I.
Eine kurze Vorbemerkung zur Begrifflichkeit scheint notwendig: Der Gebrauch des Wortes „katholisch“ als distinktive Bezeichnung des konfessionellen Unterschiedes ist vergleichsweise jung und erst im Fortgang der reformatorischen Auseinandersetzung als Bezeichnung für all jene Christen üblich geworden, die in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts an der Einheit mit dem Papst und den Traditionen von Eucharistieverständnis, Liturgie und kirchlicher Struktur festhalten wollten und den Bruch mit Rom ablehnten. Als es zum Konflikt kam, bei dem die kirchlichen Autoritäten in Frage gestellt wurden, der bald auch – vor allem und stärker als anderswo – im Deutschen Reich zu einem gesellschaftlichen und politischen Streit wurde, kam es schließlich zur Spaltung. Die Profilierung der Parteiungen gegeneinander, der Vorgang der Konfessionalisierung, der vom 16. Jahrhundert letztlich bis ins 19. Jahrhundert dauerte, führte zur Distinktion zwischen „katholisch“ auf der einen Seite und „evangelisch“ und „reformiert“ auf der anderen Seite. In der Sprache des 16. Jahrhunderts unterschied man zwischen den „Altgläubigen“ und den Anhängern der „Reformation“.
Auch die Formulierung „Bild des Menschen“ scheint mir erklärungsbedürftig. Sie schließt weit mehr ein als bildliche Darstellungen, auch wenn es bei einem Redner, der als Kunsthistoriker spricht, selbstverständlich auch um „Bilder“ des Menschen geht. Doch ist der im Titel der Tagung gebrauchte Begriff „Menschenbild“ vieldeutig und gründet tiefer. Er stammt aus der philosophischen beziehungsweise theologischen Anthropologie und meint Vorstellungen zum Wesen des Menschen. Spricht man vom „Menschenbild“, das sich im „Blick auf den Menschen“ offenbart, betrifft dies einerseits grundsätzliche Wesensmerkmale und Eigenschaften, andererseits aber auch jene Vorstellungen, die sein Denken und Handeln bestimmen, die seine sozialen Werte und die Beziehungen des Menschen zu anderen betreffen, eine Dimension, die auch in seiner religiösen Praxis deutlich wird. Beide Aspekte – der Mensch für sich allein und der Mensch in Interaktion – sind eng miteinander verwoben und in der historischen Rückschau nicht voneinander zu trennen, beide haben ihren Niederschlag in den Bildkünsten gefunden, auch wenn die Bilder jener Zeit oft nur indirekte Rückschlüsse gestatten: Mein Beitrag präsentiert eher Wirkungen oder Spieglungen eines bestimmten Menschenbildes. Deutlicher ließe sich diese Frage aus der Literatur und aus personenbezogenen Quellen wie Briefen oder Testamenten beantworten.
Die katholisch-altgläubige Perspektive des Menschenbilds in der Reformationszeit deckt sich im Wesentlichen mit den traditionellen Vorstellungen vom Menschen, die seit dem Hochmittelalter ausgeprägt waren und deren Gültigkeit von den Anhängern der alten Kirche nicht in Frage gestellt wurden, wenngleich in den Anfängen dieser Auseinandersetzungen gerade in den gebildeten Kreisen deutliche Sympathien für die Anliegen einer durchgreifenden Kirchenreform formuliert wurden. Jene, die sich nicht zur Abkehr von der alten Kirche entschlossen oder von ihrer Obrigkeit dazu verpflichtet wurden, hielten am traditionellen Welt- und Menschenbild des Spätmittelalters fest, auch wenn neue Akzente erkennbar sind. Das katholisch-altgläubige „Menschenbild“, vorsichtiger: der „Blick auf den Menschen“ besteht in Darstellungen deswegen oft in einem Reflex: Wie das Verhältnis des Menschen zu Gott verbildlicht wird, lässt darauf schließen, wie sich der Mensch selbst sah und verstand, in seiner Begrenztheit, Hilfsbedürftigkeit und Heilssehnsucht. Während die allgemeine Bestimmung des Menschen wohl insgesamt wenig Konfliktstoff bot, zeigt der Blick auf den Menschen in seiner Frömmigkeit, in dem durch seinen Glauben und seine Hoffnungen bestimmten Handeln sehr unterschiedliche Bewertungen. Ich versuche beide Aspekte – den allgemeinen und den spezifischen – in der Perspektive der katholisch-altgläubigen Seite in den Spiegelungen der Bildkünste vorzustellen.
