„Eine von stillem Leben durchatmete Welt“: der Rosenkranz in Lebensstadien Guardinis
Guardinis Beginn in Theologie hatte ihn im Wintersemester 1906/07 nach Freiburg getrieben – um endlich die peinvollen universitären Umwege zu beenden, die er 1903 in Tübingen mit Chemie begonnen und bis 1906 in München und Berlin mit Nationalökonomie weitergeführt hatte.
Der kurze Aufenthalt in Freiburg wurde aber aus einem anderen, seelischen Grunde bedeutsam. In seinen späteren Berichten über mein Leben legt Guardini offen, zu welcher Überwindung er sich durcharbeiten musste – und dabei tritt der Rosenkranz in Kraft. „Im selben Maße, als meine Eltern meinem Wunsche, Priester zu werden, nachgaben, wurde ich selbst daran irre, und als ich schließlich in Freiburg war, empfand ich dagegen eine unaussprechliche Abneigung. Der Anblick eines Geistlichen genügte, um einen dunklen Druck auf mich zu werfen. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Heute weiß ich, was sich in dieser Abneigung ausdrückte, war der Widerstand einer ganz unausgelebten Natur gegen die notwendigen Entsagungen des Priesterstandes … Die Grundwasser der Schwermut stiegen in mir so hoch, dass ich zu versinken glaubte, und der Gedanke, mit dem Leben Schluß zu machen, mir sehr nahe war. Nur an einer einzigen Stelle fand ich Ruhe; es klingt pathetisch, das zu sagen, aber es war so. Im Freiburger Münster stand der Sakramentsaltar im rechten Seitenschiff: wenn ich auf seinen Stufen niederkniete, löste sich der Druck – um sich freilich bald darauf wieder zusammenzuziehen. Wie lange die Depression gedauert hat, weiß ich nicht mehr. In der Erinnerung kommt sie mir endlos vor … Eines Tages war ich nach St. Odilien gegangen, wo der Quell entspringt, der für die Augen gut ist. Auf dem Rückweg, der schönen Straße, die an der Karthause vorüberführt, betete ich den Rosenkranz. Da löste sich die Not, und ich wurde ruhig … Von jener Stunde an habe ich an meinem Priesterberuf nie mehr gezweifelt. Wohl ist die dunkle Flut der Schwermut immer unter meinem Leben hingegangen und mehr als einmal hochgestiegen; aber ich war mir darüber klar, dass ich zum Priester berufen sei und bin es bis auf den heutigen Tag geblieben.“
Diese Einzelheiten sind deswegen wichtig, weil Guardini in seinem späteren Leben weit eher den Eindruck einer ruhigen Sicherheit im Glauben, Denken, Leben ausstrahlte, und nicht zu Unrecht. Wie sehr aber diese Festigkeit mit Leiden bezahlt war, und nicht von vornherein die Mitgift einer starken und über sich klaren Natur, ist bewegend wahrzunehmen.
Das Büchlein Der Rosenkranz Unserer Lieben Frau von 1940 datiert in der „Vorbemerkung“ die Entstehung auf ungefähr diese Krise zurück: „Der Grundgedanke dieser Schrift ist vor über dreißig Jahren entstanden; seitdem ist er mit mir gegangen, durch ein halbes Menschenleben.“ Als Erfahrung zittert darin nach „eine von stillem Leben durchatmete Welt (…), in welcher (…) ernst, innig und hilfreich die heiligen Gestalten des Glaubens begegneten.“
Über Jahrzehnte gibt es Hinweise auf den Rosenkranz. Ende 1913 in einem Brief an den in Tübingen gewonnenen Freund Josef Weiger wünscht sich Romano Guardini einen Rosenkranz von ihm und Maria Knoepfler, der in Wangen ansässigen Müllerstochter und Newman-Übersetzerin, ab 1917 Haushälterin in Mooshausen. 40 Jahre später, am 25. September 1953 notiert er im Tagebuch in München: „Am Nachmittag habe ich mir die Sachen vom Juwelier geholt. Den Rosenkranz, den ich mir aus den Anhängern des buddhistischen Rosenkranzes habe machen lassen: die Perlen der Gesätzchen sind mattblaues Email auf Silber; die Vater-Unser-Perlen Elfenbein; das Kreuzchen ebenfalls blaues Email auf Silber. Ein merkwürdiges Gefühl: die buddhistische Gebetskette ins Christliche aufgenommen zu sehen – wie wenn ein alter Tempel zur Kirche wird. Und dann den goldenen Rosenkranz. Eine Marotte von mir: etwas Reines und ganz Kostbares zu haben. Er ist nicht ganz geworden, wie ich ihn gewollt habe. Das Gold ist zu rot und zu blank. Schade. Vielleicht kann man aber noch etwas damit machen.“
Auch für die Zwischenzeit gibt es ein Zeugnis. Im Nachlass Guardinis (Katholische Akademie in Bayern) hat sich undatiert ein leicht beschädigtes handschriftliches Blatt (für Weiger?) erhalten, auf dem notiert ist: „Seinerzeit habe ich in Berlin für mich und andere fünf Rosenkranzsätze für schwierige Stunden zusammengestellt. Vielleicht sagen sie dir zu:
1.) der bei uns ist alle Tage und auch in dieser Stunde
2.) der uns stark macht in aller Gefahr
3.) der unser Herz festigt in Geduld
4.) der unser Leid aufnimmt in sein Kreuz
5.) der uns Anteil gibt an seiner Herrlichkeit.“
Es sei daran erinnert, dass auch das Sterben Guardinis vom Beten des Rosenkranzes begleitet war. Am 1. Oktober 1968 morgens fand die Haushälterin Guardini bewusstlos auf; er wurde in die Münchner Decker-Klinik eingeliefert, wo er nicht mehr zu sich kam. Während des Tages kamen Freunde und Weggefährten; man betete den Rosenkranz und schließlich die Sterbegebete. Abends um 20.40 Uhr verschied Romano Guardini, wie in einem Einschlafen.
