“Die Brücke zu der Welt, die einst kommen SOLL”

Neue archivalische Erkenntnisse zu den Anfängen von Guardinis Beschäftigung mit der literarischen Kunst

Die Hauptquellen für die frühe persönliche Literaturgeschichte Romano Guardinis sind die in Mooshausen von 1943 bis 1945 verfassten Berichte über mein Leben. Zwei davon wurden 1984 veröffentlicht. Ein dritter, mit dem 7. März 1945 datiert, ist bislang unveröffentlicht, enthält aber für die Fragestellung die wichtigsten und „neuen“ Erkenntnisse.

Guardinis Berichte über mein Leben

Unter dem Titel „Geistige Entwicklung und schriftstellerische Arbeit“ liest man zunächst grundsätzliche Aussagen darüber, wie Romano Guardini die Kunst und mit ihr die Literatur in die „Welt“ einordnet. Er unterscheidet die „Welt ersten Grades“, die Natur, von der „Welt zweiten Grades“, der Kultur. In der letzteren ist Kunst und Literatur „jene Gestaltung, in welcher das Wesen der Welt, das Wesen der Dinge und das des erlebenden Menschen im unwirklichen Raum der Vorstellung zu gültigem Ausdruck gelangt. So bildet das Kunstwerk im Raum der reinen Anschauung gleichsam eine Brücke zu der Welt, die einst kommen soll. Diese, wenn man so sagen darf, eschatologische Auffassung hat schon sehr früh sich durchzusetzen begonnen.“ Gemeint ist die eschatologische Auffassung innerhalb seiner Welt-, Kunst- und Literatur-Anschauung. Guardini fährt fort: „Später bin ich auch den großen Meistern begegnet, vor allem den französischen und russischen Romanen. Ich muß aber gestehen, daß für meine persönlichen literarischen Bedürfnisse diese großen Werke immer zu anspruchsvoll gewesen sind. Mit ihnen – dasselbe gilt von den ganz Großen, wie Dante oder Shakespeare – habe ich nie in der sozusagen privaten Form des persönlichen Lesens und Aufnehmens verkehren können. Dafür waren sie mir zu groß. In ihrer Atmosphäre konnte ich nur sein, wenn ich selber aktiv wurde, wie das in den verschiedenen Arbeiten über Dante, Dostojewskij, Hölderlin geschehen ist.“ Guardini schließt diesen biographischen Entwicklungsgang ab mit der klaren Selbsterkenntnis: „Als ich so weit war, konnte ich mit dem anfangen, was ein Hauptteil meiner Arbeit geworden ist: der Interpretation geistig bzw. religiös schöpferischer Persönlichkeiten, und zwar so, daß aus der Persönlichkeit ein Licht auf ihr Werk und aus ihrem Werk ein Licht auf die erstere fiel. Hierzu habe ich eine entscheidende Hilfe erfahren von der phänomenologischen Philosophie, insbesondere ihre Verkörperung durch Max Scheler.“

Die Erwähnung Max Schelers an diesem Punkt hat seine Vorgeschichte, nämlich Guardinis Beschäftigung mit der Welt-, Literatur- und Kunstanschauung bei Simmel, Wölfflin, Dilthey, Windelband und Rickert. Deren Einfluss war so stark, dass Max Scheler in seinem Brief an Guardini aus dem Jahr 1919 nach der Lektüre der ersten Schriften Guardinis einen starken Einfluss von Rickert und Windelband zu erkennen glaubte. Guardini selbst verweist öfters auf den Einfluss Simmels, in seinem dritten Bericht über mein Leben auch den Diltheys.

