aus dem intensiven Dialog mit verschiedenen Umweltwissenschaften hervorgegangenen Situationsanalyse, wobei insbesondere die „Vermüllung des Planten Erde“ (Nr. 20-22) hervorgehoben wird (1. Kapitel: „Was unserem Haus widerfährt“). Der theologisch-ethischen Urteilsbildung sind drei Kapitel gewidmet, die man als innovative Verknüpfung von Schöpfungstheologie, Ethik und Ökologie kennzeichnen kann (2. Kapitel: „Das Evangelium von der Schöpfung“; 3. Kapitel: „Die menschliche Wurzel der ökologischen Krise“; 4. Kapitel: „Eine ganzheitliche Ökologie“). Der praktische Teil ist in ein politisch-gesellschaftliches und ein pädagogisch-spirituelles Kapitel aufgeteilt (5. Kapitel: „Leitlinien für Orientierung und Handeln“; 6. Kapitel: „Ökologische Erziehung und Spiritualität“).

 

Der schillernde Begriff von Ökologie

 

Der Begriff Ökologie wird in der Enzyklika auf unterschiedlichen Ebenen verwendet, teilweise deskriptiv für ökologische Systeme und Wirkungszusammenhänge, teilweise normativ als Postulat eines ganzheitlichen Handelns, das stets die Wechselwirkungen zwischen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Faktoren im Blick behält. Ökologische und soziale Gerechtigkeit werden als untrennbare Einheit verstanden. Denn Umweltschutz ist gerade in den ökologisch sensiblen Regionen des Südens Medium der Armutsbekämpfung. Ökologie meint vor diesem Hintergrund nicht nur Naturschutz, sondern allgemeiner ein Denken in Beziehungszusammenhängen. Dieser methodische Ansatz entspricht zutiefst biblischem Denken, das den Menschen stets in seinen vielschichtigen und eng miteinander verwobenen Relationen denkt. Kennzeichnend für den vielschichtigen Begriff von Ökologie sind auch die Nominalverbindungen, in denen der Terminus gebraucht wird (Human-, Kultur-, Stadt-, Alltagsökologie u.a.; vgl. Nr. 137-162 in der Enzyklika).

Franziskus‘ Konzept von Ökologie stellt eine Weiterentwicklung der Humanökologie dar, wie sie seit 1991 leitend für nahezu alle päpstlichen Äußerungen zu Umweltfragen ist und in einer Variation den ursprünglich angekündigten Titel „Die Ökologie des Menschen“ prägte. So beispielsweise Kardinal Peter Turkson, der von Seiten des Päpstlichen Rates Justita et Pax für die Vorbereitung des Textes hauptverantwortlich war, bei einer Veranstaltung an der Katholischen Akademie in Bayern am 7.7.2014 (vgl. dazu auch zur debatte 6/2014). Zum seit 100 Jahren gebräuchlichen Konzept der Humanökologie sowie seiner Rezeption in der katholischen Soziallehre in meinem Text von 2014: Ökologische Gerechtigkeit und Humanökologie, in: Gabriel, I./Steinmair-Pösel, P. (Hg.): Gerechtigkeit in einer endlichen Welt. Ökologie, Wirtschaft, Ethik, 64-86.

Der Ausdruck ist jedoch umstritten, da er zuvor meist gebraucht wurde, um damit das Konzept der traditionellen Anthropozentrik zu verteidigen, das den Menschen im Mittelpunkt der Schöpfung sieht und allen anderen Wesen und Gütern der Natur nur im Blick auf ihn einen Wert zuerkennt. In geschickter Weise wird nun dieser Begriff zugleich aufgegriffen und modifiziert: Eingebunden in bioökologische Reflexionen ist eine naturalistische Leseweise des Konzepts der Humanökologie ausgeschlossen. Zugleich wird erstmals radikal auf Enzyklikenebene der „despotische“ moderne Anthropozentrismus kritisiert (Nr. 68f. und 115-136). Immer wieder hebt Franziskus den Eigenwert der Tiere und Pflanzen hervor und profiliert seine Ethik durch ästhetisch-poetische sowie spirituelle Zugänge zur Natur, was jedoch nicht weiter ethisch-systematisch entfaltet wird.

Erhellend für den philosophischen Hintergrund dieser Überlegungen zu einer ökologischen Ethik ist ein Blick auf die Tradition des Krausismo: Der Begriff bezeichnet die Rezeption des deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832), die sich kaum im deutschen Sprachraum entfaltet, jedoch seit den 1860ern im spanischsprachigen Raum sehr intensiv entwickelte. So fanden die Gedanken von Krause auch in Lateinamerika weite gesellschaftliche Verbreitung. Ihre Wirkung reicht Dierksmeier zufolge von der politischen Ideologisierung im Peronismus bis hin zur Entwicklung der argentinischen Befreiungstheologie. Deren geistiger „Vater“ Lucio Gera schließlich stellt als theologischer Lehrer von Franziskus das Bindeglied zum gegenwärtigen Papst dar.

