Die Geschichte der Weißen Rose

Kontroverse Deutungen von den Anfängen bis zur Gegenwart

I.

 

Glaubt man der „Bild am Sonntag“ vom 28. Januar 2018, dann sind jetzt erst „die letzten Geheimnisse“ der Widerstandsgruppe Weiße Rose durch das Buch des evangelischen Pfarrers Robert M. Zoske über einen der Protagonisten der Weißen Rose, Hans Scholl, der Öffentlichkeit bekannt geworden. Erst jetzt komme heraus, dass er wegen homosexueller Neigungen bereits 1937 einmal inhaftiert gewesen sei.

Wer sich für die Geschichte der Weißen Rose interessiert, wird sich verwundert die Augen gerieben haben, denn im vergangenen Jahr, am 3. April 2017, hatte schon Focus-Online über die Publikation der Journalistin und Historikerin Miriam Gebhardt mit dem Titel „Die Weiße Rose. Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden“ berichtet, hier nun würde endgültig die Wahrheit über die Münchner Studenten im Widerstand aufgedeckt. Auch der Autor dieses Artikels sprach von „letzten Geheimnissen“ der Widerstandsgruppe, die nun endlich bekannt würden und unser Bild von der Weißen Rose sehr verändern würden.

Natürlich kann man solche sensationsheischenden Meldungen einfach belächeln und als unseriös übergehen. Damit würde man aber verkennen, dass sie Teil eines ziemlich komplexen Mechanismus sind, der unser kollektives Erinnern an Vergangenes, zumal an eine so schwierige Vergangenheit wie die NS-Zeit, bestimmt. Die Bilder, die Historiker und Publizisten, Journalisten, Literaten und Filmemacher von dieser Vergangenheit entwerfen, das, was sie hervorheben, genauso wie das, was sie in Vergessenheit geraten lassen, auch das, was sie übertreibend berichten, bestimmen unsere Auffassung von der Vergangenheit und damit immer auch partiell unseren Standort in der Gegenwart mit. Daher hat sich in den vergangenen Jahren auch eine breite rezeptionsgeschichtliche und erinnerungskulturelle Forschung entwickelt, die auf sich ergänzenden Theorien über das kollektive Erinnern aufbaut, es sei nur stellvertretend etwa auf die Arbeiten von Aleida Assmann oder auch das Konzept der „Lieux de mémoire“ von Pierre Nora verwiesen.

Diese theoretischen Überlegungen sollen im Folgenden nicht detailliert dargelegt werden, sondern es soll vor diesem Hintergrund versucht werden, die mittlerweile unüberschaubar gewordene Publikationsflut zur Weißen Rose von ihren Anfängen bis zur Gegenwart zu überblicken und zu systematisieren, um die genannten Schlagzeilen und immer wieder neue Publikationen zur Weißen Rose besser einordnen zu können. Um die Veränderungen im Bild der Weißen Rose zu verstehen, wird es notwendig sein, die zeithistorischen Kontexte mitzudenken und verschiedenen Einflussfaktoren auf die Spur zu kommen. Dabei kann auf mittlerweile zahlreicher werdende rezeptionsgeschichtliche und erinnerungskulturelle Arbeiten zurückgegriffen werden, von denen einige in den Literaturempfehlungen zu diesem Beitrag genannt sind.

 

II.

 

Die Rezeptionsgeschichte jener fünf Studierender, Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst und Willi Graf, sowie ihres Professors Kurt Huber, die 1942 und Anfang 1943 versucht haben, durch Flugblätter die Deutschen zum Widerstand gegen das NS-Regime aufzurufen, begann schon kurze Zeit nach ihrer Hinrichtung, indem die deutschsprachige Emigration und das kriegführende Ausland ihr Beispiel lobend bekannt machten.