II.
Das traditionelle Menschenbild im Spätmittelalter war im Wesentlichen schon in der Frühscholastik ausgeprägt und definierte den Menschen zunächst als Geschöpf Gottes, nach Gottes Bild geschaffen, von seinem Schöpfer aber auch signifikant unterschieden, schon weil der Mensch sich im Gegensatz zur Ewigkeit seines Schöpfers als zeitlich erfuhr: Der Wandel durch die einander ablösenden Lebensalter und die Sterblichkeit am Ende charakterisieren das geschöpfliche Leben des Menschen.
Daran erinnern Darstellungen der Lebensalter und des Glücksrads, aber auch die Bilder zur „Ars moriendi“, der „Kunst des Sterbens“. Der Holzschnitt stammt aus einer größeren Serie mit Szenen, die unterschiedliche Modelle des Sterbens zeigen: den guten Tod, bei dem der Sterbende sich Gottes Gericht und Urteil bewusst ist, und den schlechten Tod, bei dem der Mensch noch in seiner Sterbesunde sündigt durch Habsucht, Zorn, Hochmut, Begehrlichkeit, Übermaß. Die Aussage des Holzschnitts greift über das moralische Argument hinaus: Unten rechts sieht man als bedrohliche Gegenfigur den Teufel, der die Hochmütigen ins Höllenfeuer zieht. Der zeitgenössische Betrachter wurde hier mit einer menschlichen Grundbestimmung vertraut gemacht: Der Mensch ist mit Vernunft begabt, die ihn zur Einsicht befähigt, aber auch mit dem freien Willen, der es ihm ermöglicht zu sündigen. Die Gabe der Vernunft unterscheidet den Menschen ebenso vom Tier wie die Beseelung. In der Hochscholastik hatte die neuplatonische Dichotomie von Leib und Seele noch deutlich nachgewirkt, seit dem 13. Jahrhundert setzte sich dann nach und nach eine aristotelisch geprägte Auffassung durch, wonach die Kräfte der Seele nur in Verbindung mit dem Leib aktiv würden, die volle Person des Menschen eben aus Leib und Seele bestehe. Das Verhältnis zum Körper blieb allerdings ambivalent: Auf der einen Seite war dies derjenige Teil des Menschen, der Sünde und Tod ausgesetzt war, auf der anderen Seite war er Ebenbild Gottes. Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, verkörperte das ideale Bild des Menschen, dessen Physiognomie man noch dazu aus apokryphen Beschreibungen wie dem Lentulus-Brief zu kennen glaubte und zu imaginieren bemüht war. Außerdem sollten, so bekannte man im Credo, bei der Wiederkehr Christi zum Gericht die Toten einen neuen Leib erhalten. Dass dabei der Mensch körperlich auferstehe, führte nicht nur zu komplizierten Erwägungen spätscholastischer Theologen, sondern auch zu so eigentümlichen Bildschöpfungen wie zum Beispiel in der Wallfahrtskirche Untermais in Südtirol, wo in einem Wandgemälde ein Rabe dem noch unvollständigen Auferstehenden einen Arm bringen muss, um dessen Auferstehungsleib zu komplettieren.
Schon in der hochmittelalterlichen Kosmologie galt unbestritten, dass der Mensch als Teil des von Gott geschaffenen Kosmos mit den Kräften der Natur verbunden war, dass er die Ordnung von Welt und Natur in seiner eigenen Körperlichkeit widerspiegle und als „Mikrokosmos“ zu verstehen sei. Charakteristisch für den Menschen galt deswegen nicht nur die Geschlechterdifferenz von Mann und Frau, sondern auch der Einfluss der Gestirne auf das Wohlergehen des Körpers, das man mit Hilfe des Aderlassens zu regulieren suchte. Regelmäßig war seit der Spätantike auch von Planetenkindern die Rede. Man glaubte, Menschen würden in ihren charakterlichen, physischen und sozialen Merkmalen, in Temperament, Physiognomie und Berufswahl von jenem Planeten bestimmt werden, in dessen wechselndem Wirkungsbereich diese geboren waren und im Augenblick der Empfängnis oder Geburt auf diese Weise bestimmte Wesensmerkmale erhalten hätten. Die Vorstellung der regierenden Tierkreiszeichen wurde häufig bildlich umgesetzt, regelmäßig setzte man seit dem späteren Mittelalter zu den Planeten (die man ganz in der antiken Tradition personifizierte) auch ihre „Kinder“ ins Bild.
