Der gesuchte Sinn

Zwei methodische Schlüssel in Guardinis Hermeneutik

Ein typischer Text von Romano Guardini könnte wie folgt lauten:

Ich stehe vor einem Baum. Was ist dieser Baum?

Zunächst ist er eine Reihe von stofflichen Komponenten, die so aneinander gereiht sind, dass bestimmte Eigenschaften auftreten: grüne und braune Farben, längliche und runde Formen, raue und glatte Texturen, harte und weiche Stellen; der Baum ist also eine stoffliche Komposition.

Sofort wird uns klar, dass durch diese materielle Darstellung nicht erschöpft ist, was dieser Baum ist. All diese stofflichen Komponenten bilden nicht nur eine punktuelle Gestalt, sondern sie verbindet ein inneres Prinzip, das Leben. Die verschiedenen Stoffe stehen in einer gewissen Beziehung zueinander, sind so aufeinander eingestellt, dass sie gemeinsam ein lebendiges Ganzes formen. Dieser Bezug hält eine gewisse Zeit als Lebensdauer an, solange nämlich die Bedingungen dafür stimmen. Was dieser Baum ist, nämlich ein lebendiges Ding, wird erst dank dieser zweiten Sichtweise deutlich; die erste „Schicht“ (die stoffliche) wird dadurch nicht falsch, aber erst wenn sie in die zweite Schicht (die lebendige) eingegliedert wird, erkennen wir den Baum als den, der er ist. Bei einem Stein oder einem Kristall wäre das anders; solche Dinge lassen sich scheinbar auf der rein stofflichen Stufe erschöpfend erklären.

Das Schichtenmodell als hermeneutischer Schlüssel

So schichten sich die „Stufen der Wirklichkeit“ übereinander. Auf der stofflichen Ebene können stoffliche Vorgänge auf stoffliche Weise beschrieben und stoffliche Dinge so verstanden werden; die bio-psychische Ebene nimmt jene untere Ebene in sich auf, aber es kommen die Eigenschaften des Lebendigen hinzu. In Guardinis Denken sind uns darüber hinaus geistige Schichten bekannt (das Kulturelle, Geschichtliche und Ethische), welche dem Menschen in seinen geistigen Eigenschaften gerecht werden; sowie die geistliche Ebene, in die das Religiöse, das Übernatürliche und das von der Offenbarung her über Gott Bekannte gehört. Laut diesem Schichtenmodell nimmt die jeweils höhere Ebene die unteren mit auf, setzt in ihnen dabei aber neue Sinntiefen frei. So besteht das Eigentümliche eines lebendigen Dinges nicht nur in dem, was nicht stofflich ist; sondern die Stofflichkeit des Lebendigen gewinnt durch das Lebendige eine neue Qualität. Die qualitativen Ebenen schichten sich also nicht wie Stockwerke übereinander, sondern formen ein „qualitatives Ineinander“.

Guardinis Modell trägt aber noch eine weitere Besonderheit in sich. Kehren wir zum Beispiel des Baumes zurück. Ein Baum etwa ist das anschaubare, durch seine botanischen Eigenschaften bestimmte, zu den verschiedensten Zwecken benutzbare Naturding. Es kann auch bloß empirisch genommen werden, nüchtern und berechnend. Dann ist es aber auch nicht der eigentliche Baum, sondern etwas Eingeschränktes, Unvollständiges.

Um den Baum vollständig zu verstehen, bleibt Guardini also nicht auf der Ebene des Biologischen stehen; er beleuchtet ihn auch mit den Mitteln der nächsten Ebene, also der geistig-kulturellen Schicht. Dann erscheint der Baum nicht mehr nur als ein qualitatives Ineinander von Stoff und Lebendigkeit, sondern es mischt sich ein geistiger, ein kultureller Sinn hinzu. Der Blick auf diesen Sinn des Baumes erfolgt von der geistig-kulturellen Stufe aus. Von dort entdeckt der Betrachter zum Beispiel, dass der Baum nicht nur ein Biotop, sondern eine richtige Heimstätte für Tiere ist; nicht nur ein wesentliches Glied im Kreislauf der Umwelt, sondern ein Freund für den Menschen, welcher sich nicht nur seiner Materie als Ressource bedient, sondern sich auch durch dessen Formen für seine Kunst, seine Architektur, seine Literatur usw. inspirieren lässt.

