Der altbabylonische Atramchasis-Mythos: Menschen von göttlicher Art
Der Austausch Israels mit den religiösen und kulturellen Traditionen seiner Umwelt hat sich in besonderer Weise in der biblischen Urgeschichte niedergeschlagen. Als man sich dessen am Ende des 19. Jahrhunderts ufgrund archäologischer Forschungen in vollem Ausmaß bewusst wurde, kam es zu einem heftigen Streit unter den Gelehrten, dem sogenannten Babel-Bibel-Streit. Im Raum stand die Frage: Kann die Bibel noch als Offenbarung Gottes angesehen werden, wenn viele ihrer Texte und Traditionen bereits in der viel älteren Kultur Babyloniens bezeugt sind?
Die stärksten Parallelen zwischen der biblischen Schöpfungserzählung und den Schöpfungsmythen aus der Umwelt Israels findet sich im Atramchasis-Epos. Das Epos blieb in einer altbabylonischen Fassung aus dem 16. Jh. und einer neuassyrischen Fassung aus dem 7. Jh. erhalten. In diesem Epos lassen sich sechs Themen ausmachen: Auseinandersetzung zwischen zwei Göttergruppen; Menschenschöpfung; Plagen zur Verminderung und Schwächung der Menschheit; Flut; Rettung einer Familie aus der Flut; Schaffung einer neuen Ordnung nach der Sintflut.
Von den sechs Themen des Atramchasis-Epos begegnen fünf in der biblischen Schöpfungserzählung. Allein die Auseinandersetzung zwischen zwei Göttergruppen findet sich im Alten Testament nicht, da in ihm ein monotheistisches und kein polytheistisches religiöses Symbolsystem vorausgesetzt wird. Israel ist aufgefordert, den einen wahren Gott zu verehren und die Götter der anderen Völker nicht weiter zu beachten. Die Auseinandersetzung, die sich im Atramchasis-Mythos zwischen den Göttern abspielt, findet in der biblischen Sintfluterzählung in Gott selbst statt.
Auseinandersetzung zwischen zwei Göttergruppen: Am Anfang waren die Götter Menschen. Es gab zwei Klassen von Göttern: die herrschende Klasse der Anunna und die untere Klasse der Igigu. Die untere Klasse der Igigu-Götter musste auf der Erde schwere Arbeit verrichten. Sie mussten das Kanalnetz in Babylonien ausbauen: „Als die Götter Mensch waren, trugen sie Mühsal, schleppten den Tragkorb. Der Götter Tragkorb war groß, die Mühsal schwer, viel Beschwerden gab es“ (I,1-4). Nach vielen Jahren treten die Igigu-Götter in den Streik. Sie weigern sich, der harten Arbeit weiterhin nachgehen zu müssen. Die oberen Götter unter der Leitung des Gottes Enlil beraten und gelangen zu der Einsicht, dass der Streik der unteren Götter berechtigt ist. Das Problem ist nur: Wer soll die Arbeit tun? Denn das Kanalnetz muss weiter ausgebaut werden. In dieser Situation beschließen die Götter, Menschen zu erschaffen und ihnen die schwere notwendige Arbeit aufzuerlegen. – Dieser Teil des Mythos hat keine Parallele im Alten Testament.
Menschenschöpfung: Enki und die Muttergöttin schaffen aus Lehm und dem Blut eines getöteten Gottes die ersten Menschen. Ob es sich dabei um einen androgynen Urmenschen gehandelt hat, der anschließend in einen weiblichen und männlichen Menschen geteilt wurde, lässt der an dieser Stelle lückenhafte Text nicht mehr mit Sicherheit erkennen. Am Ende jedoch ist es ein Menschpaar.