Guardinis Rothenfelser Leihgaben-Bibliothek

Um die Frage zu beantworten, warum nur noch so wenig von Guardinis „früher“ Bibliothek vorhanden ist, muss man gedanklich ins Jahr 1927 nach Burg Rothenfels gehen, als Guardini dort ab 1927 Burgleiter wurde. In den folgenden Jahren hat er im Westflügel eine Burgbibliothek eingerichtet. Wie Elisabeth Wilmes in ihren Erinnerungen berichtet, hat Guardini diese „literarische Sammlung … ausgewählt und als Leihgabe zur Verfügung gestellt. Sie umfasste 1931 fast 2000 Bände“, darunter zwar keine Unterhaltungsliteratur, dafür umfangreiche Bildsammlungen und kunstgeschichtliche Literatur. Und es „waren die deutschen Meistererzähler mit repräsentativen Gesamtausgaben vertreten, … nicht nur Gottfried
Kellers ­­Romane, sondern auch alle Schriften von Jeremias, –nicht nur Eichendorffs Werk, sondern auch eine vollständige Brentano-Ausgabe. Die Übersetzungen von Tolstoi und Dostojewskij standen für die Mitglieder der Werkwochen griffbereit. Aber auch die erzählenden Dichtungen von Leskow wurden empfehlend zur Verfügung gestellt. Vor den philosophischen Tagungen trafen die aktuellen Texte, etwa von Newman oder Kierkegaard, die kaum jemand kannte, zur Benutzung ein. Eine Vorliebe gab es für französisches Schrifttum, ob es sich um das Idyll des Hasenromanes von Francis Jammes, die psychologischen Romane von Bernanos handelte oder um die Übersetzungen Claudels.“ In einem Erker vor der Bibliothek gab es eine Sitzbank für neun Leser und ein Bücherbord, für das Guardini selbst Karl May vorgeschlagen hat.

Am 16. März 1945 wurde Guardinis Rothenfelser Leihgaben-Bibliothek durch einen unglücklichen Umstand in den Verlagsräumen des Werkbundverlages in der Heinestraße zusammen mit der gesamten Alt- und Innenstadt Würzburgs zerstört. Ingeborg Klimmer, damals Mitarbeiterin des Werkbund-Verlages, berichtet 2005/06 in „Magnificat“, von einer teuren und letztlich vergeblichen Rückführung: „1945 verbrannte dann allerdings beim Angriff auf Würzburg der Werkbundverlag mit der Druckerei, übrigens auch mit der von Guardini selbst aufgebauten Bibliothek der Burg Rothenfels. Diese war zunächst von den Nazis beschlagnahmt worden, konnte jedoch später vom Werkbundverlag zurückgekauft werden.“ Tatsächlich hatte die Gestapo 1939 bei der Beschlagnahme der Burg auch die Kapelle mit ihren sakralen Gegenständen, Gewändern und den liturgischen Büchern sowie die gesamte Bibliothek eingezogen. Guardini hat sich darüber bei den höheren Gestapo-Stellen in Berlin beschwert, da diese Dinge nicht dem Freundeskreis Burg Rothenfels als Burgträger gehörten, sondern der davon unabhängigen „Stiftung Rothenfels“, die Bibliothek sei sogar seine persönliche Leihgabe. Daher müssten diese Dinge wieder ausgehändigt werden. Nach einigem Hin und Her ist dies bezüglich des Kapelleninventars geschehen. Die Bibliothek konnte dagegen vom Verlag zurückgekauft werden.

Nur ganz wenige Funde, gut 50 der 2000 Bücher mit dem alten „Leihgaben“-Stempel haben „irgendwo“ und „irgendwie“ überlebt, die meisten stehen noch in Rothenfels selbst, andere in Mooshausen wohl durch Guardini selbst dorthin entliehen. Einige wenige hatte wohl Hans Waltmann aus dem Verlag mit nach Hause genommen und sind über dessen Nachlass in den Bestand der Katholischen Akademie zurückgekommen.