Im Nachkriegsdeutschland wirkte aber zunächst vor allem der Roman des emigrierten Schriftstellers Alfred Neumann, „Six of them“, der allgemein als Geschichte der Weißen Rose wahrgenommen wurde, obwohl Neumann dies mehrfach dementierte und keineswegs strahlende Widerstandshelden gezeichnet hatte. Sein Roman aber ließ die Geschichte der Weißen Rose nicht in Vergessenheit geraten und bot eine erste Grundlage, auf der sich eine öffentliche Diskussion um die Münchner Studenten entwickeln konnte. In diese wirkte ein Deutungsangebot hinein, das kein Geringerer als Romano Guardini bei einer ersten Gedenkveranstaltung an die Weiße Rose am 4. November 1945 formuliert hatte. Dabei hatte Guardini gar nicht viel von den Münchner Studenten selbst gesprochen, sondern mehr grundsätzliche philosophisch-theologische Überlegungen angestellt und dabei die Studenten in einen engen Glaubenszusammenhang eingebunden: „So haben sie für die Freiheit des Geistes und die Ehre der Menschen gekämpft und ihr Name wird mit diesem Kampf verbunden bleiben. Zuinnerst aber haben sie in der Strahlung des Opfers Christi gelebt, das keiner Begründung vom unmittelbaren Dasein her bedarf, sondern frei aus dem schöpferischen Ursprung der ewigen Liebe hervorgeht.“

Diese Vorstellung des Opfertodes, die christliche Konnotation der Motivlagen und die damit verbundene Überhöhung der Weißen Rose – sie wurden sodann von Inge Aicher-Scholl, der Schwester von Hans und Sophie, die sich als authentische Interpretin des Wollens ihrer Geschwister und der Geschichte der Weißen Rose positionieren konnte, aufgegriffen. Es ist also ganz falsch, wenn in jüngeren Publikationen behauptet wird, der christliche Bezugsrahmen werde erst jetzt entdeckt. Schon für Inge Scholl war dies das zentrale Motiv und es fiel ihr leicht, dies glaubhaft zu vermitteln, weil sie als Verwandte öffentlich hohe Autorität beanspruchen konnte, aber auch, weil sie umgehend nach dem Tod ihrer Geschwister Quellenmaterial gesammelt hatte, auf das sie im Nachkriegsdeutschland, angesichts der wenigen öffentlich verfügbaren Quellen, zurückgreifen konnte.

Inge Aicher-Scholl stellte sich gegen Neumanns Roman und propagierte 1948 die „tiefen, geistigen Motive und die reine, lichte Tragik“ der Weißen Rose. Der Tod ihrer Geschwister war auch für sie ein Opfertod, um die Sünden der Deutschen im Nationalsozialismus zu sühnen. Schnell geriet die Diskussion um Neumanns Roman nun in Vergessenheit, als Aicher-Scholl 1952 ein eigenes kleines und gut lesbares Buch über die Weiße Rose veröffentlichte, das sofort ein Bestseller wurde, weil es vorgab, die „wahre Geschichte“ der Weißen Rose nachzuerzählen und authentisch zu interpretieren. Spätestens hier wurde der Mythos der Weißen Rose geboren und wirkmächtig.

Dem Buch half sicherlich, dass es in einer Zeit auf dem Buchmarkt kursierte, als mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR die öffentliche Akzeptanz widerständigen Verhaltens in einer totalitären Diktatur befördert wurde. Schon im ersten Jahr seines Erscheinens wurden zehn Auflagen gedruckt, es ist in etliche Fremdsprachen übersetzt und vermittelt so bis heute im Ausland vielen Lesern den ersten Eindruck von der Münchner Widerstandsgruppe. Inge Aicher-Scholl konnte mit diesem Buch eine Deutungsmacht über das historische Geschehen erlangen, die ganz dem Zeitgeist der 1950er und beginnenden 1960er Jahre entsprach. Sie war 1945 zum katholischen Glauben konvertiert, teilte die politikfeindliche Skepsis vieler ihrer Zeitgenossen und suchte wie sie Halt im Glauben. Wenn sie betonte, dass die Kraft der Weißen Rose „nicht aus einem politischen Aktionismus erwuchs, sondern aus Gefühlen der Menschlichkeit, die sich bestärkten und gerade richteten in einer befreienden Bindung an Gott“, kam sie dem Orientierungsverlangen vieler ihrer Leser entgegen und vermied es zugleich, individuelle Schuld zuzuweisen. Vielmehr löste sie das Geschehen in eine unergründliche Tragik auf, aus der die Weiße Rose die Deutschen mit ihrem Opfertod gleichsam erlöst hatte. Damit überhöhte sie insbesondere ihre Geschwister, weniger die übrigen Mitverschwörer, ja entrückte sie in eine dem Alltag fernliegende Sphäre besonderer Menschen.