Hier zeigen sich einige markante Parallelen zur biblischen Menschenschöpfung. In beiden Fällen erfolgt die Erschaffung des Menschen in zwei Akten. Damit sollen offenkundig sowohl der Unterschied als auch die Gemeinsamkeit zwischen Menschen und Göttern hervorgehoben werden. In beiden Fällen wird der Mensch aus Lehm geformt. Das unterscheidet ihn von den Göttern. Allerdings fließt in seinen Adern das Blut eines getöteten Gottes. Der Mensch trägt also göttliches Leben in sich. Von einem getöteten Gott und vom göttlichen Blut in den Adern des Menschen weiß das Alte Testament nichts. Es weiß allerdings sehr wohl, dass der Mensch etwas Göttliches in sich trägt. Gen 2 fasst den Gedanken mit der Beatmung des Menschen durch Gott in ein anschauliches Bild. In einem zweifachen Akt erschafft Gott den Menschen nach Gen 2,7: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen, Staub vom Erdboden [1. Akt] und blies in seine Nase den Lebensatem [2. Akt]. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ Der Mensch trägt göttlichen Atem in sich. Darin unterscheidet er sich von den Tieren. Wie der Mensch werden auch die Landtiere nach Gen 2,19 von Gott aus dem Erdboden geformt. Doch im Unterschied zum Menschen werden sie von Gott nicht beatmet.
Mit dieser Differenz markiert der Erzähler von Gen 2 den Unterschied zwischen Mensch und Tier. Die Beatmung des Menschen durch Gott stellt nach Ausweis der Ikonographie einen intimen Akt personaler Zuwendung dar. Der zugrundeliegende Gedanke dürfte in beiden Traditionen der gleiche sein: Der Mensch trägt etwas Göttliches in sich. Es besteht keine radikale und absolute Trennung zwischen Gott und Mensch. Dass auch das Blut eine besondere Affinität zum Göttlichen aufweist – wie es in der Menschenschöpfung des Atramchasis-Epos der Fall ist – dürfte im sogenannten Bluttabu in Gen 9,4 angedeutet sein.
Erste Reaktion auf die Überhebung der Menschen – Plagen: Auf den Lärm und die starke Vermehrung der Menschen reagieren die Götter zunächst mit einer Reihe von Plagen. Durch geschicktes Agieren mit Hilfe des Gottes Enki und des weisen Menschen Atramchasis gelingt es den Menschen, die Plagen zu überleben.
Sintflut – Rettung – Neuordnung der Welt nach der Sintflut: Nach der besonders schweren dritten Plage veranlasst der Götterkönig Enlil die Götter, den Beschluss zu fassen, durch eine Sintflut die ganze Menschheit zu vernichten. Durch eine List Enkis erfährt Atramchasis vom Beschluss der Götter, baut eine Arche und kann so der Flut entkommen. Am Ende opfert er den Götter. Die nachsintflutliche Welt wird neu geordnet. An die Stelle kollektiver Strafe tritt das Prinzip individueller Vergeltung. Da der Text schlecht überliefert und diese Themen ausführlicher im Gilgamesch-Epos dargestellt werden, möchte ich dieses sowohl in der Bibel als auch in den altorientalischen Schöpfungsmythen wichtige Thema auf der Grundlage des Gilgamesch-Epos näher erläutern.
Das akkadische Gilgamesch-Epos: Die Bindung der Gewalt an das Recht
Gilgamesch ist die berühmteste Sagengestalt des Alten Orients. Bereits um 2600 v. Chr. wird sein Name in einer Götterliste aus Fara erwähnt. Aus dieser Zeit dürften auch einige sumerische Gilgamesch-Gedichte stammen. Auf der Basis der sumerischen Mythologie dürfte die akkadische Gilgamesch-Tradition mit der altbabylonischen Zeit etwa um 1900-1700 v. Chr. entstanden sein. Es ist das große Gedicht von der Freundschaft der beiden Helden Gilgamesch und Enkidu, der Sterblichkeit des Menschen und der Suche nach dem (ewigen) Leben.