Kindheit und Schulzeit in Mainz

Für die Mainzer Frühzeit bis zur Reifeprüfung 1903 stehen weiterhin nur die bereits bekannten Erinnerungen von Adam Gottron und Philipp Harth zur Verfügung, die Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz bereits in ihrer Guardini-Biographie 1985 angeführt hatte. Von Gottron wissen wir, dass die Guardini-Brüder Besitzer aller Karl-May-Bände waren. In Harths „Mainzer Viertelbuben“ heißt es dann: „Romano besaß ein Büchergestell mit vielen Büchern. […] Voller Bewunderung hörte ich zu, wenn Romano den Inhalt von Büchern schilderte, die er gelesen hatte. Auch Gedichte interessierten ihn sehr und er dichtete auch selbst. […] Für die Schule übersetzte er Oliver Twist aus dem Englischen. In sein Heft zeichnete ich dazu Illustrationen, was dem Lehrer und seinen Mitschülern Freude machte. Ich lernte dadurch das Buch und andere Bücher von Dickens, die mir Romano lieh, kennen. Das größte und schönste Buch, das Romano besaß, war Dantes „Göttliche Komödie“ mit den Illustrationen von Doré. Diese Bilder betrachteten wir oft, Romano wußte sie mir zu erklären, da er dieses Buch gelesen hatte.“

Was Dante betrifft, ist schließlich noch auf Guardinis Studie von 1937 „Der Engel in Dantes Göttlicher Komödie“ hinzuweisen, der in italienischer Sprache die Widmung „Dem Andenken meines Vaters, von dessen Lippen das Kind die ersten Verse Dantes pflückte“ vorangestellt ist. Dies kann als Indiz für eine stark bibliophile Erziehung durch den Vater gelten.

Chemiestudium in Tübingen 1903/04

Für seine Zeit als Chemiestudent in Tübingen gibt es ebenfalls nicht viel Neues. Denn über seine Fritz-Reuter-Lektüre erfuhr man schon aus den bereits veröffentlichten „Berichten über mein Leben“. Im dritten Bericht bestätigt Guardini dies lediglich: „Ich entsinne mich gewisser literarischer Interessen, die sich aber auf Autoren wie Fritz Reuter beschränkten.“

Mittlerweile ist außerdem bekannt, dass er Heinrich Hansjakobs „Stille Stunden“ gelesen hat und davon so angetan war, dass er allen Mut zusammenfasste, um dem Verfasser am 15. Januar 1904 einen Brief zu schreiben. Der Brief wurde 1987 durch Werner Scheurer in der „Heinrich Hansjakob (1837–1916). Festschrift zum 150. Geburtstag“ veröffentlicht. Darin heißt es: „Ich hab’ von Ihren Werken nur die `Stillen Stunden´ gelesen. Hab’ zwar manches, wohl eben meiner mangelnden Erfahrung halber, nicht recht begreifen können; aber über vieles, was Sie sagten, hab’ ich mich so gefreut, dass ich Ihnen wirklich danken muss für all’ die herrlichen Ansichten, die Sie da ausgesprochen haben. Da ist z. Beispiel Ihre Meinung von der Seele der Tiere. Gott, wie oft bin ich schon deshalb ausgelacht worden, weil ich mich nicht damit habe einverstanden erklären wollen, dass so ein armes Tier nur Arbeit und Plage haben sollte und dann das Nichts. Jetzt kann ich mich doch wenigstens auf Jemand berufen, der all’ das viel eher und besser als ich gedacht und gesagt hat. Und so wünsche ich Ihnen, lieber Herr, dass `der alte Karren´, wie Sie selbst sich nennen, noch lange solch köstliche Schätze wie die `Stillen Stunden´ hineinfahren möge in die Speicher katholischer Literatur.“