Nähern wir uns dem Wesen eines Baumes so „von oben“, finden wir einen tieferen Sinn. Der Baum ist dann ein kulturelles Ding. Er hat Wert. Er hat Würde. Er ist
schön. Sein kultureller Wert entspringt nicht einfach aus seinen stofflichen und biologischen Eigenschaften in der Umwelt, sondern ist seiner Rolle in der Welt geschuldet; also seinem Bezug zu den anderen Dingen – besonders seinem Bezug zum Menschen. Aus der Perspektive des Menschen wird der Baum zu einem Glied seiner Geschichte.

Der Mensch hebt den Baum auf eine höhere Ebene, die Menschlich-Geistige. Und erst von dieser, im Vergleich zum Baum ja eigentlich höher stehenden Stufe des Menschlichen kann der Baum richtig erfasst werden. Zugespitzt hieße das, „nur wer den Mensch kennt, erkennt den Baum“.

Ja, Guardini kann den Baum sogar noch weiter auf eine geistliche Ebene erheben.

Doch genügt irgendein Anlass, und es geschieht die Berührung. Dann ist der Baum plötzlich geheimnishaft da. Indem das geschieht, verschwimmt er nicht im Ungewissen; er wird nicht, wie das für den neuzeitlichen Menschen der Fall sein würde, phantastisch, sondern er behält alle seine Bestimmungen. In diesen wird aber das „Andere“ gegenwärtig; das Göttliche erscheint. Eben dadurch wird er überhaupt erst er selbst; überhaupt erst ganz Baum. Er hat nicht nur die profane, sondern die volle Wirklichkeit. Als solche hat er Macht, die auf den Menschen eindringt und ihn, je nach der Intensität des Erlebens, mit Scheu und Staunen erfüllen, ja ihn überwältigen kann. Das geschieht besonders dann, wenn – Walter F. Otto hat das in seiner Analyse der homerischen Religiosität klassisch dargestellt – ein Ding sich seinem Optimum nähert, ganz reif und klar wird; dann ist es „göttlich“.

Der Baum wird so zu einem Hermeneuma, zu einem „Urding“, wie Guardini schreibt. Sein Sinn erschließt sich durch eine Hermeneutik der Dinge, also eine menschliche oder gar religiöse Interpretation der Dinge. Die Dinge nicht nur als kalte Objekte zu sehen, sondern als sinngeladene Wesenheiten: gerade das hat Guardini ausgezeichnet. Der „ganze“ Sinn liegt in der „Summe“ der Schichten, die „qualitativ ineinander“ liegen; und er wird erst richtig gedeutet durch den Blick vom Gipfel ins Tal, von der höheren Ebene zur niedrigeren. So zeigt sich das Schichtenmodell als hermeneutischer Schlüssel.

Die Gegensatzlehre als hermeneutischer Schlüssel

Ein typischer Text von Guardini könnte auch anders lauten.

Ich stehe vor einem Baum. Wie ist dieser Baum?

Inmitten einer Landschaft, in der vieles sich bewegt, ist der Baum ein statischer Ruhepunkt. Fest steht er seit Jahrhunderten an seinem Platz. Sein hölzerner Bau ist stabile Gestalt, die jedem Sturm gewachsen ist. Doch halt: Ruhe, Festigkeit, Bau, Stabilität – gerade sie sind durch einen Sturm gefährdet. Der starre Ast bricht, wenn er sich nicht vom Wind biegen lässt.

So folgt ein zweiter Blick auf den Baum. Seine Glieder sind in ständiger Schwingung, seine Fasern sind flexibel und dehnbar, weil mit jeder Sekunde ein saftiger Lebensakt durch das Holz pulsiert. Seit Jahrhunderten steht er da, ja, doch keiner seiner Posen glich der vorherigen. Das wunderbare Wesen dieses Baumes ist der langatmige Akt seines Lebens.

So steht der Baum schließlich vor uns als die Einheit zweier Gegensätze: als Bau und als Akt. Wahrlich begreifen – also gedanklich fassen – können wir den Baum weder auf der reinen Spur des Baus, noch auf der reinen Spur des Aktes. Der konkrete Baum ist beides und braucht beides. Sonst – falls nur einer der beiden „Sätze“ des Gegen-Satzes zur Wesenhaftigkeit erhoben und der andere untergeordnet oder gar übergangen wird – geht jede noetische Erfassung des Baumes fehl. Eine treue Erfassung des Baumes muss die Spannung seiner gegensätzlichen Pole wahren.