Erhalten ist eine Sammlung von herrlichen farbigen Rosenkränzen aus alter und neuer Zeit, aus Italien und Deutschland, in einer eigens dafür angefertigten Kassette, die Guardini Annette Kuhn schenkte (jetzt im Archiv der Katholischen Akademie in Bayern). „… der Rosenkranz (hat) auch äußerlich eine mannigfaltige, zuweilen sehr schöne und kostbare Form empfangen (…), wie es bei Dingen zu geschehen pflegt, die in Ehren stehen und geliebt werden. Etwas sehr Ehrwürdiges und zugleich Zartes kann um solch einen alten, edel gebildeten Rosenkranz sein, dem man ansieht, dass ein Geschlecht um das andere ihn gebraucht und weitergegeben hat.“
In Mooshausen erhalten ist ferner ein von ihm selbst (auch in München?) in Auftrag gegebener Rosenkranz zum eigenen Gebrauch, mit Elfenbeinperlen und Goldkettelung, schlicht und kostbar. Vermutlich vermachte er ihn Maria Elisabeth Stapp zum Geschenk (heute im Archiv Mooshausen).
Was war die Ursache dieser Liebe zum Rosenkranz – zumal Guardini ja das davon verschiedene Beten in der Liturgie neu gedeutet hatte? Während dieses vorwärtsdrängend, in von Handlungen begleitet geschieht, führt das Beten des Rosenkranzes in eine stille Tiefe. „Dann gibt es aber auch das ‚Weilen im Gebet‘; den stehenden Akt; jenes, wozu der Mensch des inneren Lebens sich anschickt, wenn es von ihm heißt, dass er ‚sich ins Gebet begebe‘. Auch das ist nötig. Da ‚steht‘ das Innere in der Haltung des Gebetes. Es vertieft sich hinein, dringt zu Gott, lebt vor ihm.
Diesen Akt aus dem Eigenen heraus lebendig zu halten, ist aber schwer. So gibt es geprägte Weisen des Gebetes, die dazu helfen. Zu ihnen gehört der Rosenkranz – wie auch die Litanei und anderes noch. Der Rosenkranz ist ein Gefüge von Gebetsformen, das, recht vollzogen, jenen dauernden Akt des inneren Gebetes wach hält. Es ermöglicht den Menschen, im Gebet zu weilen, darin zu atmen, sich zu bewegen, auszuruhen, innerlich zurechtzukommen. Daraufhin muß es vollbracht werden. Dann wirkt seine Kraft.
Zwei Arten von Menschen sind zu dieser Art des Betens fähig. Einmal das Volk, dessen Grundhaltung wesentlich kontemplativ ist. Und dann wieder jener, der über die erste Unruhe der Reflexion und Kritik hinaus ist und neu im lebendigen Innern Stand gefaßt hat.“
Drei verschiedene Weisen der Marienverehrung
Romano Guardini setzte in verschiedenen Phasen seines Lebens immer wieder neu an, um zur „Mutter des Herrn“ vorzudringen. Mehrfach nimmt er Stellung zu den überkommenen Weisen der Marienverehrung, insbesondere zu der neuzeitlich individuellen Frömmigkeit, um von dort aus zu neuen Gedanken und Übungen vorzustoßen.
Zunächst fächert sich die Geschichte der Marienverehrung mehrfach auf: in der bildenden Kunst, der Literatur, der Theologie, aber auch einfach in den vom Volk getragenen Äußerungen. Die Kirchengeschichte verzeichnet eine nicht geringe Spannung zwischen recht unterschiedlichen Ausdrucksformen der Verehrung. Drei große Grundlinien lassen sich in dieser Spannung erkennen: Zuerst Maria als Urbild (Typos, Symbol) des heilen, geheiligten Menschen, also in ihrer exemplarischen Grundform für Kirche, jeden Christen, für die Schöpfung und ihre Mütterlichkeit (Materialität), auch für die Frau: ein Typos, an dem sich weibliche Existenz selber messen kann und messen lassen muss. Diese großangelegte Symbolik war für die frühe Kirche von hoher Bedeutung; sie spiegelt sich in herrlichen Texten und Anrufungen der ersten Jahrhunderte und hat vorrangig die orthodoxe Frömmigkeit befruchtet.