Nationalökonomie-Studium in der Literaturstadt München 1904/05

Guardini wechselte dann seinen Studienort und sein Studienfach. Er ging nach München und schrieb sich für Nationalökonomie ein. Im Blick auf die Kunst- und Literaturstadt München notierte er in den schon bekannten „Berichten über mein Leben“: „Was für mich damals wirklich bedeutungsvoll wurde, war die Stadt und die künstlerisch-literarische Luft in ihr. Ich fand anregende Freunde, aber, bezeichnend genug, nicht unter Fachgenossen, sondern unter Kunsthistorikern, Literarhistorikern und Schriftstellern. Damals kam ich auch mehr ins Leben hinein. Die eigentümliche Mischung von Großstadt und Behaglichkeit, durchwachsen mit einer künstlerischen Bohême, welche immer auf die Spießerei der Stadt schimpfte und sich darin doch unendlich wohl fühlte, wirkte lösend und anregend auf mich. Ich ging ins Café und nahm an den endlosen Diskussionen über Literatur und bildende Kunst teil; besuchte Konzerte, Museen und Ausstellungen, sah mich in der schönen Umgebung um – alles freilich doch noch von der Schüchternheit gebunden, die ich in mir trug.“ Hier machte er also in Schwabing und in den anderen Vierteln jene Erfahrungen, die ihn nachhaltig prägen sollten. Diese Erlebnisse haben ihn aber bekanntermaßen auch zu einer tiefen religiösen Krise geführt, ausgelöst von einem Gespräch mit einem Kunsthistoriker und Kantianer am Brunnen vor der Universität.

Für den durch und durch schüchternen Guardini waren diese Erfahrungen wohl erst aufgrund seiner früheren Mainzer Mitschüler möglich, die sich in der „Münchener Freien Studentenschaft“, bei den „Münchner Finken“, engagierten. Dort fand er dann auch weitere Freunde. Besonders hervorzuheben sind der schlesische Kunsthistoriker Franz Landsberger (1883–1964); der aus Mainz kommende, spätere Schriftsteller, Schauspieler und Theaterregisseur Rudolf Frank (1886–1979), der Guardini in seiner Autobiographie „Spielzeit eines Lebens“ ausführlich würdigte; die Frankfurterin Recha Rothschild (1880–1966), die dem Münchner „Romano“ in ihrer posthum erschienenen Autobiographie ebenfalls ein Denkmal setzte; dazu noch: der Münchner Ludwig Feuchtwanger (1885–1947), Bruder von Lion und Martin Feuchtwanger, der sich später als Verleger etablierte; und schließlich der Berliner Ernst Lissauer (1882–1937), der sich wenige Jahre später in der Berliner Szene zu dem entwickelte, was man heute „Shooting-Star“ nennen würden.

Nicht nur auf diesem Hintergrund wird verständlich, was Guardini in seinem dritten Lebensbericht für diese Zeit ergänzt: „Auch für das literarische Kunstwerk ist mir damals der Sinn aufgegangen, und zwar war dafür sowohl in München wie in Berlin der Freundeskreis wichtig, in welchen ich verkehrte: zum Teil selbst produktive Leute. Im Gespräch mit ihnen lernte ich die Dichtung nicht nur als fertigen Gegenstand verstehender Bemühung zu sehen, sondern ich bekam Fühlung mit dem Vorgang des Entstehens selbst.“

Rudolf Frank bestätigte in seinen schon 1958 veröffentlichten, von der Guardini-Forschung aber erst spät beachteten Erinnerungen, der „fröhliche Scholar” Guardini sei ein „zweiter Dante” gewesen, der „viel lieber … über die neuen Tristan-Novellen von Thomas Mann…, über `Das Jahr der Seele´ von Stefan George wie über Arthur Schnitzlers erotischen `Reigen´“ gesprochen habe, statt Nationalökonomie zu studieren. Und zu Guardini als „Vorleser“ notierte Frank: „Nie hörte ich einen Menschen Hofmannsthals Verse so still verhalten, unbewußt rein vortragen wie Freund Guardini. Tief in der Nacht auf Michel Oppenheims Bude las er fein ironisch Andersens schnurrige Allegorie vom Wassertropfen unterm Vergrößerungsglas, las lange nach Mitternacht Wilhelm Busch, und wenn der Morgen dämmerte, Dante: »Nel mezzo di cammin di nostra vita».“