Die Gegensatzlehre darf ich hier als bekannt voraussetzen und gleich zu dem Schluss kommen, dass auch sie ein hermeneutischer Schlüssel sein kann. Die von Guardini durch den Gegensatz angestrebte Allseitigkeit, ist ihm im Moment des interpretierenden Verstehens natürlich selbst zur Devise geworden Sinn. Der „ganze“ Sinn liegt gemäß der Gegensatzlehre erst in der „Summe“ – besser: Spannung – der Seiten, also in der Einheit von neben- und nacheinander liegenden Polen. Wie das Schichtenmodell ist auch dieser hermeneutische Schlüssel ein Appell, den Sinn in der „Ganzheit“ zu suchen.

Bezug von Schichtenmodell und Gegensatzlehre

Analysieren wir einen dritten Text, diesmal ein tatsächliches Zitat aus Guardinis Ethikvorlesungen.

Wenn ich vor einem Baum stehe, kann ich fragen:

Was ist er wert? Was kann ich mit ihm machen? Was kann ich durch seinen Kauf verdienen? usw. Das ist eine vernünftige Überlegung, wie Forstmann und Holzhändler sie immer machen. Sie kreist um den Vorteil, den dieser Baum für mich haben kann. In ihr denke ich an mich, und an den Baum mit Bezug auf mich…

Ich kann ihn aber auch anders betrachten. So, daß ich zu verstehen suche: seinen Bau, sein Leben, sein Verhältnis zu seiner Umwelt; daß ich seine Schönheit erfahre, die Eigenart dieses Gebildes da, das sich in die Erde festklammert, in die Höhe ragt, in den Raum hinausgreift, still, bewegungslos und doch lebendig usw. Das ist ein Verhalten, wie wir es beim Botaniker finden, wenn er forscht … oder bei Mörike, wie er „die schöne Buche“ dichtet … oder bei Ruysdael, wie er seine Eschenallee malt.

In diesen beiden Betrachtungsweisen finden sich die perspektivischen Schichten wieder, von denen bereits die Rede war. Der Blick des Försters sieht im Baum vor allem den stofflichen und biologischen Gegenstand. Der Dichter „versteht“ den Baum von der höheren, geistigen Schicht her. Der Text stammt aus Guardinis Abhandlung über die Begegnung; im Folgenden erklärt Guardini, dass nur die zweite Betrachtungsweise zu echter Begegnung führt, in welcher der Mensch sich absichtslos auf sein Gegenüber einlässt. Die erste Betrachtungsweise spiegelt hingegen ein nutzungsgesteuertes Verhältnis wieder, in welchem das Gegenüber objektiviert wird; Guardini nennt dies „die überlegte, geordnete, in Übung und Überwindung durchgeführte Arbeit“.

So kommen wir zu einer Wendung im Text, die auf den ersten Blick unbedeutend erscheint, für die theoretische Analyse von Guardinis Denken aber sehr bezeichnend ist.

Die Begegnung wird geschenkt; die Arbeit wird getan. Aus der Begegnung entspringt die fruchtbare Einsicht, der schöpferische Keim, der Durchbruch von Neuem; durch die Arbeit wird das alles in Gestalt, Ordnung und Dauer übergeführt.

Die Gegenüberstellung der Signalwörter „schöpferisch“ und „Ordnung“ lassen uns aufhorchen. Handelt es sich für Guardini hier um einen Gegensatz zwischen Begegnung und Arbeit? In der Tat:

Beides gehört zusammen. Die bloße Begegnung würde das Leben zu einem Abenteuer machen; es würde unstet und dem Augenblick ausgeliefert. Die bloße Arbeit aber würde unfruchtbar bleiben; alles würde gewohnt werden, abgenutzt, „alt“. Das Dasein würde ins System gezwungen. Die Freude wie die Erschütterungen gingen verloren. Und die Frömmigkeit. Sagen wir besser: ein wichtiges Element in der Frömmigkeit.

Arbeit und Begegnung lassen sich hier nicht nur auf zwei Wirklichkeitsschichten zurückführen, sondern auch auf einen Gegensatz. Die Arbeit behandelt den Baum in seiner Stofflichkeit und Biologie; die dichterische oder philosophische Begegnung behandelt den Baum in seiner Geistigkeit – ja, mitunter sogar in seiner geistlichen Dimension.