Als Schüler Johann Gottlieb Fichtes zeichnet sich Krause durch den Versuch aus, Kants Anliegen einer vernünftigen Weltgestaltung umzusetzen, ohne in Fichtes radikalen Anthropozentrismus einer Frontstellung zwischen vernünftigem Subjekt und unvernünftiger Natur zu verfallen. Maßstab sind Verwirklichung und Vergrößerung der Freiheit, die aber nicht auf den Menschen reduziert bleibt, sondern sich in gradueller Abstufung in der gesamten Natur findet. Krause folgert daraus auch Rechte für künftige Generationen sowie für Tiere. Er formuliert damit eine philosophische Basis dessen, was Franziskus in Laudato si‘ theologisch und umweltethisch entfaltet. Die Kenntnis dieser Hintergründe ist äußerst hilfreich, um die gegenwärtige umweltethisch-schöpfungstheologische Debatte solide zu führen.

 

Das Klima als Kollektivgut

 

Die Enzyklika greift erstmals auf der Ebene der päpstlichen Lehrverkündigung das Problem des Klimawandels auf (Nr. 20-26). Dahinter steht eine lange Geschichte von Konferenzen und Gesprächen hierzu im Vatikan, in der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften und dem Päpstlichen Rat Justitia et Pax, in denen immer wieder die Einwände der Klimaskeptiker gehört wurden. Mit der Feststellung der anthropogenen (menschlich verursachten) Zusammenhänge als Hauptursache des Klimawandels, die eine mögliche Wirksamkeit anderer Faktoren nicht ausschließen (Nr. 24), bezieht Papst Franziskus eindeutig Stellung.

Methodisch bezeichnend ist, dass der Papst sein Plädoyer für entschlossenen Klimaschutz angesichts der Kontroversen um dieses Thema vor allem in den US-amerikanischen Kirchen mit kommunikationstheoretischen Überlegungen verknüpft: zum Umgang mit unterschiedlichen Meinungen (vgl. Nr. 60f.), zur Schwäche der bisherigen Reaktionen auf die Umweltkrise bei den Entscheidungsträgern (vgl. Nr. 53-59) sowie zur Perspektive der am Rande Stehenden, die oft bloß als „Anhängsel“ und „Kollateralschaden“ abgetan werden (Nr. 49). Der Papst kritisiert im Kontext der Klimadebatte „einen Mangel an physischem Kontakt und Begegnung, […] der dazu beiträgt, einen Teil der Realität in tendenziösen Analysen zu ignorieren“ (Nr. 49).

Die „Sorge für das gemeinsame Haus“ – so der Untertitel der Enzyklika – zielt auf eine „Hausordnung“ für den solidarischen Umgang mit den globalen Ressourcen. Dabei wird das Klima als „gemeinsames Gut“ apostrophiert (Nr. 23-26). Dies entspricht der von Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert formulierten Eigentumstheorie, von der her die Christliche Sozialethik das Postulat der Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums entwickelt hat. Bereits im Kompendium der Soziallehre der Kirche von 2004 wurde dies mit einer ethischen Reflexion zur Problematik von Kollektivgütern verknüpft und auf die Klimafrage angewendet (Nr. 171-184 und 466-487).

Ökonomisch lässt sich ein Großteil der globalen Umweltdegradation im Kern als Kollektivgutproblem modellieren: Es findet Ressourcenübernutzung statt, weil jeder, der Ressourcenschutz betreibt, den langfristigen Nutzen davon mit allen teilt, die Kosten jedoch individuell tragen muss. Elinor Ostrom hat weltweit anhand von Allmendenutzungen (z.B. Gemeindewiesen in den Schweizer Hochalpen) untersucht, wie Gesellschaften beschaffen sein müssen, dass Kollektivgutbewirtschaftung funktioniert. Darauf könnte eine vertiefende Interpretation der Enzyklika zurückgreifen. Der Text deutet aber auch selbst wichtige Impulse in diesem Bereich an – insbesondere im Blick auf regionale Gemeinschaften und Lebensstile in lateinamerikanischem Kontext (Nr. 143-155).