Dabei wussten die Münchner Finken auch Feste zu feiern. Am 8. Juli 1905 fand das Sommerfest dieser Freien Vereinigung als Johannis-Walpurgis-Tag am Starnberger See statt, „dessen Rahmen“, wie in der Allgemeinen Zeitung zuvor angekündigt, „ein geheimes mittelalterliches Femgericht mit Hexenverbrennung und Walpurgisnacht bildet, eingeleitet durch eine Pantomime … [ein] Fest, das einen durchaus künstlerischen Charakter tragen wird, …“ Dazu steht in Franks „Spielzeit meines Lebens“: Und dann „… schrien sie Goethes Hexengeheul, sprangen paarweise durchs Feuer und rissen die Delinquentin samt allen Hexenrichtern zum Blocksberg, dem Tanzboden, den stud. ing. Ernst Weinschenk (den die Kunstgewerblerinnen das Rokokomännle nannten) als Hexentanzplatz effektvoll dekoriert hatte. Unter den Hexenrichtern ragte der künftige Staatsanwalt Dreyfuß hervor und sah in der Tat dem Fra Girolamo Savonarola verteufelt ähnlich. Sinnend, mit überlegenem Lächeln blickte Romano Guardini, ein zweiter Dante, in das Getümmel.“ Die bei Frank erwähnten Michel Oppenheim, Ernst Weinschenk und Max Dreyfus waren ebenfalls alle Mainzer Mitschüler von Guardini.

Völlig unerwartet nimmt Guardini in seinem dritten Lebensbericht (Abb. links) dann eine damals schon feste Größe des Münchner Literaturschaffens in den Blick, nämlich: Thomas Mann. „Und zwar war es zunächst die Literatur der damaligen Zeit, also die Autoren um die neue Rundschau. Den stärksten Eindruck hat auf mich Thomas Mann gemacht. Die Intensität des gestaltenden Vorgangs, die in seinem Werk liegt, hat mich stark beeindruckt. […] Und über Autoren wie Thomas Mann wird man sagen können, was man will; so viel ist sicher, daß in ihnen eine ungeheure Feinheit und Präzision der psychologischen Analyse steckt.“ In der „neuen Rundschau“ stand im Juli/August 1905 zum Beispiel Thomas Manns „Fiorenza“. Bisher wusste man nur aus einer Andeutung in seinen posthum erschienenen Ethik-Vorlesungen davon, dass er Thomas Mann schon während seiner Studienzeit gelesen hatte. Dort heißt es: „Thomas Mann war ein großer Künstler. Als ich studierte, war es für uns immer ein Ereignis, wenn etwas Neues von ihm erschien.“

Aber auch eine bereits vergangene Literaturepoche trat damals in München ins Blickfeld Romano Guardinis, wie man im dritten Lebensbericht lesen kann: „In München habe ich auch Fühlung mit der Romantik bekommen. Die damals vor kurzem erschienenen Arbeiten von Ricarda Huch und Marie Joachimi brachten die romantische Welt nahe; Leute aus dem Bekanntenkreis beschäftigten sich mit ihren philosophischen und psychologischen Theorien. So bekam ich Fühlung mit Novalis, Tieck, Brentano, Arnim, Wackenrode, und so fort. Auch diesen Zusammenhang habe ich später nicht verloren.“

Schon durch Gerl-Falkovitz war seit 1985 bekannt, dass Guardini mit Datum 12. Juni 1905 Stendhals „Aphorismen über „Schönheit, Kunst und Kultur“ gelesen hat, die dann als „Leihgabe“ im Archiv der Burg Rothenfels gestanden hat. Darin waren einige Stellen zum Thema „Stil“ von ihm besonders markiert worden.

Das Studiensemester in Berlin 1905/06

Bislang lagen aus den ersten beiden „Berichten über mein Leben“ nur die fast ausschließlich negativen Erinnerungen an sein Berliner Studiensemester vor. Er spricht dort von der „strengen Arbeitsstadt Berlin“ und dem „Charakter des dortigen Lebens“. Daher könne man sich in dieser Stadt nur wohl fühlen, wenn man eine heimatliche Wohnung, eine ausfüllende Arbeit oder viel „überschüssige Kraft“ zum Austoben habe. Seine dunkle Wohnung „in der Nähe des Bellevuebahnhofs“ war „alles andere als behaglich“, „mit der Arbeit aber stand es schlecht“: „So habe ich von jenem Winter nur nebenher etwas gehabt. Ich hatte anregenden Verkehr, meistens noch von München her. Auch ging ich viel in Konzerte und Theater – vor allem wurde Ibsen am Lessingtheater wunderbar gespielt, und man erlebte die interessanten Experimente der Reinhardtbühnen.“