Bezeichnend ist, wie sich der Opfertodgedanke unschwer mit dem Soldatentod vieler Deutscher in einen Zusammenhang bringen ließ. Hans Werner Richter etwa schrieb: „Hans Scholl, Christoph Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell, sie starben auf dem Schafott vor der Öffentlichkeit für jene vielen, die im gleichen Glauben draußen an der Front ihr Leben ließen. Es ist nicht in ihrem Geist, wenn wir jetzt über sie jene vergessen. Sie waren Soldaten wie jene … Aber sie entgingen dem grauen Massentod. Sie handelten als Einzelne und gewannen die individuelle Freiheit im Tode.“

 

III.

 

Inge Aicher-Scholls Interpretation wirkte lange, zum Teil bis heute. Das änderte sich erst Mitte der 1960er Jahre, als eine jüngere, kritische Generation sich mit den angebotenen Deutungen über den Nationalsozialismus nicht mehr zufrieden geben wollte. Inge Aicher-Scholl stand diesen neuen, ja auch provokanten Aufbrüchen zunächst positiv gegenüber und behauptete gar, dass ihre Geschwister sich an den Studentenprotesten sicher beteiligt hätten.

Doch die protestierenden Studenten knüpften nicht an Hans und Sophie Scholl an. Che Guevara etwa war ihnen näher als die Heldengestalten ihrer Eltern, die traditionellen Gedenkfeierlichkeiten für die Weiße Rose 1965 und 1968 wurden sogar gestört. Der Berliner Student Christian Petry gab dem Unbehagen und den drängenden Fragen seiner Generation Ausdruck in einer Publikation mit dem Titel „Studenten aufs Schafott. Die Weiße Rose und ihr Scheitern“. Darin vertrat er die These vom unpolitischen, bürgerlichen Widerstand der Münchner Studenten, kritisierte die von der Weißen Rose genutzten Widerstandsformen – vor allem die seiner Ansicht nach unsinnig riskante Verteilaktion am 18. Februar – und wertete ihren Vorbildcharakter für die eigene Zeit drastisch ab. Christliche Bezüge büßten bei Petry ihre Erklärungsmacht ein, der angesprochene Opfertod an sich wirkte in seiner Interpretation geradezu sinnlos.

Die Rezeption von Petrys Ansichten in den Medien und die Aufnahme seines Buches in das Programm der Bundeszentrale für politische Bildung trugen zur Verbreitung seiner Sichtweise erheblich bei. Die Proteste und Einsprüche vor allem Inge Scholls gegen die ihrer Meinung nach verzerrte Darstellung Petrys und manche Unrichtigkeiten in der Argumentation drangen nur wenig durch, das Medienmanagement Petrys und seine zu gut in die Zeit passende Interpretation des Weiße-Rose-Widerstands behielten die Oberhand. Die Weiße Rose schien vorerst als Orientierungspunkt in einer Zeit ausgedient zu haben, die gerade mit alten Maßstäben brechen wollte.

Die Folge war, dass in den 1970er Jahren relativ wenig über die Weiße Rose publiziert wurde. Das lag aber sicher nicht nur an Petrys Buch. In Zeiten des RAF-Terrorismus und einer bisweilen ubiquitären Beanspruchung eines Widerstandsrechts gegen den Staat, wurde die Beschäftigung mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus immer auch erklärungs- und begründungsbedürftig. Hinzu kam aber auch, dass die Dominanz sozialgeschichtlicher Forschungsansätze in den Geschichtswissenschaften die Auseinandersetzung mit tatsächlichen oder vermeintlichen Heroen des Widerstands nicht eben beförderte.