Die Gilgamesch-Tradition existierte in unterschiedlichen Versionen und erfreute sich weiter Verbreitung und großer Beliebtheit im Alten Orient. Auch in der nordisraelitischen Stadt Megiddo wurde ein akkadisches Tontafelfragment gefunden. Die vollständigste Version ist die sogenannte Zwölf-Tafel-Fassung aus der Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal aus Ninive im 7. Jahrhundert v. Chr. Berühmt geworden ist die 11. Tafel. Sie erzählt von einer Flut und weist eine Reihe auffallender Parallelen zur biblischen Sintfluterzählung auf. Ich möchte im Folgenden einige Motive miteinander vergleichen.
In der Fluterzählung des Gilgamesch-Epos heißt der Held statt Atramchasis Utnapischtim. Es wird kein Motiv für die Flut genannt. Utnapischtim überlebt die Flut und erlangt dadurch Unsterblichkeit. Da keine neue Flut zu erwarten ist, kann Gilgamesch das ewige Leben nicht mehr erlangen. Utnapischtim verweist ihn auf ein Anti-Aging-Kraut, das ihm jedoch von einer Schlange gestohlen wird. Was ihm letztlich bleibt, ist sein Ruhm über die von ihm erbaute Stadtmauer von Uruk.
Schauen wir uns einige Passagen näher an. Gilgamesch fragt seinen Freund Utnapischtim: „Sag mir, wie tratst du in die Versammlung der Götter und schautest das Leben?“ (XI, 7). Das heißt: Wie hast du göttliche Unsterblichkeit erlangt? Und nun erzählt Utnapischtim seinem Freund Gilgamesch, wie er die Flut überlebte. Die Götter fassten den Beschluss, eine Flut über die Erde kommen zu lassen. Ea, der Gott der Weisheit, verrät diesen Beschluss Utnapischtim. Er fordert ihn auf: „Mann von Schuruppak, Sohn von Ubar-Tutu [damit ist Utnapischtim gemeint] reiß ab das Haus, baue ein Schiff! Gib auf den Reichtum, suche das Leben, den Besitz verachte, erhalte das Leben lebendig! Führe allen Samen des Lebens in das Schiff. Das Schiff, das du bauen sollst, sei von ausgewogenen Maßen …“ (XI, 23-29). Ähnlich heißt es in Gen 6,13ff: „Da sprach Gott zu Noach: … Mach dir eine Arche aus Goferholz! Statte sie mit Kammern aus und dichte sie innen und außen mit Pech ab!“ Auch im Gilgamesch-Epos wird die Arche mit Pech abgedichtet (XI, 54).
Zwei wesentliche Unterschiede zur alttestamentlichen Version stechen allerdings ins Auge: Im Gilgamesch-Epos wird kein Grund für die Flut angegeben. Man gewinnt den Eindruck, die Götter handeln grundlos, vielleicht sogar aus einer Laune heraus. Anders das Alte Testament: Grund für die Flut ist die Verderbnis und Gewalt, welche die Erde bedecken (Gen 6,11), sowie die Bosheit des menschlichen Herzens (Gen 6,5). Ein zweiter Unterschied: Utnapischtim wird aufgrund einer göttliche List gerettet. Der Gott der Weisheit, Ea, verrät ihm den Beschluss der Götter. Anders die biblische Tradition: Noach wird gerettet, weil er gerecht und untadelig war und seinen Weg mit Gott ging (Gen 6,9). Diese beiden Unterschiede sind wichtig im Hinblick auf das Gottesbild. Im Alten Testament handelt Gott logisch. Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Tun und dem Ergehen der Menschen. Das Handeln Gottes ist verständlich und nachvollziehbar.
Weiter heißt es im Gilgamesch-Epos: „Einsteigen ließ ich ins Schiff meine ganze Familie und Hausgemeinde, Wild und Getier des Feldes und alle die Handwerker ließ ich einsteigen.“ Auch hier fällt die Parallele zur alttestamentlichen Version auf, wobei dort allerdings nicht von Handwerkern die Rede ist, sondern nur von Noach und seiner Familie (Söhne: Sem, Ham, Jafet; Frau, Frauen der Söhne) und natürlich von den Tieren, die auch hier in die Arche kommen.