Dass Guardini hier Arbeit und Begegnung als Gegensätze darstellt, führt zu drei Konsequenzen:

a) Vordergründlich bewegt Guardini uns zu der Einsicht, dass keine der Betrachtungsweisen dem Objekt „Baum“ gerecht wird, wenn sie die jeweils andere ausschließt. In der Tat wird in der Haltung des Försters immer wenigstens ein Mindestmaß an geistiger Wertschätzung des Baumes vorhanden sein – sonst wird seine Arbeit zum stumpfen Verarbeiten von Rohstoffen ohne kulturellen und geistigen Wert; andererseits wird eine geistige Begegnung mit dem Baum phantastisch oder romantisch, wenn nicht wenigstens ein Mindestmaß an materieller und praktischer Einsicht mitschwingt.

b) Hinsichtlich unserer Thematik müssen wir die hermeneutischen Summen der Schichten- und der Gegensatzlehren zu einer größeren Einheit summieren. Um den Sinn des konkreten „Baumes“ zu finden, müssen wir die auf den jeweiligen Schichten basierenden Erkenntnisse anscheinend zueinander in gegensätzlichen Bezug setzen.

c) Im Hintergrund stellt sich dadurch die theoretische Frage, auf die Alfons Knoll aufmerksam gemacht hat: In welchem Verhältnis stehen das Schichtenmodell und die Gegensatzlehre zueinander? Kann man die Schichten, die ausdrücklich auf verschiedenen qualitativen Ebenen liegen, wirklich in ein Gegensatzverhältnis stellen? Oder widerspricht sich Guardini hier?

Vereinbarkeit von Schichtenmodell und Gegensatzlehre

Im Folgenden will ich kurz vier Positionen zur Vereinbarkeit der Gegensatzlehre mit dem Schichtenmodell nennen:

a) Unvereinbarkeit

In seiner Dissertation über Glaube und Kultur bei Romano Guardini, die als Meilenstein in der Guardini-Forschung gelten kann, hat Alfons Knoll vermerkt, dass die Schichten nicht einfach als gegensätzliche Pole aufgefasst werden können, weil sie anderen qualitativen Stufen angehören. Er fragt sich, ob die beiden Lehren im Gesamtwerk Guardinis im Grunde nicht miteinander vereinbar seien.

Knoll nennt die Gegensatzlehre eine „wichtige Station“ in Guardinis Schaffenswerk und rechnet sie „zu den ’Anfängen‘ von Guardinis Denken“. Er suggeriert, dass der Lehre in späteren Werken keine entscheidende Rolle mehr zukam. Die Anwendung der „so ausführlich erarbeiteten Denkstruktur auf anthropologische Phänomene“ sei Guardini nach 1925 nicht mehr gelungen. Knoll spricht gar von einer „Korrektur“ in der Entwicklung von Guardinis Denken nach 1925. Als Grund scheint er anzuführen, dass sich die Gegensatzlehre nicht mit jenen Strukturprinzipien deckt, die später eine große Rolle in Guardinis Philosophie spielten, nämlich dem „Ausdruck“ und dem „Zueinander von ‚Innen‘ und ‚Außen‘“; hinter diesen Prinzipien steht aber das Schichtenmodell. Dieser Darstellung gemäß könnte man darauf schließen, dass der Gegensatzlehre keine konsistente – kontinuierliche und
widerspruchsfreie – Nutzung in Guardinis Werk zukommt und im Einzelfall gar zu „Unklarheiten“ führt.

b) Parallelität

Allerdings lässt sich entgegen dieser Annahme durchaus belegen, dass Guardini die Gegensatzlehre auch nach 1925 konstant und konsistent genutzt hat. Selbst wenn die Lehren sich nicht ineinander integrieren ließen, muss dies noch keine Unvereinbarkeit bedeuten. Die meisten Forscher behandeln Schichtenlehre und Gegensatzlehre so unabhängig voneinander im Laufe von Guardinis gesamten Werk; es sind verschiedene Ansätze, die parallel zueinander bestehen können; wenn sie sich vereinzelt kreuzen, widersprechen sie sich nicht. Gerade als hermeneutische Schlüssel können sie dazu dienen, unterschiedliche Fragestellungen zu beantworten oder Sinntiefen zu erschließen. Was stünde beispielsweise der Annahme entgegen, dass ein Gegensatz, der auf einer gewissen Schicht besteht, sich analog auf einer jeweils höheren (oder tieferen) Schicht weiderholt?