Eine zweite Sicht entwickelt sich seit der Neuzeit: Nicht so sehr die Urbildlich-Heilige wird betrachtet als vielmehr ihre Individualität, die auch im Kraftfeld des Heiligen ihre nahen, vertrauten, menschlich-bekannten Konturen behält. Eine stärkere Verwurzelung in Raum und Zeit, in Biologie und Psychologie sucht ihre Einzelkontur klarer und vor allem der Einfühlung näher zu zeichnen. Mit Sehnsucht forschten beispielsweise das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit nach Merkmalen von Marias wirklichem und irdischem Leben – man will sich ihrer gleichsam durch Erinnerungsstücke „handgreiflich“ versichern. Ein gewisser Höhepunkt dieser Neigung ist um 1500 zu verzeichnen, begründet in der allgemeinen Furcht vor dem erwarteten Weltuntergang. Dem Weltenrichter in den Arm fallen konnte nur noch die Mutter, so dass sich die Sucht nach dem Habhaft-Werden von Marien-Reliquien immer mehr vergrößerte, aber auch vergröberte – ein Zusammenhang, aus dem auch die Reformation erwuchs. Andererseits ist zu sagen, dass die Kunst der Renaissance zahlreiche individuelle, ja fast private Porträts Marias schuf, aus denen Frische und Eindringlichkeit, allerdings auch starke Zeitspiegelungen sprechen. Diese Art der Anverwandlung und Annäherung lässt sich bis ins 19. Jahrhundert und in die nazarenische Kunst verfolgen, welche die intime Häuslichkeit der heiligen Familie oder auch Mutterfreude und Mutterschmerz auszumalen suchen, jeweils stark mit den Mitteln und dem Verständnis der Zeit, von dem bereits einsetzenden Historismus mit Kolorit unterlegt.
Die Empfindlichkeit auf diesem Gebiet ist bekanntlich groß, da hier auch eine Geschichte des unerleuchteten Überschwangs, ja der missleitenden Frömmigkeit vorliegt, die dann das Gottesbild selbst berühren kann. Daher war es im 20. Jahrhundert entscheidend, Klärung zu gewinnen über die Kriterien einer Marienverehrung, die mit dem biblischen Ansatz und der besten Tradition der Kirche übereinstimmt. Denn die Vorstellung, im Zweifelsfall könne die Verehrung der Mutter Jesu unterbleiben, weist schon Erasmus in der Frühzeit der Reformation sachlich zurück: „Du wirst mich nur zusammen mit dem Sohn hinauswerfen können, den ich auf meinen Armen trage. Von diesem lasse ich mich nicht trennen. Entweder wirst Du diesen zusammen mit mir austreiben oder uns beide drinnen lassen, es sei denn, Du ziehst eine Kirche ohne Christus vor“ (Colloquia familiaria 1524). Wo liegt also der biblische Grund für die rechtmäßige Verehrung?
Mit dieser Frage ist eine dritte Linie der Deutung und Annäherung im 20. Jahrhundert zu verzeichnen; daran sind Guardini und auch sein Freund, der Mariologe Josef Weiger, maßgeblich beteiligt. Entdeckt wird die im Neuen Testament weder nur exemplarisch noch nur historisch, sondern „biblisch“ dargestellte Frau. Biblisch meint den besonderen Blick der Evangelisten auf die Mutter Jesu, der sie als Erbin und Einlösung der Sehnsucht Israels begreift, zugeordnet ihrem Sohn und dem Willen Gottes. In diesen besonderen Blick sind auch die beiden anderen Momente, das Exemplarische und das Individuell-Historische, eingegangen, aber nicht als erstrangige Absichten. Solche Mariendeutung richtet sich auf die ebenso karge wie inhaltsschwere Grundlage der Bibel. Programmatisch dafür ist der Titel von Guardinis Marienbuch Die Mutter des Herrn.
Diese drei Grundlinien schließen sich keineswegs aus; sie durchdringen einander vielfach, sind aber in ihrer unterschiedlichen Ausformung gegenwärtig zu halten. In der dritten Fassung wird die Verehrung Marias auf das unausschöpfbare Handeln Gottes selbst bezogen, wobei Marias Leben ein ungeheures Sich-Öffnen-Lernen zu Gott war. Daran wird deutlich, dass die Mitte der Marienverehrung nicht nur Maria selbst ist. Vielmehr umschließt sie als „unzerstörbare Mauer“ (so eine Anrufung der äthiopischen Litanei) eine geheimnisvolle Mitte, Jesus selbst, und in ihm liegen ihre unerschöpfliche Anziehung durch Zeiten und Generationen hindurch. In diese biblische Sicht wird Guardini sich vortasten. 1955, einige vorangehende Versuche zusammenfassend, schreibt er: „Woran mir hier vor allem liegt, ist, dass die Aussagen über Maria aus einem viel engeren Verhältnis zur Heiligen Schrift hervorgehen müßten, als sie es oft tun. In dieser ist aber viel mehr zu finden, als man wohl denkt. (…) Die Ergebnisse werden größer sein, als alle Wunder der Legende und alle Superlative frommer Rhetorik.“
Diesem Versuch entspringen drei Arten von Schriften: das genannte Marienbuch Die Mutter des Herrn 1955, zwei Rosenkranzbücher 1940 und 1944 und marianische Übersetzungen, abgesehen von Predigten und Bemerkungen zu Marienfesten. Vor dem Schreiben steht allerdings für ihn die Erfahrung aus dem Gebet: des Rosenkranzes.