Im Unterschied zur nüchternen Erzählung im Alten Testament wird die Flut im Gilgamesch-Epos sehr ausführlich und dramatisch geschildert. Am Ende sendet Utnapischtim hintereinander drei Vögel aus: eine Taube, eine Schwalbe und einen Raben. In Genesis sind es zwei Vögel, die hintereinander ausgeschickt werden: zunächst ein Rabe, dann eine Taube.
Nach der Flut bringt Utnapischtim ähnlich wie Noach ein Opfer dar: „Die Götter rochen den Duft, die Götter rochen den süßen Duft. Die Götter versammelten sich wie Fliegen um den Herrn des Opfers“ (XI, 159-161). Ähnlich klingt der biblischen Text: „Der Herr roch den beruhigenden Duft und der Herr sprach in seinem Herzen“ (Gen 8,21).
Im Anschluss an das Opfer kommt es zu einer wichtigen Neuerung für die nachsintflutliche Menschheit. Sie findet sich sowohl im Gilgamesch-Epos als auch in der alttestamentlichen Fluterzählung. Es kommt zur Etablierung des Rechts. Hören wir zunächst das Gilgamesch-Epos: „Ea tat seinen Mund auf zu reden und spricht zum Helden Enlil: Du klügster der Götter, Held! Wie konntest du, ohne zu überlegen, die Sintflut machen? Dem Sünder lege seine Sünde auf, dem Frevler lege seinen Frevel auf!“ (XI, 177-181)
Die Fluterzählung stellt einen Wendepunkt in der biblischen Urgeschichte dar. Sie unterteilt die Geschichte der Welt und der Menschheit in zwei Epochen: in eine vorsintflutliche und eine nachsintflutliche Welt. Die Götter sehen ein, dass eine kollektive Bestrafung der ganzen Menschheit ein unmoralisches Vorgehen ist. Sie beschließen, in Zukunft die Menschheit nicht noch einmal durch eine Flut zu vernichten. Stattdessen soll ein Rechtssystem errichtet werden, wonach nur derjenige für seine Tat zur Verantwortung gezogen werden soll, der sie auch begangen hat. Die beiden Epochen, die vorsintflutliche und die nachsintflutliche, unterscheiden sich also voneinander durch Willkür und Recht. In vorsintflutlicher Zeit hängt das Weltgeschehen von den Launen der Götter ab. Intrigen und Gewalt prägen das Verhalten der Götter untereinander sowie mit und zwischen den Menschen. In nachsintflutlicher Zeit dagegen regeln Recht und Gerechtigkeit das Zusammenleben von Göttern und Menschen. Die zivilisatorische Errungenschaft des Rechts sichert von nun an den Bestand und die Ordnung der Welt.