Dieser anregende Verkehr „meistens noch von München her“ bezieht sich darauf, dass laut Personalverzeichnis der Universität mit Guardini von den „Münchner Finken“ mindestens vier Mitglieder mit nach Berlin gewechselt sind: sein Freund Franz Landsberger, die Mainzer Heinrich Blase, der Sohn des Mainzer Gymnasialdirektors, und Max Dreyfuss und Ludwig Feuchtwanger. Interessanterweise ist für dieses Wintersemester auch dessen Bruder Lion Feuchtwanger als Student an der Berliner Universität eingeschrieben. Man wird sich nicht zuletzt in und nach den Vorlesungen bei Simmel und Wölfflin getroffen haben. Aus diesem Personenverzeichnis weiß man auch, dass Guardini in diesem Wintersemester in der Calvinstr. 26 wohnte.

Das ist insofern bedeutsam, weil das Zimmer zwar trist gewesen sein mag, seine Nachbarn, sehr wahrscheinlich sogar seine Vermieter, niemand anderes waren als die Musiker-Schauspieler-Literaten-Ehepaare Ettlinger und Moest: Josef Ettlinger war der Leiter der Neuen Freien Volksbühne sowie Herausgeber der Zeitschrift „Das literarische Echo“. Seine Frau Thea war Schriftstellerin und Whitman-Übersetzerin. Friedrich Moest war Schauspieler und Oberregisseur am Thalia-Theater und artistischer Leiter der Neuen Freien Volksbühne. Seine Frau Else war ehemalige Opernsängerin und nunmehr Gesangslehrerin. Gemeinsam war das Ehepaar Moest seit 1901 Leiter und Eigentümer der Reicherschen Hochschule für dramatische Kunst, die Moest zusammen mit Emanuel Reicher 1898 gegründet hatte.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dem an Literatur und Theater interessierten Guardini diese Tätigkeit seiner Nachbarn verborgen geblieben ist, auch wenn die „Neue Freie Volksbühne“ bei ihm nicht namentlich erscheint, sondern nur das Lessingtheater und die anderen Reinhardt-Bühnen erwähnt werden. Das Lessingtheater stand damals unter Leitung von Otto Brahm. Am 8. November 1905 hatte dort Ibsens „Die Wildente“ Premiere mit großem Erfolg. Die bislang bekannte Erinnerung wird im dritten Bericht präzisiert durch die Aussage: „Sehr stark war auch der Eindruck, den Ibsen auf mich machte, besonders als ich in Berlin die glänzenden Aufführungen des Lessingtheaters sehen konnte.“

Als seine Berliner Lektüren benennt Guardini in dritten Bericht: „Auch Jens Peter Jakobsen muß ich nennen, vor allem seine Novellen. Von deutscher Literatur sind mir damals die großen Erzähler nahegekommen, um dann für immer meine Freunde zu bleiben, zu denen ich immer wieder zurückkehrte: vor allem Gottlieb Keller, Eduard Mörike, Otto Ludwig, Storm (mit starken Vorbehalten) usw.“

Zwei weitere Vorgänge gehören in den Kontext des Berliner Semesters. Im Herbst 1906 veröffentlichte Wilhelm Schleußner, Professor an der Oberrealschule in Mainz, einen dreiteiligen Artikel über Antonio Fogazzaro (Foto 3) in den „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland“. Darin kennzeichnet er den noch lebenden Antonio Fogazzaro (1842–1911) als die „bedeutendste Persönlichkeit der gegenwärtigen italienischen Literatur“. Das bisher unbemerkte Detail: Der Autor gibt für zwei Übersetzungen in den Fußnoten ausdrücklich Romano Guardini als Übersetzer an. In einem anonymen Nachruf für Wilhelm Schleußner 1927 im „Mainzer Journal“ heißt es dazu: „Zwei Namen charakterisieren diese Tafelrunde und Schleußners Einsatz dabei wohl ganz gut: Dr. K. Neundörfer und Dr. Guardini. Wer z.B. weiß, daß in diesen Stunden Schleußners Artikel in den Historisch-politischen Blättern über bezw. gegen Fogazzaro ihre ersten Keime fanden, weiß, wie fruchtbar diese kleine „Akademie“ war.“