c) Vereinbarkeit

Alfonso López Quintás sieht die Lehren als miteinander vereinbar an. In seinem Kommentar zu „Anthropologie und Dialektik“ knüpft er an eine Stelle aus Der Mensch an. Hier bespricht Guardini den Gegensatz zwischen Mannigfaltigkeit und Ganzheit des menschlichen Daseins. Die Vielfalt der Schichten stehen dort in gegensätzlichem Verhältnis zur Einheit des Menschen.

d) Integration

Mir selbst scheint es durchaus möglich, die beiden Lehren auf Grundlage von Guardinis eigenen Ausführungen ineinander zu integrieren. Dazu muss zunächst – mit Knoll – unterstrichen werden, dass die reinen Qualitäten der einzelnen Schichten in der Tat in keinem Gegensatzverhältnis stehen können, da sie „wertmäßig [nicht] völlig gleichrangig“ sind. Nun bedeutet aber das qualitative Ineinander der konkreten, geschichteten Wirklichkeit eben nicht, dass diese Qualitäten einander rein gegenüberstehen; vielmehr ist die jeweils untere Schicht durch die obere qualitativ „erhoben“. Und so darf nicht danach gefragt werden, welchen Bezug die abstrakten Begriffe der Qualitäten zueinander haben, sondern wie sie in der konkreten und lebendigen Wirklichkeit zueinanderstehen, in der sie als ein Ganzes vorkommen. Die Stofflichkeit einer Pflanze ist qualitativ eben genau nicht als tote Stofflichkeit aufzufassen, sondern als lebendige – und als solche ist sie „wertmäßig völlig gleichrangig“ mit den biologischen Eigenschaften.

Der theoretische Berührungspunkt zwischen Schichtenmodell und Gegensatzlehre sind die transempirischen Gegensätze. Die Pole „Innen und Außen“ scheinen sich doch durch die Schichten hindurch zu strecken.

Die Vorgänge des Wachstums der Pflanze – im Gegensatz zum Größerwerden eines Kristalls, das sich durch äußeres Anfügen vollzieht – erscheinen als ein Hervorgehen aus einer produktiven Mitte, das heißt, einem Innenbereich, in die sinnlich erfassbare Gegebenheit. Ihr Werden und Sich-Behaupten spielt zwischen seinem organischen Zentrum einerseits und der Umwelt anderseits … Im Tier wird der Vorgang evident, weil hier das psychische Moment einsetzt. Das Tier nimmt durch seine Sinnesorgane Dinge und Vorgänge der Außenwelt in sich auf und antwortet auf sie durch Initiativen: Abwehr, Angriff, Flucht. Man kann auch umgekehrt sagen, dass es selbst Initiative hat: Hunger, Schutzbedürfnis, Fortpflanzungstrieb, und sie am äußerlich Gegebenen auswirkt. Nehmen wir die Vorgänge des Gedächtnisses und des Lernens hinzu, dann zeigt sich der Bereich des Innerlichen noch klarer.

Das Beispiel, an dem Guardini diese Frage aufs Genaueste durchexerziert ist der Bezug von Leib und Seele im Menschen. Solange von Körper und Geist die Rede ist, kann es nicht um einen gegensätzlichen Bezug gehen. Guardini bespricht diesen Bezug unter anderem in den Ethikvorlesungen. Dabei ist sein hauptsächliches Anliegen, jenes dualistische Bild zu überwinden, das die körperliche und geistige Erscheinungsweisen des Menschen scharf in zwei Reiche auftrennt. Hierbei bedient er sich der Prinzipien der Gegensatzlehre. „‘Bloße Körperlichkeit‘ wie ‚bloße Geistigkeit‘ [sind] Grenzwerte […], die aus dem Bereich des Menschlichen hinausführen. Sie sind Formen der Unmöglichkeit“. Im Menschen stehen die Körperlichkeit und der Geist in einem Gegensatzverhältnis zueinander. Alles Körperliche im Menschen beinhaltet immer ein Mindestmaß an Durchgeistigung. Andersherum gibt es im Menschen das „bloß Geistige“ nicht; vielmehr gehört immer eine, wenn auch noch so minimale, physische Dimension zu den menschlichen Geistesakten. „Ich weiß im Menschen von keinem ‚rein geistigen‘ Akt. Alles, was ich vorfinde, ist von vornherein und konstitutiv geistleiblich, das heißt, menschlich”.