Das verschaffte nun der DDR-Weiße-Rose-Forschung und Publizistik, die gerne die Abrechnung der „68er“ mit dem tradierten westdeutschen Weiße Rose-Gedenken lobte, einen gewissen Vorteil und gewiss mehr Beachtung, als dies sonst der Fall gewesen wäre. Zwar hatte man in der DDR die Erinnerung an Widerständler aus anderen als der Arbeiterklasse zunächst zugelassen, schränkte sie seit den 1950er Jahren aber ein, weil sie leicht zum Widerstand gegen die SED-Diktatur anregen konnte. Zunehmend wurde die Weiße Rose in den 1960er Jahren instrumentalisiert, um im Kalten Krieg antiimperialistische Propaganda mit ihr zu betreiben. Ein Höhepunkt war sicherlich, als 1960 Jenaer Studenten einen Kranz im Rahmen der Münchner Gedenkveranstaltung niederlegten, auf dessen Schleife zu lesen war: „Sophie und Hans Scholl, den Kämpfern gegen Faschismus und Krieg“. Diese Schleife wurde von einigen westdeutschen Studenten abgeschnitten und anschließend der Kranz ganz entfernt.

Die Reaktion aus der DDR war scharf: „Die Vorgänge in München beweisen mithin, daß die herrschenden Kräfte in Bundesdeutschland das Andenken antifaschistischer Widerstandskämpfer mit derselben Skrupellosigkeit verfälschen und schänden, mit der sie den Mörder Oberländer auf der Regierungsbank zu decken bestrebt sind. Westdeutschlands Studenten aber sollten sich insbesondere daran erinnern, daß die Geschwister Scholl leidenschaftlich vor dem Antikommunismus warnten.“

Relevant für die Publizistik der Endsechziger und 1970er Jahre wurde, dass der Mitarbeiter am Institut für Deutsche Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin, später auch am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Klaus Drobisch, 1968 eine „Dokumentation über den antifaschistischen Kampf Münchner Studenten 1942/43“ veröffentlichte, die mit staatlicher Unterstützung in der DDR weite Verbreitung erlangte und in den 1970er Jahren auch in Westdeutschland rezipiert wurde. Der Band erlebte zahlreiche Neuauflagen. Für Drobisch war die Weiße Rose ein Beleg für lebendigen Antifaschismus der Jugend aus humanistischem Geist. Diesen Antifaschismus sah er sogar „angeregt“ durch Impulse der KPD, die die „führende Rolle im Widerstandskampf“ ausgeübt habe. Das Erbe der Weißen Rose werde alleine in der DDR wirklich gepflegt und angenommen.

Ganz ähnlich argumentierte Karl-Heinz Jahnke, Dozent, ab 1973 dann Professor für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung an der Universität Rostock und zugleich Sekretär der SED-Grundorganisation in seiner 1969 erschienenen Schrift „Weiße Rose contra Hakenkreuz“ und dem 1970 erschienenen Buch „Jugend im Widerstand“, die ebenfalls mehrere Neuauflagen erlebten.

Dass diese DDR-Publikationen auch im Westen Resonanz fanden, kann man nicht nur daran erkennen, dass sie häufig in späteren Arbeiten zitiert wurden, ein sprechender Beleg dafür ist auch ein Interview, das die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger, die mit Inge Scholl eng verbunden war und zeitweilig an ihrer Ulmer Volkshochschule gearbeitet hatte, Hermann Vinke gab. Darin stellte sie fest, Sophie Scholl hätte auf ihrem Weg in den Widerstand ebenso gut Karl Marx wie Augustinus lesen können.

 

IV.