Die Auffassung des Klimas als Kollektivgut hat weitreichende Konsequenzen für staatliche und gesellschaftliche Pflichten zum Klimaschutz. Sie fordert letztlich nichts Geringeres als die Transformation des Völkerrechts vom Koexistenz- zum Kooperationsrecht und damit einen neuen globalen Völkervertrag. Franziskus spricht in diesem Zusammenhang von „gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortlichkeiten“ zum Klimaschutz (Nr. 170). Die eng mit dem Klimawandel verbundene Wasser- und Ernährungskrise wird als zentrale Herausforderungen benannt und aus ethischer Perspektive reflektiert. Eine konkrete Forderung der Enzyklika in diesem Zusammenhang ist die Anerkennung der Menschen, die aufgrund ökologischer Degradation ihre Lebensräume verlassen müssen, als Flüchtlinge mit entsprechendem rechtlichem Status (Nr. 25).

 

Franziskanische Spiritualität und Biophilie

 

Innovativ ist die Enzyklika nicht zuletzt dadurch, dass sie ihre kritische Zeitanalyse mit eindringlichen theologischen und anthropologischen Reflexionen verbindet. Sie versteht Umweltschutz als Glaubenspraxis und rückt ihn damit ins Zentrum des Selbstverständnisses von Kirche und Theologie. Trotz aller Sorge um Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Müllprobleme und Wasserknappheit sowie die damit verbundene soziale Not ist die Enzyklika auf einen Grundton der Ermutigung und der Dankbarkeit für die Gaben der Schöpfung gestimmt: Laudato si‘, das Lob des Schöpfers, ist der Titel, der über allem steht. Er ist aus dem Sonnengesang des Franz von Assisi entlehnt, dessen Spiritualität der Freude, Einfachheit und geschwisterlichen Beziehung zu den Mitgeschöpfen die Enzyklika trägt. Schon mit der Wahl des Namens Franziskus bei seiner Wahl zum Papst hat sich der Jesuit Jorge Mario Bergoglio SJ eine ökologische Programmatik gegeben, da der naturverbundene Heilige seit 1979 als „himmlischer Patron der Umweltschützer“ gilt. Man kann die Enzyklika auch in die Tradition jesuitischer Frömmigkeit einordnen, die sich mit dem ignatianischen Motto „Gott in allen Dingen finden“ umschreiben und als Spiritualität der Weltzugewandtheit und der Aufmerksamkeit charakterisieren lässt.

Unter Bezugnahme auf die besonders in Lateinamerika starke Tradition des „buen vivir“, also des guten Lebens, geht Franziskus davon aus, dass ein Kulturwandel im Verhältnis zur Natur einen Gewinn an Lebensqualität, wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gemeinschaft bringen wird. Franziskus postuliert eine „ökologische Umkehr“ (Nr. 5 und 216-221) und spricht nicht weniger als 55 Mal von einer Erneuerung des Lebensstil und der Konsummuster. Während in den öffentlichen Debatten Lebensstilfragen meist als eine bloß private und damit individuelle Angelegenheit betrachtet werden, bezieht der Papst mit seiner Kritik der Lebensstile die Position, dass diese angesichts ihrer globalen Folgen rechtfertigungsbedürftig sind.

Diese gesellschaftspolitische Dimension der scheinbar privaten Fragen von Spiritualität und Lebensstilen kommt auch in der Leitmetapher „Mutter Erde“ zum Ausdruck: Diese ist in der lateinamerikanischen Tradition verwurzelt. So haben Ecuador und Bolivien 2008 bzw. 2009 den „Schutz der Mutter Erde“ und das „buen vivir“ (gutes Leben) gegen postkoloniale Ressourcenausbeutung in ihre Verfassungen geschrieben. Vor diesem Hintergrund enthalten schon die ersten Zeilen der Enzyklika eine Verknüpfung religiös-spiritueller und politischer Ebenen.

Umweltethisch könnte man den Gehalt der Enzyklika als eudaimonistisch kennzeichnen. Eudaimonistische Werte zielen auf leiblich-sinnlich vermittelte Freude an der Natur und unterscheiden sich sowohl von rein funktionalen wie von rein intrinischen Werten. Die Fähigkeit die Natur zu genießen, wurde in der Moderne unter der Dominanz eines instrumentellen Naturverhältnisses teilweise vernachlässigt. Jedenfalls bedarf sie der Pflege und Einübung. Naturgenuss gilt vielen Menschen lediglich als Freizeitvergnügen und wird daher oft eher als bürgerlich-reaktionärer Luxus eingestuft. Er ist jedoch eine anthropologische Grundkategorie, der eine fundamentale Bedeutung für die Entwicklung und Identität des Menschen zukommt.