Wir stehen hier vor einer weiteren Anwendung der Schichtenlehre, also der Durchgeistigung der vitalen Schicht seitens der höheren Schicht des Geistes, bzw. der Verleiblichung dieses Geistes in der niedrigeren Schicht des Vitalen.

Der Mensch ist weder bloß biologischer Körper, noch bloßer Geist. Das Wesen des Menschen ist das Menschliche. Man kann nicht sagen: Der Mensch ist eine besondere Stufe des Biologischen – aber auch nicht: Der Mensch ist das Geistige. […] Man kann nur sagen: Der Mensch ist Mensch.

In diesem Gegensatzverhältnis ist der menschliche Körper also entscheidend vom Geist durchdrungen, geprägt und mitkonstituiert. Guardini nennt ihn in diesem Sinn „Leib“. Nur in Bezug zur Geistseele wird der Körper zum Leib; nur im Bezug zum Leib wird der Geist zur Geistseele.

Anwendung der Prinzipien auf Guardinis literarische Hermeneutik

Die Frage nach der Beziehung und möglichen Integration der beiden Lehren bleibt schwierig. Anhand von Guardinis Text über den Sinn des Hölderlinschen Geschichtsgedankens wollen wir untersuchen, wie sich die beiden Modelle als „hermeneutische Schlüssel“ verhalten. Guardini hat diesen Text 1935 in den Schildgenossen veröffentlicht und im Hölderlinbuch (1958) erneut vorgelegt.

Guardini kommentiert „den Sinn des Hölderlinschen Geschichtsgedankens“ im „zweiten Kreis“ des Buches und postuliert, dass darin „vom innerlich bereiten Leser“ ein eschatologischer Sinn der Geschichte empfunden werden kann. Er nennt eine Reihe von Ausdrucksweisen, in denen Hölderlin eine geistliche Fülle in der Geschichte „prophezeit“: „Alles Leben wird göttlichen Sinnes voll; Irdisches und Himmlisches verbinden sich; Menschen und Götter feiern ihr Brautfest; alles wird von Frieden und Schönheit erfüllt; alles vom Geiste durchströmt“. Guardini interpretiert dies weder als tatsächliche Endzeiterwartung noch als romantische Sehnsucht, sondern als eine Phase des Daseins, in welcher das Ewige „in die Zeit kommen [will]; als geheimnishafte Sinnfülle, in welcher jeder Konflikt sich löst, jedes Fragen erlischt, und jedes Bedürfen gesättigt wird“. So nutzt Guardini die Schichtenlehre als hermeneutischen Schlüssel; er interpretiert Hölderlins „Prophetie“ als eine Sehnsucht, den Sinn des Irdischen von einer höheren Stufe, also dem Überirdischen her freizulegen, ohne die unteren Stufen dabei aufzulösen oder aufzuheben.

Dieses Nicht-Irdische tritt ins Irdische, dieses Ewige ins Zeitliche ein – doch so, dass das Irdische weiterhin irdisch bleibt, und das Zeitliche weiterhin zeitlich. Das heißt aber, dass Geschichte und Nicht-Geschichte, Erde und Himmel, eschatologische Verwaltung und Fortgang des Daseins in Einem sein werden.

Es handelt sich also um den Versuch, die Geschichte über sie selbst hinauszuheben und doch als Geschichte zu erhalten; die Überschreitung des Diesseits zu vollziehen, aber so, dass die Einheit mit der Erde bleibt; die Ewigkeit zu gewinnen, aber nicht als Aufhebung der Zeit, sondern als Charakter des zeitlichen Daseins selbst.

Es liegt klar zutage, dass Guardini die Geschichte hier – durch Hölderlins Linse – als eine Wirklichkeit auffasst, die nicht nur von der geistigen Stufe her betrachtet werden kann (als zeitliche und irdische Kulturgeschichte), sondern auch von der geistlichen Stufe (als religiöse und mystische Verwirklichung von ewigem Wert).

Lesen wir im Text weiter, stoßen wir auf Signalwörter der Gegensatzlehre:

Damit verändert sich freilich notwendig der Begriff der Ewigkeit selbst. Sie, die ihrem Wesen nach die Seinsweise des selbstherrlichen und heiligen Gottes ist, wird zum dialektischen Gegenpol der Zeit und damit zu einem Moment des Weltdaseins. Ebenso verändert sich auch der Begriff der Zeit; denn sie, die ihrem Wesen nach geschaffen ist, »im Angesichte der Ewigkeit«, von ihr abhängig und aus ihr ihren Sinn empfangend, dahinzugehen, wird zum ebenbürtigen Gegenspiel dieser Ewigkeit und fähig, mit ihr in die Einheit einer neuen Existenzform einzugehen. In Wahrheit verlieren Ewigkeit sowohl wie Zeit ihren Charakter – das Wort im strengen Sinne der Eindeutigkeit und Verantwortbarkeit genommen.