Genau diese Entwicklung lässt sich auch in der Abfolge von Gen 1 zu Gen 6-9 beobachten. In der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung besteht der Unterschied zwischen der vorsintflutlichen und der nachsintflutlichen Welt im Kontrast einer von Gewalt aufgezehrten und einer durch das Gebot Gottes geordneten Welt. Zwar war die Welt als Gottes Schöpfung von Anfang an sehr gut (Gen 1,31), doch schon nach einigen Generationen hat sie sich mit Gewalt angefüllt. Obwohl dem Menschen als Gottes Stellvertreter („Bild Gottes“) auf Erden der Auftrag erteilt wurde, durch Herrschaft die Ordnung der Schöpfung aufrecht zu erhalten (Gen 1,26-28), ist es ihm offensichtlich nicht gelungen, der sich ausbreitenden Gewalt Einhalt zu gebieten. Der Text sagt dies zwar nicht ausdrücklich, setzt es jedoch implizit voraus, wenn es in Gen 6,11f heißt: „Die Erde aber war vor Gott verdorben, die Erde war voller Gewalttat. Gott sah sich die Erde an und siehe, sie war verdorben; denn alle Wesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben.“
Deutlich ist der Kontrast zu Gen 1,31. In beiden Fällen sieht sich Gott die Welt an. In Gen 1,31 heißt es: „Und Gott sah sich alles an, was er gemacht hatte, und siehe: Es war sehr gut.“ In Gen 6,12 heißt es: „Und Gott sah sich die Erde an, und siehe: Sie war verdorben, denn alle Wesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben.“ Wie es genau zu dieser Verderbnis der Erde gekommen ist, wird nicht gesagt. Aufgrund logischer Schlussfolgerung kann dieser Sachverhalt im Rahmen der priesterschriftlichen Urgeschichte eigentlich nur so verstanden werden, dass der Mensch seinem Herrschaftsauftrag, der ihm in Gen 1 erteilt wurde, nicht gerecht geworden ist. Offensichtlich fehlte ihm ein Ordnungsprinzip, an dem er sich orientieren konnte und das der Ausbreitung der Gewalt entgegenwirkte.
Diese Vermutung stellt sich ein, wenn wir das Ende der Fluterzählung in den Blick nehmen. Denn hier stoßen wir auf einige Modifikationen und Ergänzungen jener Welt, wie sie in Gen 1 entworfen wurde. In der an Noach gerichteten Rede nach der Flut erlässt Gott Gebote zum Schutz des Lebens. In Gen 9,5f heißt es: „Wenn euer Blut vergossen wird, fordere ich Rechenschaft für jedes euer Leben. Von jedem Tier fordere ich Rechenschaft und vom Menschen. Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem, der es seinem Bruder nimmt. Wer Blut eines Menschen vergießt, um dieses Menschen willen wird auch sein Blut vergossen. Denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht.“
Bereits vor Dekalog und Sinaigesetzgebung wird in der priesterschriftlichen Theologie ein Gebot zum Schutz des menschlichen Lebens erlassen. Damit soll die Gewalt auf Erden in Grenzen gehalten und der Bestand der Welt gesichert werden: „Ich richte meinen Bund mit euch auf: Nie wieder sollen alle Wesen aus Fleisch vom Wasser der Flut ausgerottet werden. Nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben“ (Gen 9,11). Warum ist das nicht mehr nötig? Weil der Fortbestand der Welt jetzt dadurch gesichert wird, dass die unrechtmäßige Gewalt durch rechtmäßige Gewalt in Grenzen gehalten wird. Ob die rechtmäßige Gewalt im Rahmen der Blutrache oder im Rahmen einer staatlich organisierten Gewaltanwendung oder unmittelbar von Gott selbst ausgeübt wird, ist von untergeordneter Bedeutung. Wichtig ist, dass jetzt erstmals in der Geschichte der Menschheit die Anwendung von Gewalt durch Gott legitimiert wird. Dies ist eine bedeutende zivilisatorische Errungenschaft. Sie wird auch von Jesus und vom Neuen Testament nicht außer Kraft gesetzt!
Oft ist zu hören ist, das Christentum sei absolut gewaltlos. Diese Aussage ist falsch. Sie kann nur aufkommen, wenn man das Neue Testament wie die Botschaft Jesu vom Alten Testament abtrennt. Jesus wie das Neue Testament setzten selbstverständlich die Anwendung rechtmäßiger Gewalt zur Eindämmung der Gewalt als gottgewollte Ordnung voraus. Das wird in der Regel nicht groß thematisiert, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Ich verweise an dieser Stelle auf Röm 13,1-7 und das Wort: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21).