Mit dem Einfluss der Gestirne stand ein Erklärungsmodell für die Frage nach Individuum und Individualität zur Verfügung, eine der großen Fragen der Renaissance, mit dessen Hilfe sich die Ausprägung der einzelnen Persönlichkeit erklären ließ, ohne dass es die einzige und ausschließliche Erklärung dafür gewesen wäre. Die Humanisten entdeckten am Vorbild der Antike, die sie nachzuahmen und wiederzubeleben suchten, auch das persönliche Streben und die persönliche Leistung als Wesenszug des Individuums. Wie die zeitgenössischen Darstellungen von Gelehrten und Kaufleuten zeigen, wurde damit die Individualität der Person selbst, nicht mehr historische Tat, fürstlicher Rang oder geistliche Würde, zum Bildthema. Nicht allein aus Gründen der Sorge um die Erinnerung im Gedächtnis künftiger Generationen oder der Repräsentation wegen hatte deswegen die Bildaufgabe des Porträts seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert eine erste Hochkonjunktur.
III.
Die spätmittelalterliche Umwelt war eine relativ fest gefügte Ordnung, geprägt durch Strukturen wie die ständische Gesellschaft und das Regelwerk des kirchlichen Lebens. Der einzelne erfuhr sich zwar als Individuum, vor allem aber als Teil einer bestimmten Gruppe, die durch lebensweltliche Kategorien definiert war und umgekehrt den Blick auf den jeweiligen Menschen stark mitbestimmte. Der vor wenigen Jahren verstorbene französische Historiker Jacques Le Goff benannte als Kategorien dafür Mönche, Krieger, Bauern, Städter, Intellektuelle, Künstler/Handwerker, Kaufleute, Frau und Familie, Heilige und Außenseiter (Dirnen, Bettler, Henker, Gaukler, Totengräber). In der grundsätzlichen Ambivalenz des zeitgenössischen Menschenbilds, das den Christen beschrieb als ebenso auserwählt wie angefochten, als zur ewigen Seligkeit berufen und doch sündig, kam dem Denken und Handeln des Einzelnen für sein Seelenheil eine ganz entscheidende Bedeutung zu. Die während seiner Lebenszeit vollzogenen Taten würden – dessen war man sich sicher – am Ende der Tage in einer großen Abrechnung im Guten wie im Schlechten summiert, abgewogen und für gut oder schlecht befunden werden, so wie es auch in zahllosen Bildern dargestellt war.
Vom Ausgang dieser endzeitlichen Abrechnung hing das weitere Schicksal ab: die Aufnahme ins Paradies oder die Verdammnis und Verurteilung zu den Strafen der Hölle. Die alltäglichen Lebensumstände ließen kaum zu, die Erinnerung an Begrenztheit und Tod zu verdrängen; die Bilder dazu taten ein Übriges. Die Endzeiterwartung betraf jeden Menschen einzeln und die Gesamtheit aller Menschen, gleich welchen Standes. Lochners Bild zeigt noch an den zum Gericht aus ihren Gräbern Gerufenen die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen. So sieht man in der Hölle – durchaus mit einem gewissen kirchenkritischen Unterton – auch Papst, Kardinal, Bischof und Kleriker. Die Theologen des Mittelalters hatten auf der Grundlage der Bibelauslegung durch die Kirchenväter, besonders jener des Augustinus, die Lehre von den letzten Dingen formuliert, ein als verbindlich geltendes Deutungsmodell. Voraussetzung dafür waren die an verschiedenen Stellen des Alten und Neuen Testaments beschriebenen, keineswegs übereinstimmenden Aussagen über das Ende der Zeit und die dann anbrechende neue Ordnung. Die Bildüberlieferung illustriert die Textgrundlagen ebenso wie die daran anknüpfenden Harmonisierungsversuche. Man kann im Wesentlichen zwei Modelle unterschieden: Das eine geht auf Mt 25,31ff. zurück, das andere auf die Schriften des Johannes. Im ersten Fall geht es um die Letzten Dinge, die den einzelnen betreffen, im anderen, um das allgemeine Gericht über alle Menschen. Der Einzelne werde unmittelbar nach dem Tod einer ersten Beurteilung unterworfen und verweile dann bis zum Jüngsten Tag vorläufig und vor der endgültigen Auferstehung des Leibes in einem Zwischenbereich, seit dem 13. Jahrhundert als Läuterungsort, „Fegefeuer“ beschrieben. Erst mit der Wiederkehr Christi zum Weltgericht breche die Endzeit an, geschehe die leibliche Auferstehung der Toten, werde diesen endgültig Himmel oder Hölle zugewiesen, wie es in zahlreichen dramatischen Verbildlichungen des Spätmittelalters vor Augen stand.