Guardini erkennt in Hölderlins Geschichtsbild also nicht nur einen geschichteten Bezug zwischen Zeit und Ewigkeit, sondern auch eine polare Stellung zwischen beiden. Ich will vorwegnehmen, dass Guardini diese Polarstellung sogleich kritisieren wird. Doch zunächst geht er den Gedanken mit und beschreibt, wie Hölderlins Polarität dazu führt, dass Zeit nicht mehr rein zeitlich und Ewigkeit nicht mehr rein ewig sind; im polaren Bezug nehmen beide neuen Charakter an. Die Zeit wird „emporgehoben“, die Ewigkeit dabei aber „verweltlicht”. „Wie Gott [bei Hölderlin] zu einem Element der Welt, so soll die Ewigkeit zu einem Element der Geschichte werden“.

Für Guardini selbst ist klar, dass die Ewigkeit „im strengen Sinne der Eindeutigkeit“ nicht im Gegensatz zur Zeit steht, sondern auf einer höheren Stufe der Wirklichkeit liegt. Es ist für Guardini nicht zulässig, die verschiedenen Schichten als solche einfach polar nebeneinanderzuhalten. So wie – im obigen Beispiel von Leib und Seele – Geist als solcher nicht der Materie bedarf, um Geist zu sein, braucht Ewigkeit die Zeit nicht, um ewig zu sein.

Gleichzeitig geht es Guardini in der Gegensatzlehre aber auch gar nicht darum, Begriffe (wie „Zeit“ oder „Ewigkeit“) in ihrer strengen Eindeutigkeit einander zuzuordnen; vielmehr geht es ihm um die Betrachtung des Lebendig-Konkreten. In der konkreten Geschichte kommen Zeit und Ewigkeit – auch für Guardini – durchaus „nebeneinander“ vor. Obwohl Zeit und Ewigkeit ihrem Begriff und Wesen nach nicht polar zueinander stehen, können sie in der konkreten Geschichte durchaus polar aufeinander wirken; eben nicht länger als „reine Ewigkeit“ und „reine Zeitlichkeit“, sondern in einem veränderten Sinn.

Zwei Hinweise weisen unserer Interpretation den weiteren Weg:

Zunächst darf – gemäß der Schichtenlehre – die Ewigkeit nicht so „in Welt und Geschichte hereingeholt werden“, dass die obere Schicht auf die untere reduziert und somit „von unten“ verstanden werden soll. Wie gerade im letzten Teil des Hölderlinbuches deutlich wird, zieht Hölderlin Christus letztlich ins Immanente, statt das Menschliche durch Christus ins Transzendente emporzuheben.

Guardini schätzt an Hölderlin, dass er auf der geistigen Ebene die Spuren des Geistlichen erkennt und mit ihnen ringt; doch weiß er auch, dass sich der Dichter nicht auf die höhere Stufe schwingt, um vom Glauben her zu sehen. So wie der Anthropologe in der menschlichen Hand die Spuren einer höheren – in diesem Fall einer geistigen – Ebene erkennen kann; aber den menschlichen Geist nicht allein dadurch erschöpfend versteht, dass er seinen stofflichen und biologischen Niederschlag – also die Hand – untersucht; so kann auch der Dichter die Schicht des Geistlichen immer nur ansatzweise streifen, solange er nicht über die geistig-kulturelle Ebene emporsteigt.