Da Röm 13,1-7 weitgehend aus dem christlichen Gedächtnis verschwunden ist und sich viele Neutestamentler schwer damit tun und einige diesen Abschnitt sogar für eine spätere Interpolation halten, den Text Paulus also absprechen, seien einige Verse zitiert: „Jeder ordne sich den Trägern der stattlichen Gewalt unter. Denn es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen. Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten; willst du also ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, sodass du ihre Anerkennung findest! Denn sie steht im Dienst Gottes für dich zum Guten. Wenn du aber das Böse tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht nämlich im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der das Böse tut. Deshalb ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen.“
Vor dem Hintergrund der in der biblischen Urgeschichte institutionalisierten rechtmäßigen Gewalt sind die paulinischen Ausführungen logisch und klar. Paulus legitimiert hier das staatliche Gewaltmonopol, insofern es an das Recht gebunden ist. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21). Was des Kaisers ist, wissen wir nun. Aber was ist die Sache Gottes? Auch darauf gibt uns die biblische Schöpfungserzählung eine Antwort. Allerdings finden wir diese Antwort nicht mehr in der priesterschriftlichen, sondern in der nach-priesterschriftlichen Fluterzählung.
An dieser Stelle ist ein Hinweis zu den Begriffen „priesterliche und nach-priesterliche Schöpfungserzählung“ angebracht. In den ersten Kapiteln des Buches Genesis finden sich zwei Schöpfungserzählungen. Die erste Schöpfungserzählung ist Gen 1,1-2,3. Sie erzählt von der Erschaffung der Welt und des Menschen. In ihr findet sich die theologisch gewichtige Aussage, dass Gott den Menschen als sein Bild, als Gottesbild, erschaffen hat (Gen 1,27). Davon zu unterscheiden ist eine zweite Schöpfungserzählung in Gen 2,4-25. Sie konzentriert sich auf die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau, auf die Versorgung des Menschen im Garten Eden und auf das dem Menschen gegebene göttliche Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen. Sie findet ihre Fortsetzung in Gen 3, der Erzählung vom sogenannten Sündenfall. Noch vor einige Jahren wurde diese zweite Schöpfungserzählung als die ältere angesehen und gewöhnlich in das 10. Jahrhundert v. Chr. datiert und dem sogenannten Jahwistischen Geschichtswerk zugerechnet. Beide Annahmen werden heute zunehmend infrage gestellt. Ich gehe mit einer Reihe von Forschern davon aus, dass die Erzählung von Paradies und Sündenfall die jüngere der beiden Erzählungen ist und von Anfang an als Fortschreibung von Gen 1 gedacht war. Wie dem auch sei, in jedem Fall sind die beiden Erzählungen auf der Ebene des Endtextes so zu lesen, dass sie sich gegenseitig ergänzen und verschiedene Aspekte der Schöpfung zur Sprache bringen.
In der nach-priesterschriftlichen Fluterzählung sieht Gott ein, dass das Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend an. Mit der Flut hat Gott als gerechter Richter die Menschheit aufgrund ihrer Bosheit vernichtet – mit Ausnahme Noachs, der als gerecht angesehen wurde und Gnade gefunden hat in den Augen des Herrn (Gen 6,8). Das von der Priesterschrift etablierte Prinzip des Rechts wird in der nachpriesterschriftlichen Fortschreibung nicht außer Kraft gesetzt, sondern in einen neuen Horizont gerückt. Das entscheidende Stichwort lautet: das menschliche Herz. Hören wir zunächst den Schluss der nachpriesterschriftlichen Fluterzählung. In ihr sichert Gott der Welt trotz der Bosheit des menschlichen Herzens ewigen Bestand zu. Gott spricht hier nicht zu Noach, wie in der priesterschriftlichen Gottesrede (Gen 9,1ff), sondern zu sich selbst. Er führt ein Gespräch mit sich selbst. Darin zeigt sich, dass die nachpriesterschriftliche Gottesrede nicht in Konkurrenz zur priesterschriftlichen Gottesrede tritt, sondern einen Einblick in das Innere Gottes gibt. Gott gibt Noach also in der nachpriesterschriftlichen Fluterzählung keine anderen Anweisungen als in der priesterschriftlichen Fluterzählung. In der Fortschreibung Gen 8,20-22 heißt es: „Dann baute Noach dem Herrn einen Altar, nahm von allen reinen Tieren und von allen reinen Vögeln und brachte auf dem Altar Brandopfer dar. Der Herr roch den beruhigenden Duft und der Herr sprach in seinem Herzen: Ich werde den Erdboden wegen des Menschen nie mehr verfluchen; denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an. Ich werde niemals wieder alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe. Niemals, so lange die Erde besteht, werden Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht aufhören“ (Gen 8,20-22).