Die Furcht vor dem Gericht war groß. Prediger wie der Franziskaner Johannes von Capistran ermahnten zur Umkehr und zu bußfertigem Leben. Ursprünglich Jurist, war er nach einem weltlichen Leben als Richter und Diplomat 1416 in Perugia Franziskaner der strengen Observanz geworden und Schüler Bernardins von Siena. Mehrere Päpste beauftragten ihn, als Inquisitor gegen Fratizellen, Juden in Sizilien, Moldawien und Polen vorzugehen, aber auch gegen Hussiten und Juden in Schlesien, Ungarn, Böhmen und Mähren: Aufträge, die er mit aller Härte und Entschiedenheit ausführte. Sein Ruf verschaffte ihm nicht nur großen Zulauf bei seinen öffentlichen Bußpredigten, bei denen er regelmäßig seine Zuhörer dazu aufforderte, als Zeichen ihrer bußfertigen Gesinnung Bücher und Luxusgegenstände auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen, wie es ein in Bamberg erhaltenes Tafelbild aus der Zeit um 1470 zeigt. Seine strenge Frömmigkeit und asketische Lebensführung, verbunden mit einer entsprechenden Rhetorik, verfehlten ihre Wirkung auf seine Zuhörer nicht, die ihn schon zu Lebzeiten als heiligmäßig verehrten. Das Beispiel seiner großen Wirksamkeit ist charakteristisch für die Stimmung in den Jahrzehnten vor der Reformation. Man hat ermittelt, dass in Oberösterreich die Zahl der Messstiftungen nach 1450 kontinuierlich anwuchs bis zum Höhepunkt 1517 (dann freilich fast schlagartig zurückging). In einer Stadt wie Hamburg gab es bis zur Einführung der Reformation insgesamt 99 Bruderschaften, die meisten davon erst nach 1450 gegründet. Es gab wohl zu keiner anderen Zeit so viele Feiertage und Prozessionen. In diesem Zeitraum ist außerdem im ganzen deutschsprachigen Raum, von der Ostsee bis nach Holland, von Kärnten bis ins Elsass, von Norddeutschland bis Südtirol, eine neue intensive Bautätigkeit festzustellen: Unzählige spätgotische Kirchen wurden gebaut und oftmals mit größtem Aufwand ausgestattet. Zum allergrößten Teil beruhte dies alles auf dem Stiftungswesen des Spätmittelalters.
Fragt man nach dem Menschenbild, das sich auch in den Bildkünsten erkennen lässt, so gibt es vielfältige Anzeichen dafür, dass in der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen sich der Mensch in einem Zustand dauerhafter Anfechtung und gravierender Heilsbedürftigkeit befand. Die „Heilssehnsucht“ korrespondierte der Verunsicherung. Existenznot und Hilfsbedürftigkeit führten zu übersteigertem religiösen Übereifer, skrupulöser Vorsicht, zu Strategien der Vergewisserung, wenn etwa Graf Werner von Zimmern 1483 1000 Seelenmessen für sich feiern ließ oder der geldrische Herzog 1469 befahl, nach dem Tod seiner Frau die Glocken aller Arnheimer Kirchen drei Tage lang zu läuten. Während dieser Zeit sollten in allen Kirchen alle Priester stille Messen feiern und das Totenoffizium beten. Die Frage, was man tun müsse, wie man leben solle, um vor dem künftigen Gericht zu bestehen und in die ewige Seligkeit gelangen zu können, war eine dauerhafte, lebenslange Anforderung, die nicht allein durch Glaube und Gebet erfüllbar schien, obwohl es gerade im Spätmittelalter zu einer Differenzierung und Intensivierung gerade der privaten Frömmigkeit gekommen war.