Mariologie
Ein Thema der Kriegsjahre, in der Folge des Meisterwerks Der Herr (1937), kreist um die Mariologie, beginnend schon in Berlin und fortgesetzt im „Exil“ in Mooshausen. Das Büchlein Der Rosenkranz Unserer Lieben Frau (1940) schließt das Nachdenken vieler Jahre nicht ab, sondern markiert eine verhaltene, aber unentwegte Beschäftigung mit der Mutter des Herrn. Als Josef Weiger im Auftrag des Rottenburger Bischofs 1943 ein inniges Weihegebet an Maria für die Diözese erstellte, das bis heute im Gebrauch ist, schrieb Guardini für Weiger eine Antwort auf einen protestantischen Angriff. In der ungewohnt kräftigen Sprache sieht man bei Guardini einen Nerv getroffen, der zu verborgenen, aber starken Grundüberzeugungen führt. „Der Schreibende nennt das Mariengebet ‚völlig unbiblisch und widerchristlich‘, ‚Blasphemie und Heidentum‘. Er macht nicht den leisesten Versuch, es zu verstehen. Es läge z. B. nahe, zu bedenken, dass in den romanischen Sprachen der superlativus elativus sehr gebräuchlich ist, und daher ein Ausdruck wie ‚wir vertrauen einzig und allein auf die unendliche Güte Deines mütterlichen Herzens‘ und ähnliche von vornherein nichts zu bedeuten brauchen, was Gottes Ehre antastet, vielmehr nur einen hochgesteigerten Ausdruck begeisterten Vertrauens – ja, dass sie nichts derartiges bedeuten können, sobald man sich gegenwärtig hält, was Liturgie, Dogma und religiöse Praxis bezeugen, dass nämlich Gott allein Gott, Christus allein der Erlöser und Maria bei aller Einzigartigkeit ihrer Existenz nur Geschöpf, Erlöste und aus Gottes Gnade Lebende ist. Ebenso könnte man daran denken, dass es auch eine Sprache des Herzens gibt, welche die Worte nicht ängstlich wägt, und gar nicht auf den Gedanken kommt, man könne sie mit außer jedem Zweifel stehenden Wahrheiten in Widerspruch setzen.“
Aus dem Jahre 1943 gibt es zwei Fassungen eines Marienlebens, das erst später unter dem Titel Die Mutter des Herrn (1955) herausgebracht wurde. In dem Entwurf stößt Guardini zu der bis heute wesentlichen Frage vor, welche unbewussten mythischen Wurzeln in die Gestalt der Mutter und Königin eingegangen seien. Das fruchtbare Verhältnis von Wahrheit und Mythos im Raum der Offenbarung ist eine damals kaum gesehene Möglichkeit, im Gegenteil, die programmatische Entmythologisierung der Theologie zehrt zu dieser Zeit noch ganz vom Elan des Neuentdeckten.
Am 28. September1944 hielt Guardini im damaligen „Exil“ in Mooshausen drei Vorträge in einem Triduum über die drei Arten des Rosenkranzes. Im selben Jahr 1944 erscheint im Elsass – weil Guardini in Deutschland nicht mehr gedruckt wurde – ein Versuch Über das Rosenkranzgebet. Darin sieht Guardini im Verhältnis vieler Christen zu Maria eine psychologische Schwierigkeit am Werk, die in ihren Gründen berücksichtigt werden muss. So sehr Guardini überzeugt ist, „dass das wiederholende Gebet (der Rosenkranz) gerade für das überanstrengte und so vielfach geschädigte Seelenleben unserer Zeit überaus wichtig ist“, so sehr hält er eine theologische Hinführung zu Maria für notwendig. Im Hintergrund steht der Gedanke: „Abgesehen von innerchristlichen Gesichtspunkten hat sich die Haltung des neuzeitlichen Menschen seit zwei Jahrhunderten derart maskulinisiert, dass schon deshalb eine tiefere Beziehung zu diesem heiligen Urbild aller mütterlichen und jungfräulichen Kräfte gewonnen werden muss.“
Ein Einschub: Eine weitere Bemerkung zur Maskulinisierung steht im Tagebuch vom 28. September 1954, das ohne alle Psychologisierung gemeint ist (der Guardini zurückhaltend gegenüberstand). Die Stelle betrifft das Dogma von der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel (1950), das von ihm verstanden wird als der „elementare Appell an die Macht der heiligen Weiblichkeit. Die Welt geht am Maskulinen zugrunde, buchstäblich. Hier antwortet die Kirche der tiefsten Not des Menschen heute“.
Allerdings: Die marianische Bewegung darf sich nicht radikalisieren, was heißt: ihr Prinzip absolut setzen; für Guardini steht die Kirche in ihrem Gebetsleben in einer schönen Freiheit und Mannigfaltigkeit, die nie ein Widerspruch zur Einheit sein kann. „Es gibt vielmehr die direkte und die indirekte Realisation ihrer [Marias] Stellung im christlichen Dasein. Die direkte zeigt sich in Gebetsformen, wie dem marianischen Rosenkranz; die indirekte liegt in der Haltung und Atmosphäre auch des unmittelbar an Christus gerichteten Gebetes.“
Damit ist das Thema angeklungen, wie sich Mariologie und Christologie, vor allem im Beten des Rosenkranzes, zueinander verhalten.