 

Mit Vinkes Publikation „Das kurze Leben der Sophie Scholl“ begann nach den relativ publikationsarmen 1970er Jahren um 1980 eine weitere Rezeptionswelle der Weißen Rose. Wie in dem bekannten Fernsehfilm „Holocaust“ gab Vinke durch Individualisierung von Opferschicksalen und emotionale Zugänge den Weg vor, auf dem sich die Weiße-Rose-Publizistik in den 1980er Jahren auch bewegen sollte.

Hermann Vinkes Publikation stellte den Menschen, die junge Frau Sophie Scholl in collageartigen Bildern mit Zeitzeugenberichten vor, und zwar in einer Publikationsreihe des Ravensburger Verlages, die auf Mädchen und Frauen abzielte. Sophie Scholl wurde damit nicht nur in den Vordergrund gerückt und aufgewertet, sondern auch als Frauencharakter gezeichnet, der bestimmt war durch Selbstfindung und Identitätssuche. Das passte in eine Zeit, in der Selbstbestimmung und politisch-gesellschaftliches Engagement im Rahmen neuer sozialer Bewegungen in den Vordergrund trat. Der individualisierte Zugang zur Geschichte der Weißen Rose passte aber auch zu neuen Trends in der Geschichtswissenschaft, zur Alltagsgeschichte, zur Entdeckung der vergessenen Opfer des Nationalsozialismus, die nicht selten in Geschichtswerkstätten portraitiert und der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden.

Eine besondere Schubkraft erhielt dieser neue Ansatz durch gleich zwei große Verfilmungen, die das Thema „Weiße Rose“ in das öffentliche Bewusstsein hoben: Percy Adlons „Fünf letzte Tage“ und Michael Verhoevens „Die Weiße Rose“, beide 1982 in den Kinos zu sehen. Vor allem Verhoeven zeigte Individuen, Menschen mit Gefühlen und Alltagsschwächen, die leben wollten, nicht niedergedrückte, opferbereite Heroen. Das nach Petry angeblich mangelnde politische Bewusstsein der Gruppe spielte hier keine Rolle mehr, aber auch die Frage nach der christlichen Fundierung des Widerstands wurde zurückgedrängt und weit weniger bedeutsam. Hans und Sophie Scholl wurden nun wahrgenommen als aktive, lebensfrohe Menschen, die aber Verantwortungsbewusstsein hatten, sich den Herausforderungen ihrer Zeit stellten und damit, so Verhoeven, auch in den 1980er Jahren anspornen konnten zu politischem Engagement.

Inge Aicher-Scholl unterstützte diese Interpretation noch dadurch, dass sie sich nun bereit erklärte, Briefe und Aufzeichnungen aus dem Nachlass der Geschwister für eine Edition zur Verfügung zu stellen, die Inge Jens, Ehefrau des bekannten Tübinger Rhetorikprofessors Walter Jens, herausbrachte. Zwar kam es darüber zum Streit, weil Inge Jens im Vorwort zu dieser Edition die Motive der Weißen Rose in ihrer Freundschaft, in der Jugendbewegung und einer schwärmerischen Russlandbegeisterung, aber nicht in ihrem christlichen Glauben sehen wollte, doch war mit dieser ersten, 1984 veröffentlichten Sammlung privater Quellen ein Beispiel gegeben, dem andere Nachfahren von Beteiligten folgten, und zwar bis heute. All diese Quellenpublikationen versuchen, die Menschen der Weißen Rose verstehbarer zu machen und Antworten auf die Frage nach ihrer Motivation zu geben.

Auch in den 1990er Jahren erlahmte das Interesse an der Weißen Rose nicht. Und das lag daran, dass nach dem Ende des Kalten Krieges und mit der deutschen Wiedervereinigung erstmals Quellen wie die Ermittlungsakten gegen die Mitglieder der Weißen Rose für die Forschung verfügbar wurden, die bislang in den Archiven der DDR oder der UdSSR gelagert und unzugänglich gewesen waren.