Diese – die private Frömmigkeit – konzentrierte sich in besonderer Weise auf die Passion Christi, die dem Einzelnen zur Nachempfindung in Gebet und Betrachtung anempfohlen war. In der Volksfrömmigkeit des späten 15. Jahrhunderts war der Subjektivismus der Mystik des vorausgehenden Jahrhunderts in einer populären, vereinfachten Form wirksam geblieben. Die zahlreichen Bildzeugnisse zur Passion zeigen das Bestreben, diese in ihren Einzelheiten möglichst anschaulich zu schildern, um es dem Gläubigen zu erleichtern, sich in dieses Geschehen zu vertiefen und es sich ins Gedächtnis zu rufen. Der den zeitgenössischen Passionsdarstellungen innewohnende Realismus entsprach einem für das Spätmittelalter kennzeichnenden Streben nach sinnlicher Anschaulichkeit. Das Bedürfnis, etwas sehen, ja berühren zu können, ist an vielen Stellen belegt, das „Schauverlangen“ etwa führte zur zweiten Elevation der Hostie in der Messe.
Neutestamentliche Texte wie der Jakobusbrief gaben einen Anhalt für die Vorstellung, dass der untätige Glaube, ein Glaube ohne Taten, ohne gute Werke, nichts fruchte. Augustinus hatte auf dieser Grundlage (und in einem gewissen Gegensatz zur paulinischen Gnadenlehre) die Vorstellung weiterentwickelt, dass es möglich sei, übernatürlichen Verdienst zu erwerben durch gute Werke – ein Gedanke, den später die Reformatoren ablehnen sollten, weil sie darin eine Schmälerung der Gnade und der Verdienste Christi sahen.
Unabhängig davon, ob man mit Thomas von Aquin der biblisch begründeten Annahme folgte, dass für die Verdienstlichkeit guter Werke die innere Disposition des Handelnden Voraussetzung sei, oder mit Duns Scotus und den spätmittelalterlichen Nominalisten von der Möglichkeit einer freien, voraussetzungslosen Annahme guter Werke durch Gott ausging, führte diese Überzeugung im Spätmittelalter zu einer unübersehbaren Fülle von unterschiedlichen Stiftungen, die darauf schließen lassen, dass man im Alltag vereinfachend von einer Ökonomisierbarkeit des Heilserwerbs ausging und sich von nachhaltiger Stiftung auch nachhaltiges endzeitliches Heil erhoffte. Wie sehr man sich dessen sicher zu sein glaubte, mag das öfter zitierte Beispiel der Bruderschaft „Unserer Lieben Frau“ in s‘Hertogenbosch belegen, die einem verstorbenen Mitglied der Bruderschaft 1465 einen Brief an den Heiligen Petrus in den Sarg legte, damit der Verstorbene, unter Berufung auf die durch die Bruderschaft verrichteten guten Werke, ungehindert die Himmelstür würde passieren können. Es kam hinzu, dass man glaubte, auch stellvertretend für Verstorbene und für künftige Nutznießer ein solches himmlisches Guthaben ansammeln zu können.
Auf solchen Stiftungen basierte ein großer Teil des mittelalterlichen Sozialwesens, der kollektiven Sorge um Arme und Kranke. Diese war zwar als allgemeine Pflicht christlicher Nächstenliebe zu verstehen, aber ohne das Almosen- und Stiftungswesen der Zeit hätte diese Aufgabe nur unzureichend erfüllt werden können. Solche Stiftungen betrafen Messstipendien, mit deren Feier mehrfacher geistlicher und endzeitlicher Gewinn zu erreichen war, für den zelebrierenden Priester, für die anwesenden Zeugen der Liturgie, für den Stifter und für den- oder diejenigen, deren Seelenheil die Stiftung zugutekommen sollte. Gestiftet wurden aber auch Pfründen, um Geistliche zu entlohnen. Im Dom von Konstanz, einem Bischofssitz, bestanden 54 Altarstiftungen, im Ulmer Münster, einer Pfarrkirche, etwa gleichviel, an der Elisabethkirche in Breslau gab es gegen 1500 122 Messpfründen an insgesamt 47 Altären. Gestiftet wurden Ausstattungsgegenstände aller Art, vom Reliquienbehältnis oder Altargerät bis zum Kerzenwachs, von der liturgischen Gewandung bis zum Altarretabel oder Reliquienschrein.