Verbindung von Mariologie und Christologie
„Das Wesen des Rosenkranzes besteht darin, daß Gestalt und Schicksal des Herrn im Lebensbereich seiner Mutter erscheinen. Der Betende betrachtet fünfzehn Ereignisse des Herrenlebens; aber nicht in ihnen selbst, sondern aus dem Herzen derer heraus, die ihm von allen Menschen am nächsten stand. Und nicht bloß einfach nachdenkend, sondern eingebettet in die immer wiederkehrenden Worte des ‚Ave-Maria‘. Dieses Ineinander zu vollziehen ist die eigentliche Form des Rosenkranzgebetes, und man muß es lernen.“
„Dieses Gebet bedeutet das Verweilen in der Lebenssphäre Mariens, deren Inhalt Christus war. So ist der Rosenkranz im Tiefsten ein Christusgebet. Der erste Teil des Ave-Maria schließt mit seinem Namen: ‚und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesu‘. An diesen Namen wird das sogenannte „Geheimnis“ angefügt (…) Der erste ist der freudenreiche Rosenkranz; seine Geheimnisse beschäftigen sich mit der lieblich-ernsten, ahnungserfüllten Zeit von Jesu Jugend. Der zweite, schmerzenreiche, umfaßt sein Leiden von der Stunde am Ölberg bis zu seinem Tod am Kreuz. Der dritte, glorreiche, handelt von der Herrlichkeit seiner Auferstehung und Himmelfahrt, der Herabkunft des Geistes und der Vollendung Mariens selbst. In diesem Gebet wird also die Gestalt und das Leben Jesu betrachtet; aber nicht, wie etwa im Kreuzweg, unmittelbar und für sich, sondern in Maria: als Inhalt ihres Lebens, von ihr gesehen, empfunden, ‚im Herzen bewahrt‘ (Lk 2,51). Was den Rosenkranz erfüllt ist ein beständiger Vollzug heiliger Sympathie (…)“, zwischen dem Herrn nämlich und seiner Mutter.
Doch kann sich eine eigenartige Hemmung im Gebet ergeben. Es gehört zum phänomenologischen Blick Guardinis, diese Hemmung deutlich zu machen – vermutlich war sie ihm eine Zeit lang auch selbst gegenwärtig.
Eine auftauchende Schwierigkeit
Bereits erwähnt wurde die wichtige und wie es scheint, bisher übersehene Überlegung von 1944: Über das Rosenkranzgebet. Darin erinnert Guardini, dass sich im Ave-Maria zwei Sprachformen kreuzen: im ersten Teil mit der Anrufung des jeweiligen Geheimnisses in der Mitte eine Betrachtung/Meditation mit einem „gewissen Einstrom des Sinnes oder der Stimmung“ (17). Sie wird eingefasst von der Wiederholung der anfänglichen Preisung „Ave“ und der abschließenden Bitte. Diese wiederkehrenden Worte werden daher nicht genommen in ihrem „Charakter der Aussage, den sie sonst haben. Der erste Wortsinn wird schwebend und durchlässig für den neuen Inhalt. Das Gebet wandelt sich gleichsam in ein Wort zweiten Grades, dessen Inhalt das ‚Geheimnis‘ bildet.“ (16) Wer also das Ave-Maria von seinem Sinn her „wörtlich“ betet und mitdenkt, gelangt in die Schwierigkeit, die immer mit der Wiederholung verbunden ist: dass der Inhalt nicht jedes Mal mit derselben Intensität aufgenommen werden kann. Vielmehr geht es besser, „wo der Betende den Text als bloßen Wortraum nimmt, der den Meditationsakt enthält, ihn auch beeinflußt, im übrigen aber sich nicht ausdrücklich zur Geltung bringt – bzw. als Kanal, welcher die affektive Strömung aufnimmt, sie auch leitet und regelt, selbst aber nicht in ihren Inhalt eingeht.“ (17) Daher die Übung, ihn in Gemeinschaft zu beten und ihn der „Initiative des Einzelnen“ (18) zu entziehen, in „Meditation und wiederholendem Wort“ (vgl. 21).
