I.
Nach dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht werden die Menschen von Anfang an als männlich und weiblich erschaffen: Und Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Gottesbild erschuf er ihn, männlich und weiblich erschuf er sie“ (Gen 1,27). Mann und Frau sind in gleicher Weise Bild Gottes. Entgegen einer verbreiteten Ansicht erschuf Gott in Gen 2 nicht zuerst den Mann, sondern den Menschen (hebr. „adam“). „Adam“ heißt Mensch, nicht Mann. Aus der Rippe des Menschen baute er die Frau (hebr. „ischah“). Dadurch wurde der Mensch zum Mann.
Mannsein und Frausein sind also nach der hier zugrunde liegenden Anthropologie kein defizienter Modus des Menschseins. Mann und Frau verwirklichen auf je unterschiedliche Weise das ganze Menschsein. Sie sind nicht jeweils ein halber Mensch. Das ist keineswegs selbstverständlich. Es gibt Anthropologien, die besagen, dass der Mensch ursprünglich als Hermaphrodit erschaffen worden sei, also als zwei- beziehungsweise doppelgeschlechtliches Wesen. Ein solches Wesen sei dann geteilt worden, und so seien Mann und Frau entstanden.
Im platonischen Symposion wird ein solcher Mythos zitiert. Um das Profil der biblischen Anthropologie zu verdeutlichen, möchte ich im Folgenden den im Symposion (189a-193) angeführten Mythos vorstellen und in einem anschließenden Vergleich die spezifischen Konturen der beiden unterschiedlichen Anthropologien herausarbeiten.
II.
Im platonischen Symposion geht es um die Frage nach dem Wesen des Eros. Als vierter der insgesamt sieben Redner preist der Komödiendichter Aristophanes Eros als den menschenfreundlichsten der Götter (189d). Um sein Urteil den Teilnehmern einsichtig zu machen zitiert er einen Mythos: Ursprünglich existierten die Menschen als doppelgeschlechtliche Kugelmenschen, und zwar einige als Mann-Frau, einige als Mann-Mann, einige als Frau-Frau. Sie waren von gewaltiger Kraft und versuchten, „sich einen Weg zum Himmel zu bahnen, um die Götter anzugreifen“ (190c, nach der Übersetzung von Barbara Zehnpfennig).
Da beschloss Zeus, sie in zwei Hälften zu teilen. „Als nun so ihre Gestalt in zwei Teile zerschnitten war, sehnte sich jedes nach seiner Hälfte und vereinigte sich mit ihr. Sie umschlangen sich mit den Armen und schmiegten sich aneinander, und weil sie zusammenzuwachsen begehrten, starben sie an Hunger und sonstiger Untätigkeit, weil sie nichts getrennt voneinander tun wollten“ (191a.b). Sie konnten nicht voneinander lassen, da ihr Zusammensein ihnen keine Befriedigung verschaffte.
„Da erbarmte sich Zeus und gewährte ihnen auf anderem Wege Hilfe, indem er ihre Geschlechtsteile nach vorne versetzte“ (191b). Traf nun ein Männliches auf ein Weibliches, so verschaffte ihnen ihr Zusammensein Befriedigung und Fortpflanzung, traf ein Männliches auf ein Männliches, so sollte das Zusammensein wenigstens zu einer Befriedigung führen, damit sie nun davon abließen und sich wieder der Arbeit zuwendeten und sich um die anderen Dinge des Lebens kümmerten. „Seit so langer Zeit also ist die Liebe zueinander den Menschen angeboren. Sie führt das ursprüngliche Geschöpf wieder zusammen und versucht, aus Zweien Eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen. Jeder von uns ist daher nur ein Teilstück eines Menschen, da wir ja, zerschnitten wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind. Jeder sucht demnach beständig sein Gegenstück“ (191d).
Mir geht es hier nicht um die Frage nach der Stellung des Mythos im argumentativen Duktus des Symposions. Bekanntlich weist Sokrates darauf hin, dass Aristophanes das Wesen des Eros nicht wirklich erfasst habe. Die Heilung, die er sich vom Eros erwarte, sei nicht die eigentliche Heilung, nach der die Seele des Menschen verlange. Sie liegt nach Ansicht des Sokrates allein darin, dass der Mensch zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt. „Letztlich zielt die Liebe also auf das Gute und nicht auf die andere Hälfte, wie Aristophanes meinte“, kommentiert Barbara Zehnpfennig.