Alle diese Werke sind Zeugnisse für das Selbstverständnis ihrer Auftraggeber, die um ihr künftiges Heil sorgten, wenngleich neben religiösen gewiss auch andere Beweggründe eine Rolle gespielt haben mögen. Gerade im Zeitalter des Frühkapitalismus, einer Zeit neuen Reichtums und sozialen Aufstiegs, dürfte auch das Repräsentationsbedürfnis konkurrierender städtischer Familien, nicht zuletzt auch im Vergleich mit der Stiftungspraxis adeliger Familien, den Stifterwillen befördert haben. Beide Motivationen sind aufs Engste miteinander vermischt und im Verständnis der Zeit als einander ergänzende Motive zu sehen, gleichsam zwei Seiten einer Medaille. (BILD) Der Hochaltar der Pfarrkirche St. Georg in der Reichsstadt Nördlingen zeigt die selbstverständliche Präsenz der städtischen Gesellschaft, bei der durchaus unterschieden wurde, wer an der Messe im Gestühl teilnimmt und wer seinen Platz an einer weniger bedeutenden Stelle fand.
Nirgends tritt die Person deutlicher in den Blick als an den Stellen, an denen der Stifter und seine Familie und/oder seine Ahnen durch ihr Wappen oder durch figürliche Bildnisse, je später desto deutlicher porträthaft, den Tatbestand der Stiftung dokumentieren, im Sinne der Erinnerung, oft auch wie ein rechtsverbindlicher Besitzvermerk, denn in den von Familien gestifteten Erbbegräbnissen, Kapellen einer Kirche, blieb die Ausstattung in der Regel Eigentum der Stifter. Auf einem Bild aus der Zeit um 1500 (heute in dem durch ein Säureattentat beschädigten und restaurierten Zustand), einem Epitaph, das der reiche Nürnberger Goldschmied Glimm nach dem Tod seiner ersten Ehefrau bei Albrecht Dürer in Auftrag gab und das ursprünglich seinen Platz in der Nähe des Grabs in der Nürnberger Dominikanerkirche hatte, sieht man den Stifter, die verstorbene Ehefrau und die drei Kinder, beide Eheleute stammten aus wappenführenden Familien. Hier sind der Stifter und seine Angehörigen durch ihren wesentlich kleineren Maßstab nicht Teil des Geschehens, der Niederlegung des vom Kreuz abgenommenen Christus. Andere Beispiele zeigen auf den Flügeln eines Altarretabels das kniende Stifterpaar zu Seiten des Altars. Sie setzen ihre Anbetung damit im Bild über ihre Lebensdauer hinaus kontinuierlich fort. Begleitet werden sie in aller Regel von Heiligen, oft den Namenspatronen der Stifter. Die Heiligen nehmen ihre Rolle als Vermittler zwischen den Gläubigen und der Majestät Gottes wahr. Es galt die Überzeugung, durch die Heiligen Fürbitte und Beistand bei Gott zu erlangen, man verstand sie als Sachwalter an höherem Ort, die deswegen angerufen und verehrt wurden. In erster Linie galt dies für Maria. Ihre besondere Rolle in der Heilsgeschichte und ihre mütterliche Nähe zu Christus ließen es besonders wirkungsvoll erscheinen, sie um Fürbitte anzurufen. Ihr Schutz musste Gefahren wehren können, ihr Eintreten beim Endgericht ließ auf Begnadigung oder mindestens ein günstigeres Urteil hoffen. In Bildern wie der Schutzmantelmadonna wurde dies immer wieder veranschaulicht.