Ferner darf das Göttliche – gemäß der Gegensatzlehre – grundsätzlich nicht auf einen Gegenpol der Welt oder Natur reduziert werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Göttliche nicht die existentielle Rolle eines Gegenpols in konkreten Situationen einnehmen kann. Eine solche konkrete Situation ist aber die menschliche Geschichte. Guardini hat selbst einen Versuch vorgelegt, die Beziehung von Zeit und Ewigkeit in dieser konkreten Geschichte zu erklären – und er scheint sie dabei in eine polare Stellung zu setzen:

Was heißt Mensch sein in seinem tiefsten Sinn? Mensch sein bedeutet, […] sich vergänglich fühlen, aber ins Ewige streben; der Zeit verhaftet sein, aber Nachbar der Ewigkeit, von begrenzter Kraft, und doch entschlossen zu Taten von ewigem Wert. Daß keiner dieser beiden Wesenszüge verschleiert sei, sondern jeder bejaht und ausgereift; daß sie einander nicht zerstören oder ins Maßlose treiben, sondern zu klarer Einheit verschmelzen, die voll innerer Spannung ist und doch geschlossen, gefährdet, aber voll Zuversicht, unbegrenzt, aber ins Unendliche gerichtet – das ist volles Menschentum. Und so viel ist einer Mensch, als er wissend, wollend, und freudig bereit als begrenztes Wesen lebt, in der Zeit, im Wandel, in den tausend Bildungen des Daseins – zugleich aber darum ringt, in die Ewigkeit, in die Unendlichkeit, in die Verklärung durchzudringen. So viel ist einer Mensch, als er diese beiden Wesenszüge wahrhaft und demütig vereint. Das ist des Menschlichen unaussprechlicher Zauber, ein Geheimnis voller Schmerz, voll Kraft, voll Sehnsucht und Zuversicht.

Kann hierin eine Alternative zu Hölderlins Modell gesehen werden? Guardini spricht hier von jener Weise des geschichtlichen Lebens, welche die Kirche dem Menschen ermöglicht. Der Bezug von Zeit und Ewigkeit führt in der Kirche nicht dazu, die Ewigkeit zu verweltlichen, sondern die Zeit zu heiligen. Die untere, natürliche Schicht wird von der oberen, gnadenvollen Schicht er-hoben und nicht auf-gehoben. Die konkrete Wirklichkeit der menschlichen Geschichte in der Kirche vergegenwärtigt Ewig-Geistliches – etwa so wie im menschlichen Leib Geistiges verkörpert bzw. verleiblicht wird. Stoff und Geist sind eigentlich nicht polar aufeinander hin geordnet; im konkreten Menschen sind sie aber tatsächlich vereinigt, was zu jener eigenartigen Spannung des Gegensatzes führt.

Ebenso sind das Menschlich-Irdische und das Göttlich-Ewige eigentlich nicht polar aufeinander hin geordnet; in der konkreten Geschichte sind sie – durch die Inkarnation und die Begründung des Reiches Gottes – aber tatsächlich vereinigt worden, was wiederum zur eigenartigen Spannung des Gegensatzes führt.

Ob diese Unterscheidung zwischen dem „Eigentlichen“ und dem „Tatsächlichen“ genügt, um die Frage zu beantworten, ob und wie eine polare Stellung der verschiedenen Schichten zueinander zulässig ist, bleibt dahingestellt. So viel können wir aber zweifellos festhalten: Wenn eine solche Polarität vorkommen sollte, muss darauf geachtet werden, dass eine Wirklichkeit nicht auf eine jeweils tiefere Schicht „reduziert“ wird. Und wenn eine solche Polarität vorkommen sollte, dann nur als lebendiger und konkreter Fall, nicht im Sinne einer „reinen“ Gegenüberstellung des Geistigen und Geistlichen als solchem.

Weitere Medien vom Autor / Thema: Kunst | Kultur

Den Themen Macht, Machtmissbrauch und Widerstand nähert sich der Vortrag in zehn Schritten. I. Können Unmächtige mit legalen Mitteln einem Machtmissbrauch abhelfen? Antwort: Im Prinzip ja – nie war das leichter als bei uns heute –, aber sie tun es viel zu selten. Auf dieses Problem kam ich durch einen Fall in meiner eigenen Szene, in…
Der vorliegende Beitrag gibt einen Vortrag wieder, mit dem ich ein Kapitel römischer Petrus-Tradition anspreche und historische Aussagen über den gesellschaftlichen Wert von Denkmälern als eine Grundlage für den Denkmalschutz vorstelle. Wir betrachten hier die Planung für die Erneuerung der alten Peterskirche daraufhin, welche Gedanken auf sie einwirkten. Dazu geben wir die Fixierung auf Westeuropa…

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema: Kunst | Kultur

Porträt: © Wikimedia Commons_Amrei-Marie
Literatur im Gespräch
Erich Garhammer trifft Adolf Muschg
Donnerstag, 23.01.2025
Bernhard Neuhoff im Gespräch mit Sir Simon Rattle
Dienstag, 27.05.2025