Damit rückt dieser Artikel durch die Co-Autorenschaft Guardinis an die Spitze seiner Primärbibliographie. Das Prekäre nun an dieser Mitwirkung am Artikel Schleußners: Ein Jahr zuvor, 1905 hatte die katholische Kirche Fogazzaros Werk „Il santo“ auf den „Index Librorum Prohibitorum“ gesetzt.

Außerdem ist 1907 im Berliner Pan-Verlag des jüdischen Schriftstellers Hans Landsberg Guardinis Gedicht- und Briefsammlung „Michaelangelo“ erschienen. Vermutlich hat er schon vor dem Berliner Semester mit der Übersetzung der Briefe begonnen. Für einige Sonette kann er auf noch nicht veröffentlichte Übersetzungen der anerkannten Dante-, Petrarca-, Carducci-, aber auch Edgar Allen Poe-Übersetzerin Bettina Jacobson (1841–1922) zurückgreifen. Von Hans Landsberg aus gehen wiederum Verbindungen sowohl zu Berliner Literatur-Kreisen, zu denen die Ettlingers und die Moests gehören, aber auch zu den Kreisen, zu denen Simmel und Wölfflin gehören. Die Kunsthistorikerin Yvonne Dohna-Schlobitten betont in ihren letzten Publikationen völlig zu Recht, dass Guardini hier durch seine Auswahl, seine Anordnung und seine Kommentierung eine Gestalt- und Werk-Anschauung leistet, die bereits alle Grundlagen seiner späteren Weltanschauungslehre enthält.

Der Theologiestudent in Freiburg, Tübingen und Mainz 1906 –1910

Neue Funde werden für die Zeit seines Theologiestudiums in Freiburg, Tübingen und Mainz wieder rarer. Für das Freiburger Sommersemester gibt es nach wie vor keinen „literarischen“ Treffer. Mit dem Eintrag „Tüb. 10.3.07“ steht in der Privatbibliothek im Schloss Suresnes W. v. Kügelgens „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“. In einem Brief an Josef Weiger vom November 1908 verweist Guardini auf John Ruskins „Menschen Untereinander“. Für seine Zeit im Mainzer Priesterseminar ist relevant, dass er 1911 anonym eine Rezension in den Historisch-Politischen Blättern veröffentlicht hat unter dem Titel: „Das Interesse der deutschen Bildung an der Kultur der Renaissance“. Dabei handelt es sich um eine Rezension zu: Francesco Matarazzos „Chronik von Perugia“ und zu Francesco Petrarcas „Brief an die Nachwelt; Gespräche über die Weltverachtung; Von seiner und anderer Leute Unwissenheit“. Letzterer Band wurde übersetzt und eingeleitet von seinem Tübinger Mitstudenten und Freund Hermann Hefele. Beide Bände sind 1910 reich illustriert im Diederichs Verlag erschienen.

Der Promotionsstudent in Freiburg 1912 bis 1915

In der Freiburger Promotionszeit hat Guardini im damaligen Collegium Sapientiae an der Karthäuserstr. 41 wohl als Ausgleich zu seiner Studienliteratur über Bonaventura wieder vermehrt allgemeine Literatur gelesen. Die meisten Hinweise stammen aus den von Gerl-Falkovitz 2008 herausgegebenen Briefen an Josef Weiger. Diesem gibt Guardini im Februar 1913 die Empfehlung: „aber Du sollst den Reuter und Raabe auch lesen. […] Raabes Eulenpfingsten kommt erst später, muß gebunden werden.“ Ein Brief im Dezember 1913 berichtet von der eigenen Raabe-Lektüre. Zu Raabe findet sich im dritten Lebensbericht jetzt ein aufschlussreicher Verweis: „In meiner zweiten Freiburger Zeit kam, auf die Anregung von E.M. Roloff Wilhelm Raabe hinzu, der mir lange Zeit hindurch sehr wichtig war. An“ diesem Erzähler „habe ich die Intensität der Vorstellung, der Klarheit der Form und die Fülle der Sprache geliebt, auch die gewisse Abgeschlossenheit und Beschaulichkeit der Stimmung.“ Dieser Anreger Ernst Max Roloff war „Leibbursch“ Guardinis in der Freiburger katholischen Studentenverbindung Unitas während des Promotionsstudiums. Er war Herausgeber des „Lexikon der Pädagogik“. An mehreren Artikeln Roloffs hat Guardini als ungenannter „Ghostwriter“ mitgeschrieben.