In der Umweltpsychologie wird dies auch als Biophilie-Hypothese umschreiben. Diese geht von einem psychischen Zusammenhang zwischen geistig-seelischer Gesundheit und Naturgenuss wie etwa schöne Landschaften aus. Die Naturphilosophin Angelika Krebs spricht von therapeutischen Landschaften als Grundwert für menschliche Entfaltung und Lebensqualität und damit für Gerechtigkeit. Ähnlich Martha Nussbaum, die den Naturgenuss zu den grundlegenden menschlichen Fähigkeiten rechnet und damit als eine der Basiskategorien von Gerechtigkeit einstuft.

Viele sprechen auch von transästethischer Naturerfahrung, womit eine existenzielle, über den konsumptiven Genuss des Naturschönen hinausgehende Dimension gemeint ist. Diese stellt aus der Perspektive der säkularen Naturethik einen Grenzbereich dar, der häufig auch als „spiritueller Wert umschrieben“ wird. Selbst in politischen Texten ist seit einigen Jahren von „spiritual values“ die Rede. So beispielsweise im Millenium Ecosystem Assessment (MEA 2005), der weltweit ausführlichsten Bilanzierung der sogenannten Ecosystem-Services.

 

Christliche Schöpfungsverantwortung als Transformationsethik

 

Lange stand die christliche Naturethik ganz im Zeichen einer naturrechtlichen Ordnungsethik, die im Kern darauf ausgerichtet war, bestehende Ordnungen zu stabilisieren. Die Schöpfungsethik des frühen 21. Jahrhunderts hat diesen Aspekt umgekehrt: Transformation, Erneuerung und „Umkehr zum Leben“ sind nun leitenden Stichworte. Als Beispiel mag der ökumenischen Prozess „Umkehr zum Leben“ dienen, der parallel zu den Sustainable Development Goals (SDGs) bis 2030 angelegt ist: http://www.umkehr-zum-leben.de.

Dem lässt sich auch die Enzyklika mit ihrer Zuspitzung auf die Notwendigkeit einer „ökologischen Umkehr“ (Nr. 216-221) zuordnen. Mit ihrer aufrüttelnden Gesellschaftskritik im prophetischen Stil zielt sie auf eine umfassende Transformation der Wirtschafts- und Lebensformen. Der Papst spricht jeden Einzelnen sehr konkret in seinen Möglichkeiten der Lebensstilgestaltung sowie seiner individuellen Naturbeziehung und Spiritualität an.

Bezogen auf den gegenwärtigen umweltethischen Diskurs kann man Laudato si‘ in die Transformationsethik einordnen: Charakteristisch ist eine Akzentverlagerung von Begründungsfragen zu solchen der erkenntnistheoretischen und sozialen Bedingungen für gesellschaftlichen Wandel. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Frage „Warum sollen wir uns wandeln?“, sondern „Wie kann der unvermeidliche Wandel gelingen?“. „Transformation by design“ statt „transformation by desaster“ lautet die einprägsame Formel, die Harald Welzer und Bernd Sommer hierfür vorgeschlagen haben.

Die Akzentverlagerung von der Ordnungs- und Transformationsethik in der Umweltethik hat einen naturphilosophischen Hintergrund, für die die Prozesstheologie von Whitehead von zentraler Bedeutung ist: Schöpfung ist Kreativität, ist ständiger Wandel. Whitehead hat bereits vor Einstein wesentliche Elemente der Relativitätstheorie philosophisch entfaltet. Bereits im frühen 20. Jahrhundert hat er die Absolutsetzung und Isolierung des Subjektes bestritten. Hier ergeben sich wesentliche Konvergenzen zur ökophilosophischen Kritik der Subjektphilosophie von Schelling und dem deutschen Idealismus, wie sie Karl Krause vorgelegt hat und wie sie nicht zuletzt in der Enzyklika Laudato si‘ ihren Widerhall findet. Whitehead ist bis heute eine der innovativsten Quellen der Umweltethik, sei sie christlich oder säkular. Aus meiner Sicht ist er für das Gespräch zwischen Naturwissenschaft und (Schöpfungs-)Theologie ein unverzichtbarer Gesprächspartner.