Guardini erwähnt die dabei auftauchende Schwierigkeit, dass bei vielen Geheimnissen die Gestalt Christi unmittelbar in der Mitte steht und vom „Wortraum“ des Ave getragen wird, also von der marianischen zur christologischen Meditation übergeht. Nicht so beim Freudenreichen, aber sicherlich beim Schmerzhaften Rosenkranz. Für den, der dies fühlt, kann gelten: „Dieser Spannung kann der Betende nicht ausweichen und muß, um die Einheit herzustellen, eine sehr schwierige gedankliche und gefühlsmäßige Arbeit tun. Die kann so anstrengend werden, dass er das Rosenkranzgebet ganz aufgibt.“ (20)
Neu: Ein Christus-Rosenkranz
Daher eine große Anregung, ein „Vorschlag“ (21–29). Denn man sollte wegen der genannten Schwierigkeit nicht aufgeben, „längere Zeit in seiner Nähe zu weilen, bei ihm Ruhe, Kraft und Freiheit zu finden – eine Form des religiösen Verhaltens, die immer wichtig, in bestimmten Situationen aber geradezu rettend ist“. (21) So kann anstelle des Ave eine unmittelbare Anrufung Christi treten, als Wiederholung, worin dann das Geheimnis eingebettet wird, „und es wird viel leichter, das Wort aus dem ersten in den zweiten Grad überzuführen. Der entstehende Wortraum ist dem Betrachtungsvorgang, der Bewegungskanal der affektiven Strömung gleichartig; dadurch wird das ganze Gefüge einfacher. (…) Letzteres gilt auch für Beter, welche die Umwandlung des aussagenden in das raumhafte Wort nur schwer zustande bringen, daher die einzelnen Sätze vollziehen und deren Sinn mit dem Betrachtungsinhalt verbinden müssen.“ (22)
Bei dieser veränderten Form bleiben die sonstigen Gebete der Einleitung, auch die Perlen und die Zahl der Wiederholungen (23), „da eine Gebetsform von solchem Alter und solcher Verbreitung eine Erfahrungsfülle birgt, mit welcher sich kein individueller Versuch vergleichen kann“. (23)
So empfiehlt Guardini folgenden Text: „Gepriesen sei der Herr, der Sohn des Lebendigen Gottes, der…“ Dann: „Jesus Christus, Heiland der Welt, unser Meister und Bruder, sei uns gnädig.“ (25) Der erste Teil dient also der Betrachtung, der zweite der „bittenden Hinwendung“ (25) und steht daher in der Anredeform.
Schon in diesem Büchlein notiert Guardini einige Geheimnisse in neuer Weise, was auch bedeutet, dass ihm diese christusbezogene Form wohl nahelag. Aber in der Folge entfaltet er, auch noch in Mooshausen, durchgängige Anrufungen von Geheimnissen, die sowohl im Rosenkranz als auch in der von ihm unbenannten Christusanrufung einzusetzen sind. Diese weitere Ausarbeitung mit dem Titel Das Jahr des Herrn. Ein Betrachtungsbuch (1946) blieb im großen Werk eher unbekannt; sie ist aber kostbar, denn sie flicht das ganze Kirchenjahr in die Nennung der Geheimnisse ein. In der Regel setzt Guardini das Sonntags- oder Festtagsevangelium in die Anrufung um, so dass der Beter einige Tage oder eine Woche lang das zutreffende Evangelium immer wieder durchbetend vor Augen hat. Ein Beispiel, natürlich nach der alten Leseordnung vor dem Konzil, vom 15. Sonntag nach Pfingsten (132):
Der zur Mutter des Jünglings sprach: weine nicht
Der dem Jüngling gebot, und er stand auf
Der den Sohn seiner Mutter wiedergab
Vor dessen Macht alle von Furcht ergriffen wurden
Er, der der Herr des Erbarmens ist
In dieser Weise wird die Liturgie des Kirchenjahres mit dem Rosenkranz verbunden und sorgt für eine stetige Anregung der Betrachtung. So erweist Guardini auch hier seine Meisterschaft der Einführung in einfaches betendes Tun, wie er es schon mit seinem Kreuzweg 1919 tat.
Zuerst wird das Kirchenjahr in den Evangelien einbezogen, etwa die Bergpredigt:
„der gelehrt hat in Vollmacht“
„der die Armen im Geiste selig genannt hat“ (ebenso die übrigen Preisungen)
„der uns gelehrt hat, vollkommen zu sein, wie der Vater im Himmel vollkommen ist“
„der uns die Vorsehung des Vaters verkündet hat“
„auf dessen Worte wir unser Haus bauen sollen“
Darauf folgen „Feste mit gleichbleibenden Daten“ (etwa Fest des hl. Josef). Das Buch endet in einem „Zweiten Abschnitt“ mit Betrachtungen zu „Glaubenswahrheiten und Lebenslagen“. „Auch das tägliche Leben selbst kann ihm bestimmte Gedanken nahelegen und so die unmittelbarste Wirklichkeit in das Gebet hineintragen. So könnten etwa zur Zeit der Bedrängnis die Betrachtungssätze folgendermaßen lauten“:
„der uns stark macht in aller Gefahr“
„der unser Herz festigt in der Geduld“
„der unsere Leiden aufnimmt in sein Kreuz“
„der uns Anteil verheißen hat an seiner Herrlichkeit“
Oder in einer Zeit wichtiger Entscheidungen:
„der unserem Herzen Bereitschaft gibt“
„der uns lehrt, den Willen des Vaters zu erkennen“
„der uns hilft, zuerst nach Gottes Reich zu trachten“
„der uns Vertrauen schenkt in Gottes Großmut“.
Das Neue Testament kommt zuletzt apokalyptisch zu Wort: in der Aufgliederung der sieben Sendschreiben des hl. Johannes, unter dem Titel Der Herr von Zeit und Ewigkeit.