Man hoffte jedoch auch auf die aktive Fürsprache der Heiligen. Als Bildthema auf Retabeln oder Votiven oder Epitaphien begegnen häufig Szenen aus ihrem Leben, die sie als besondere Exempel beispielhaften christlichen Lebens – bis zum Martyrium – ausweisen. Bemerkenswert ist die starke Verehrung, die im Spätmittelalter gerade solche Heilige erfuhren, deren Vita auch als moralisches Exempel gelten konnte, wie Alexius, der als reicher Kaufmann eine Pilgerschaft antrat, zurückkehrte und in seinem eigenen Haus unerkannt bis zu seinem Tod in untergeordneter Stellung lebte, oder Maria Magdalena, die als bekehrte Sünderin galt, weil man im Mittelalter mehrere im Neuen Testament erwähnte Frauen zu einer Biographie verschmolz, Maria Magdalena die Jesus von bösen Geistern befreit hatte, die im Lukasevangelium (Lk 7,36-50) genannte Sünderin, die Jesus im Hause des Pharisäers Simon die Füße gesalbt hatte, und Maria, die Schwester des Lazarus. Die Vorstellung des zum Heiligen bekehrten Sünders war besonders ansprechend, denn je größer die vorausgegangene Sünde gewesen war, desto gewichtiger schien die Bekehrung und Begnadigung durch Gott, damit desto auch wertvoller und wirkungsvoller schätzte man die Fürsprache einer oder eines solchen Heiligen bei Gott ein.
Besonderer Ausdruck der Heiligenverehrung war die intensive Verehrung der Reliquien, entweder am Grab eines Heiligen selbst oder in eigens dafür geschaffenen Behältnissen, oft großen und aufwendig geschmückten Schreinen. Man stellte an besonderen Tagen Reliquien – in der Sprache der Zeit „Heiltümer“ – zur Schau und bot sie damit den Gläubigen zur Verehrung, man führte die Schreine und Reliquiare in Prozessionen mit und erhoffte sich durch die Verehrung beistand.
Mit dem Besitz von Reliquien waren oftmals besondere Ablässe verbunden. So glaubte Kardinal Albrecht von Brandenburg, der Erzbischof von Mainz und Magdeburg, sich mit den von ihm in Halle zusammengetragenen Reliquien einen Ablass von knapp 40.000 Jahren gesichert zu haben. Das seit dem 11. Jahrhundert gebräuchliche Ablasswesen resultierte aus der theologischen Vorstellung der Schlüsselgewalt der Kirche, die diese in den Stand setze, von der Sündenschuld und von den Sündenstrafen loszusprechen, beides zu tilgen. Der vollkommene Ablass hob alle zeitlichen Sündenstrafen auf. Ablässe, die zu erlangen man Gebete und gute Werke verrichten musste, verpflichteten zu entsprechenden Almosen. Die daraus erwachsenen, durch reisende Ablassprediger unterstützten Missbräuche sind bekannt. Sie gehören zu den großen Kritikpunkten der kirchlichen Praxis seitens der Reformatoren, eine Kritik, die schließlich das ganze kirchliche Leben und ihre Träger einschloss.
IV.
Hermann Heimpel schrieb einmal, Deutschland sei im Spätmittelalter „ein besonders mittelalterliches Land“ gewesen. Es scheint, dass gerade Intensivierung der Frömmigkeit in den Jahrzehnten vor der Reformation eine der Voraussetzungen für ihr Zustandekommen war. Die überkommenen Vorstellungen über das Wesen des Menschen wurden erst im Lauf des 15. Jahrhunderts allmählich aufgebrochen und verändert durch die Humanisten und deren neue Auffassung von Individuum und Individualität. Auf der katholisch-altgläubigen Seite blieben die traditionellen Koordinaten gültig, obgleich es durchaus Akzentverschiebungen gab.
Das Bild des Menschen in der Kunst der Reformationszeit bietet – auf der altgläubigen Seite – wie in einem Spiegel die Fortdauer der traditionellen Denkmodelle, freilich nicht ohne Brechungen. Der Mensch wird gezeigt als Gottes Geschöpf, dem trotz aller Angewiesenheit in der Beziehung zu seinem Gott ein aktiver Part zukommt. Die andere Sichtweise der Reformatoren auf das Verhältnis von Gott und Mensch veränderte auch ihren Blick auf den Menschen.