Das Verständnis der Schöpfung als Prozess des ständigen kreativ-schöpferischen Werdens, als creatio continua, kommt der biblischen Schöpfungsvorstellung viel näher als die lange ausschließlich im Blick stehende creatio prima, die Erschaffung der Welt am Anfang als einmaliger Akt. Von daher ist auch die konservative Rede von Bewahrung der Schöpfung, an die wir uns im kirchlichen Ökokontext gewöhnt haben, höchst missverständlich: Das, was an der Natur zu bewahren ist, ist oft nicht ein bestimmter Zustand, sondern ihre Fähigkeit zu Entwicklung und Ressourcenregeneration, nicht die natura naturata, sondern die natura naturans, wie es der jüdische Naturphilosoph Spinoza nannte. Mit diesem Konzept hat Spinoza ganz wesentlich den gegenwärtig weltweit führenden umweltethischen Leitbegriff beeinflusst: Nachhaltigkeit, wie er 1713 von dem Dresdner Forstwissenschaftler Carl von Carlowitz geprägt wurde. Carlowitz war begeisterter Anhänger von Spinoza und legt seinem Konzept der Nachhaltigkeit eine halb spinozistisch, halb pietistisch geprägte Naturfrömmigkeit zugrunde.

Eine christliche Umweltethik im Geist des biblischen „Gärtnerauftrags“ (Gen 2, 15) zielt nicht auf statisches Bewahren, sondern auf eine dauerhaft tragfähige Gestaltung des menschlichen Naturverhältnisses durch Einbindung des Zivilisationssystems in das es tragende Netzwerk der ökologischen Systeme. Für das ethische Postulat einer solchen „Gesamtvernetzung“ und Rückbindung der Zivilisationsentwicklung an die Entfaltungsbedingungen der Natur hat Wilhelm Korff – auf das lateinische rete, das Netz, zurückgreifend – den Begriff Retinität geprägt. Gemäß dem Retinitätsprinzip ist Umweltethik weniger als Anwendungs- oder Bereichsethik zu konzipieren, sondern vielmehr als ein umfassendes Integrationskonzept für die komplexen Entwicklungsprobleme moderner Gesellschaft. Orientierungsmaßstab ist dabei das Leitbild einer dynamischen Stabilisierung der komplexen Mensch-Umwelt-Zusammenhänge. Erforderlich ist eine verstärkte Berücksichtigung der Möglichkeiten und Grenzen einer Steuerung vernetzter, also komplexer dynamischer Systeme in moderner Gesellschaft. Maßgeblich hierfür ist derzeit die Erdsystemforschung.

Die Geologen sprechen in diesem Zusammenhang seit kurzem von einer neuen erdgeschichtlichen Epoche, dem Anthropozän, dem Zeitaltes des Menschen. „Die Welt in unserer Hand“ titelte selbst das Deutsche Museum mit einer großen Ausstellung hierzu. Meist wird der Begriff des Anthropozäns dem Atmosphärenphysiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen aus dem Jahr 2000 zugeschrieben; kaum einer weiß, dass dieser Begriff bereits eine fast 150jährige Vorgeschichte in der Theologie hat, nämlich bei dem italienischen Theologen und Biologen Stoppani. Es wäre hilfreich, diese Begriffsgeschichte ein wenig zu kennen, um kritisch gegenüber rein systemtheoretischen Modellierungen der Mensch-Umwelt-Verhältnisse mit entsprechenden soziotechnischen Hoffnungen beispielsweise auf climate engeneering zu sein.

Vor dem Hintergrund christlicher Schöpfungstheologie ist gegenüber solchen Projekten eine gewisse Demut angesagt: Der Mensch ist zwar zur Freiheit und einem hohem Maß an Naturbeherrschung befähigt, er verstrickt sich aber immer wieder in Schuld und Hybris. Freiheitsgefährdung ist heute nicht in erster Linie die unbeherrschte Natur, sondern das unbeherrschte Machtstreben des Menschen. Mit der biblischen Verknüpfung von Schöpfungstheologie und Anthropologie kann christliche Theologie heute wesentlich zur kritischen Selbstaufklärung des Anthropozän-Diskurses beitragen.

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  • Im Rahmen der Veranstaltung „Biocomputing“, 27.11.2024

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema: Theologie | Kirche | Spiritualität

Reinhardhauke
Das Buch Hiob I
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 12.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob II
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 19.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob III
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 26.01.2026
Shutterstock/Alexandros Michailidis
Ordo-socialis-Preis 2025 an Sylvie Goulard
Politische Strategien gegen die radikale Rechte in Europa
Dienstag, 27.01.2026
Ministerie van Buitenlandse Zaken/Wikimedia Commons
Menschenrechte verteidigen!
Auf der Suche nach einer Gesamtstrategie
Mittwoch, 28.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob IV
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 02.02.2026
naturalista_Canva
Aufklärung und Religion
Historische Tage 2026
Donnerstag, 19.02. - Samstag, 21.02.2026
HAI LATTE von Carsten Strauch, Piotr J. Lewandowski
Augenblicke
Die Kurzfilmrolle 2026
Donnerstag, 26.02.2026