Wichtig ist Guardini die Versicherung: „Aus dem Gesagten ist wohl deutlich geworden, daß die vorgeschlagene Gebetsform den marianischen Rosenkranz in keiner Weise verdrängen, ja ihm nicht einmal als gleichwertig an die Seite treten soll. Nie wird sie das gleiche bedeuten können wie dieser, da sie einen anderen Inhalt, einen anderen Aufbau und damit einen anderen Sinn hat – ganz abgesehen davon, daß der marianische Rosenkranz aus einer Tradition kommt, mit deren Ehrwürdigkeit und Erfahrungsfülle ein privater Versuch sich nie messen wird.“
Es scheint, dass die Anregung eines „Christus-Rosenkranzes“ nicht aufgegriffen wurde, obwohl Das Jahr des Herrn in der unmittelbaren Nachkriegszeit mehrfach aufgelegt wurde. Wäre heute die Zeit gekommen, diese Art des Rosenkranzes durch das Jahr hindurch, im Gegenwärtighalten des Sonntagsevangeliums, weiter zu erproben? Auch das wäre eine Frucht dieser Tagung.
„Vollzug heiliger Sympathie“
Der Übergang von Maria zu Christus geschieht nicht nur theologisch, er geschieht mit „Sympathie“, in dem flutenden Verstehen zwischen den beiden. Und von dort sollte die Sympathie auf den Beter übergehen.
Das kann im Bereich der persönlichen Frömmigkeit geschehen, das ist sogar das Ziel des Betens. Aber diese Frömmigkeit hat wiederum ihre guten und misslungenen Formen, etwa wenn sie zu sehr in die Phantasie des Beters entgleitet. Guardini selbst hat einige Gesätze in dieser innerlichen, aber biblischen Geformtheit ausgelegt. Darin ist die „Glut des Schauens“ zu erkennen, die ihn zu dem großen Prediger und Pädagogen machte – eine Glut, die nicht ausbricht.
So schreibt er zur „Aufopferung des Kindes im Tempel“:
„In die Lieblichkeit des ersten Kreises [des Rosenkranzes] klingt der bittere Ton des Leidens. Sie hat ihr Kind von Gott empfangen und ihm ihr ganzes Sein zur Verfügung gestellt. Es ist ihr Ein und Alles – aber es gehört ihr nicht zu eigen. Die erste feierliche Handlung ihrer Mutterschaft ist ein Opfer. – Was uns, wenn wir glauben und gehorchen, von Gott gegeben wird, gehört nicht zu unserer Natur. Das neue Leben ist nicht unser, wie eine Veranlagung oder ein Charakterzug oder ein Erlebnis, sondern Gabe und bleibt es. Es steht unter dem Willen und der Führung Gottes, und wir müssen immer bereit sein, von uns selbst weggerufen zu werden und in eine Pflicht, eine Entsagung, ein Schicksal hinüberzugehen, die ihren Sinn nur im Willen Gottes haben.“
Zur Himmelfahrt des Herrn, bei der Maria nicht anwesend war:
„Wir wissen nicht, ob der Herr es ihr gesagt hat, wann er „zum Vater gehe“. Aber zwischen Ihm und seiner Mutter muss eine Innigkeit der Gemeinschaft gewesen sein, die vielleicht keines ausdrücklichen Wortes mehr bedurfte, so dass sie fühlte, wie es mit ihm stand … Dann war sie allein. Wenn aber Paulus sagt: „So ihr mit Christus auferstanden seid, dann suchet, was droben ist, wo Christus ist, sitzend zur Rechten des Vaters; bei dem, was droben ist, sei euer Sinn, nicht bei dem, was auf Erden“ (Kol 3,1–2) – dann gilt das vor allem von ihr. Ihr Sohn war „droben“, und ihr Herz war bei ihm, und ihr ganzes Wesen drängte zu ihm hinauf.