Für den Zeitraum zwischen Juni 1913 und Juli 1914 finden sich noch folgende Hinweise auf Brentano, die Gedichtsammlung „Der geistliche Mai. Marienlieder aus der deutschen Vergangenheit“, die ausgewählten Gedichte von Detlev von Liliencron, den von Hermann Hesse ausgewählten Band „Der Zauberbrunnen. Die Lieder der deutschen Romantik, Richard Wagners „Jesus von Nazareth“ und auf „Goethes Briefe an Frau von Stein“.

Dass Guardini sich in diesen Jahren viel mit alten und gesammelten Sagen und Märchen, aber auch mit sagenhafter und märchenhafter Erzählkunst der Romantik und Gegenwart beschäftigt hat, zeigen seine beiden, leider noch nicht wieder in der Werkausgabe zugänglichen Empfehlungen, wie man sich am besten mit Sagen und Märchen beschäftigt, ein wenig ähnlich zu seinem Aufsatz über die Beschäftigung mit der Kunst von 1912. Diese Empfehlungen finden sich 1918 unter dem Pseudonym „Dr. Anton Wächter“ in Monatsschrift „Heliand“. Ebenfalls als „Anton Wächter“ erschien 1920 in der Zeitschrift „Der Wächter“ ein Rezensionsaufsatz „Thule oder Hellas? Klassische oder deutsche Bildung?“ Die darin besprochenen, seit 1911 im Diederichs-Verlag erschienenen Bände der Thule-Reihe stehen in Guardinis Privatbibliothek und sind mit Eintragungen durchgearbeitet. Aufgrund des in mehreren Bänden enthaltenen Ex libris-Stempel „R. A. Guardini Sac.“, den er nur zwischen 1913 und 1915 verwendet hat, kann man schließen, dass die Bände überwiegend zu seiner Freiburger Lektüre gehören.

Conclusio

Guardini hat sich also in seiner frühen Zeit besonders stark mit „umstrittener“ zeitgenössischer Literatur beschäftigt. Ausdrücklich betont er die Bedeutung Thomas Manns. Auch mit der Literatur der Antike, des Mittelalters und der Renaissance setzt Guardini sich viel auseinander, besonders in den entsprechenden Ausgaben des Eugen Diederichs-Verlags. Ein besonderes Augenmerk legt er von Beginn an auch auf Märchen und Sagen bzw. märchenhafte und sagenhafte Literatur. Darüber hinaus liest er viel Bücher „reformkatholischer“ Autoren. Hinzu kommt die Lektüre der Zeitschriften „Neue Rundschau“ und „Hochland“. Im Blick auf seine Mainzer Seminarerfahrungen und die antimodernistischen Haltungen in der römisch-katholischen Kirche bleibt er mit eigenen Äußerungen zu seinen Lektürefrüchten vorsichtig und veröffentlicht die ersten eigenen Texte dazu anonym oder pseudonym. Insgesamt wird dabei seine eigene expressionistische und phänomenologische Haltung in Wesens- und Stilfragen deutlich. All diese „literarischen Kunstwerke“ erfährt er schließlich als „die Brücke zu der Welt, die einst kommen SOLL“. Die im Kunstwerk liegende eschatologische „Verheißung“ gehört für Guardini zum „Wesen des Kunstwerks“.

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