III.
Der Vergleich der im Mythos des Aristophanes präsentierten Geschlechterkonstellation mit derjenigen der Bibel kann zu einem vertieften Verständnis des biblischen Menschenbildes führen. Dabei fallen folgende Unterschiede ins Auge:
- Im von Aristophanes zitierten Mythos ist die geschlechtliche Differenzierung des Menschen in Mann und Frau eine Folge menschlicher Überheblichkeit, Folge einer Verfehlung gegen die Götter. Anders die biblische Anthropologie: Mann und Frau verwirklichen auf je unterschiedliche Weise das ganze Menschsein. Die geschlechtliche Differenzierung ist hier keine Folge der Sünde, sondern gehört zur guten, noch ungefallenen Schöpfung.
Es wird in Gen 2 kein ursprünglich vollkommener Mensch in zwei Hälften geteilt, weil er überheblich wurde, sondern ein ursprünglich unvollkommener Mensch (hebr. „adam“) geht in die Differenzierung von Mann („isch“) und Frau („ischah“). Mann und Frau sind also keine depotenzierten Formen eines ursprünglich vollkommenen Kugelmenschen, sondern umgekehrt: Mannsein und Frausein sind die differenzierende Ausgestaltung eines ursprünglich unvollkommenen, noch undifferenzierten Menschseins. - Nach der von Aristophanes angeführten mythischen Tradition ist Liebe in der Gestalt des Eros Ausdruck von Bedürftigkeit und Überwindung eines Mangels. Darin artikuliert sich die in der griechischen Kultur immer empfundene Ambivalenz erotischer Liebe. In der biblischen (und auch sokratischen) Tradition kann Liebe anders gedacht werden. Auch sie weiß von einem Bruch, der sich durch den Menschen zieht.
Dieser liegt aber nicht in der geschlechtlichen Differenzierung, sondern in der Abkehr von Gott. Die Heilung des Bruchs kann letztlich nicht in der Sexualität gefunden werden. Ihr wird damit das Metaphysische genommen. Eros ist kein Gott, sondern ein Mittleres zwischen Gott und Mensch, wie Diotima dem Sokrates nahegebracht hat (202d.e). Er ist auf den bleibenden Besitz des Guten ausgerichtet (206a). „Diejenigen, die in ihren Reden die Liebe vergöttlicht haben, als wäre sie nicht Streben, sondern bereits Erfüllung, sind einer Vergötzung des eigenen Triebes erlegen. Ein solcher Liebesbezug benutzt den anderen zur Betätigung und Bestätigung des Ich, er schafft nichts über sich hinaus … Nicht die Schönheit also wird in der Liebe letztlich begehrt, sondern das, wozu sie anregt: die Hervorbringung des Guten“, kommentiert Barbara Zehnpfennig.
- Der im Symposion überlieferte Mythos vertritt keine Heteronormativität. In der biblischen Tradition geht es primär um Nachkommenschaft und Beziehung, im androgynen Mythos primär um sexuelle Befriedigung und Überwindung eines Mangels. Wenn die in zwei Hälften geteilten Menschen sich sexuell befriedigt haben, in welcher Konstellation auch immer, können sie wieder in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen. Wenn dabei ein Männliches auf ein Weibliches trifft, entsteht dabei gewöhnlich auch Nachkommenschaft. Das wird in Kauf genommen, ist aber nicht das Ziel der sexuellen Begegnung. Von einer auf Dauer angelegten Beziehung ist nicht die Rede. Es gibt in der Antike Konzepte, Liebe und Sexualität zu trennen.
Lukrez gibt die Empfehlung aus, die Liebe aus dem sexuellen Genuss herauszuhalten, weil dieser durch Liebe nur gemindert würde. Durch die Liebe wird der Mensch krank und ein Kranker kann nicht wirklich genießen: „Und es entbehrt nicht der Venus Frucht, wer Liebe vermeidet.“ Der in der Bibel gewiesene Weg weist in eine andere Richtung: „Stark wie der Tod ist die Liebe“ (Hld 8,6). Diesen Weg näher zu beschreiben, wäre ein eigenes Thema.