Das entscheidende Motiv ist hier das des menschlichen Herzens. Damit rückt die nachpriesterschriftliche Fortschreibung der Fluterzählung die Urgeschichte in einen prophetisch-eschatologischen Horizont. In der deuteronomistischen Theologie und in späten Prophetentexten findet sich ein ausgeprägtes Wissen um die Bosheit des menschlichen Herzens. Israel, so diese Theologie, kann seine Bosheit nicht mehr aus eigener Anstrengung heraus überwinden. Es bedarf vielmehr der Gabe eines neuen Herzens. Das Herz aus Stein muss den Israeliten genommen und ihnen muss ein Herz aus Fleisch eingesetzt werden. In Ez 11,19ff heißt es: „Ich gebe ihnen ein einmütiges (LXX: anderes) Herz und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Ich entferne das Herz von Stein aus ihrem Fleisch und gebe ihnen ein Herz von Fleisch, damit sie meinen Satzungen folgen und meine Rechtsentscheide bewahren und sie erfüllen. Dann werden sie mir Volk sein und ich werde ihnen Gott sein.“
Das Motiv der Herztransplantation kann durch das Motiv der Herzensbeschneidung ersetzt werden. Gemeint ist in beiden Fällen das Gleiche. So heißt es in Dtn 30,6: „Der Herr, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden. Dann wirst du den Herrn, deinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele lieben können, damit du leben kannst.“
Mit der priesterschriftlichen und der nachpriesterschriftlichen Fluterzählung stehen nicht zwei gegensätzliche, einander ausschließende Deutungen nebeneinander. Die nachpriesterschriftliche Fluterzählung setzt die priesterschriftliche Erzählung voraus und schreibt sie fort. In der priesterschriftlichen Fluterzählung geht es um die Stabilisierung der Welt durch Einführung des Rechts: Gewalt soll durch rechtmäßige Gewalt in Grenzen gehalten werden. Es geht um die Eingrenzung der Gewalt. Die nachpriesterschriftliche Fortschreibung nimmt die Ursache der Gewalt in den Blick und findet sie in der Verhärtung des menschlichen Herzens. Damit eröffnet sie eine Perspektive, die sich auf die Überwindung der Gewalt durch Heilung des menschlichen Herzens richtet. Diese Perspektive führt über die Urgeschichte hinaus. Sie spielt in zentralen Texten des Deuteronomiums und der prophetischen Literatur eine Schlüsselrolle. Mit diesem Thema beschäftigt sich vor allem das Neue Testament.
Beide Versionen der Fluterzählung lassen sich unter diesem Gesichtspunkt wie folgt zusammenfassen:
Priesterliche Fluterzählung: Eingrenzung der Gewalt durch das Recht und die Anwendung rechtmäßiger Gewalt.
Nach-priesterliche Fluterzählung: Überwindung der Gewalt durch die Beschneidung des menschlichen Herzens. Die biblische Urgeschichte steht in einem Diskurs mit benachbarten religiösen und kulturellen Traditionen. Dieser lässt sich mit einem Wort von Joseph Ratzinger wie folgt beschreiben: „Der Glaube erscheint als Krise und Kritik der Religionsgeschichte, aber nicht als deren totale Verneinung.“