Als der Herr sich von der Erde weghob, begann das Warten, „bis dass er wiederkäme“ (1 Kor 11,26). Was von da ab auf Erden geschieht, ist ein einziges Harren, und Glauben heißt, in diesem Harren stehen. Für den, der nicht glaubt, vollziehen sich die Ereignisse wie etwas, das seinen Sinn in sich selber hat. Das Tägliche und das Außerordentliche, das Große und das Niedrige, das Furchtbare und das Schöne – alles das, woraus die Geschichte zusammengewoben ist, geschieht, als ob es das Ganze wäre, und sonst wäre nichts. In Wahrheit war das Weggehen des Herrn wie der Anschlag eines gewaltigen Akkordes, der nun in der Luft steht und harrt, dass er in seiner Lösung zur Ruhe komme. Erst in der Wiederkehr Christi erfüllen sich alle Dinge.“ (65f)
Zur Aufnahme Marias in den Himmel:
„Die Kraft seiner Auferstehung hat sich an ihr erfüllt, und er hat sie in die Ewigkeit aufgenommen. Ein Geheimnis unendlicher Freude. Wenn die Kirche davon spricht, wenn die geistlichen Dichter davon singen, wenn die Maler es schildern, ist es, als ob etwas durchbrechen dürfe, das sonst im irdischen Dasein noch eingeschlossen bleibt. Nicht umsonst wird das Fest der Himmelfahrt Mariens in der letzten Reife des Sommers gefeiert. Dieses Geheimnis ist uns gegeben, damit wir ahnen, was die Freude des Christen, das Aufgenommenwerden in den Triumph Gottes, das unendliche Emporströmen der Schöpfung bedeuten mag. Und es ist uns gegeben, damit ein göttliches Licht auf unseren eigenen Tod falle.“ (69f)
Zum Fest „Maria Königin“ am 22. August:
„Die innerste Haltung des Christen soll Demut sein. Er weiß, dass er nichts aus sich hat, alles von Gott; nichts durch sich selbst kann, alles nur durch die Gnade. Die Demut ist das Eingeständnis dieser Wahrheit ja, sie ist die Freude an ihr; das Glück, welches aus ihr kommt; im Letzten nichts als Liebe. In dieser gleichen Demut aber liegt auch ein stilles Bewusstsein verborgener Hoheit. Nicht eigener, sondern geschenkter – aber derart geschenkt, dass sie tiefer zugehörig ist als alles, was aus dem Anspruch des eigenen Wesens kommt.“ (70f)
Und zuletzt der Hinweis auf eine Haltung, die im Beten des Rosenkranzes aufscheint und sich festigt, in der „Innerlichkeit“ oder „Innigkeit“. Es ist ein Wort, das Guardini liebt. In Welt und Person (1939) entfaltet er den „Daseinspol Innen“, die Tiefe des Menschen, im Unterschied zum „Daseins-
pol Oben“. Die biblischen Aussagen sprechen jedoch noch von einer weiteren resonanten Tiefe des Innen. Sie ist nicht einfachhin da, sondern wird jeweils erst geschaffen mit dem Eintreten Gottes selbst oder verschließt sich im Widerspruch zu ihm. „(…) der zur Verwirklichung seines Reiches kommende Gott wirkt selbst die innere Tiefe und Weite, in der er wohnen will. Sie hängt an Gott und kann nur von ihm empfangen werden. Wenn aber Gott sie gibt, dann wird sie im leibseelischen Sein verwirklicht, und das bedeutet zugleich auch ein Räumigwerden des konkreten Menschen, ein Erstarken und Innigwerden der Akte und Zustände, ein Aufsteigen innerer Welt, worin der Mensch überhaupt erst zu dem wird, was der Schöpfer gewollt hat.“ (37) Die Folgen sind nicht allein lebenspraktisch, sondern auch erkenntnismäßig von großer Wirkung: „Im Maße der Mensch die christliche Innerlichkeit verwirklicht, bekommt er sich selbst in den Blick und wird zur christlichen Selbsterkenntnis fähig. Diese (…) hat eine Hellsicht, einen Tiefgang, eine Unerbittlichkeit und schöpferische Erneuerungskraft wie keine sonst. Sie vermag das sonst Unmögliche, nämlich um das eigene Sein als Ganzes herumzufassen, das eigene Selbst objektiv zu erblicken und zu beurteilen. Das geht nur, weil hier nicht mehr nur das menschliche Selbst über sich selber urteilt, die psychologische Tatsache der Teilung in betrachtendes und betrachtetes Ich vollzogen und vertieft wird; sondern weil der Glaubende am Blick Gottes auf ihn, den Menschen, Anteil bekommt. Die christliche Selbsterkenntnis des Menschen ist der gnadengeschenkte Mitvollzug des Blickes Gottes auf ihn. So bleibt ihr – grundsätzlich, und im Maße sie Ernst macht – nichts entzogen; kein Rest vorbehaltensten, verborgensten Selbstes.“ (40)
Solche Erfahrung versetzt die christliche Innerlichkeit in Dynamik. Sie „ist der Ort, wo Christus in uns ist. Und zwar nicht statisch, untätig, sondern wirkend. Ja sogar in der Form des Kommens; denn von dort steigt er herauf, in der Verwirklichung des christlichen Daseins. Das Geformtwerden des Glaubenden durch Christus; der immer neue Selbstausdruck Christi in jedem Glaubenden ist ein reales Kommen: von jener Tiefe her in die Offenheit des Ausdrucks.“ (47)
Dieser Gedanke, mehr noch: diese Erfahrung führt unmittelbar zu Maria. Maria ist Innerlichkeit. „Gesegnet Du unter den Frauen, und gesegnet die Frucht Deines Leibes!“ (Lk 1,42) … Das ganze Geheimnis ist von der unsäglichen Innerlichkeit erfüllt, in welcher Maria das gottmenschliche Leben trägt, ihm das Ihrige gibt und das Seinige empfängt.“ In dieser Innerlichkeit öffnet sich das Christsein und das Christwerden: „In jedem christlichen Dasein gibt es den heiligen Bereich des Werdens, worin Christus lebt, uns tiefer inne, als wir uns selbst sein können. Da wirkt und wächst er; ergreift unser Sein, zieht unsere Kräfte an sich, dringt in unser Denken und Wollen, durchwaltet unsere Regungen und Empfindungen, damit sich das Wort des Apostels erfülle: „Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2,20) Der Rosenkranz übt dieses „heilige Werden“ ein. 