Die Forschung arbeitete sich an diesen Quellen in den 1990er Jahren geradezu ab, vor allem wurde der Blick nun auch auf viele Handelnde gelenkt, die hinter den bekannten Hauptakteuren standen und bisher völlig in Vergessenheit geraten waren. Je mehr Personen nun in die Forschung einbezogen wurden, desto mehr ergänzendes Quellenmaterial, das bislang wegen der Fokussierung auf Hans und Sophie Scholl keine Beachtung gefunden hatte, wurde entdeckt. Die Quellengrundlage erweiterte sich folglich rasant. Deshalb ist es schlicht falsch, wenn in den jüngsten Publikationen behauptet wird, der weitere Kreis der Weißen Rose werde erst jetzt erforscht und die religiöse Motivierung des Widerstandes der Weißen Rose sei in den 1990er Jahren in Vergessenheit geraten – im Gegenteil hat die in den 1990er Jahren breitere Wahrnehmung der vielen Akteure in der Weißen Rose geradezu zu einer differenzierten Betrachtung der Motivlagen, vor allem auch der geistigen Mentoren und damit auch der Vielfältigkeit religiöser Beeinflussungen geführt. Barbara Schülers Arbeit „Im Geiste der Gemordeten…“, die in den 1990er Jahren entstanden ist, stellt dafür ein sprechendes Beispiel dar.

Allerdings wurde die Frage der christlichen Motivierung des Widerstands der Weißen Rose nun auch vor dem Hintergrund der in den 1990er Jahren sehr virulenten Milieuforschung heftiger diskutiert. Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann stellten beispielsweise in einer 1995 erschienenen Studie über das katholische Milieu im Saarland die Behauptung auf, dass Willi Graf nicht wegen, sondern trotz seiner Bindung an den Katholizismus Widerstand geleistet habe. Sie fanden Hinweise darauf, dass er sich dem einengenden und mehr obrigkeitshörigen, denn Widerstand generierenden katholischen Milieu entzogen und nur so in der Weißen Rose einen Platz gefunden habe.

Darüber hinaus wurden in dieser Zeit nun endlich auch die Flugblätter einer kritischen philologischen Untersuchung und ersten Kommentierung durch Hinrich Siefken in Nottingham unterzogen, die Verbindung zu den geistigen Mentoren wie Theodor Haecker genauer untersucht und deren Werke im Blick auf den Widerstand der Studenten analysiert. Und mit Wilfried Breyvogel begann 1991 die Erforschung der Rezeptionsgeschichte der Weißen Rose. Die großen Themen, die nach der Jahrtausendwende die Forschung und Publizistik bewegt haben, wurden also in den 1990er Jahren schon aufgeworfen.

 

V.

 

Doch dies geriet offensichtlich weitgehend in Vergessenheit, weil eine Reihe von Entwicklungen jetzt einsetze, die die öffentliche Aufmerksamkeit wieder in eine andere Richtung lenkte. Zunächst eröffneten die neu verfügbaren Quellen Sensation heischende Interpretationen, die immer wieder auch medial aufgegriffen wurden. Dass zum Beispiel Aufputschmittel von den Studenten genutzt worden sind, galt als eine solche Sensation und wurde einige Zeit überbewertet. Ähnlich wirkt momentan die längst schon bekannte, aber bislang noch nicht so medial vermarktete Verurteilung von Hans Scholl wegen Vergehens gegen §175 StGB 1937.

Sodann wirkte ein weiterer deutlicher Zug zur Personalisierung des Widerstandes, der sich massiv auf Hans, vor allem aber auf Sophie Scholl richtete, dem Trend der 1990er Jahre, die ganze Weiße Rose in den Blick zu nehmen, entgegen. Eine Fernsehsendung über „Die größten Deutschen“ 2003, bei der Hans und Sophie Scholl den 4. Platz belegten, zeigt das ebenso wie Sophie Scholls Aufnahme in die Walhalla 2003 oder ihre Ausstellung als Wachsfigur bei Madame Tussauds in Berlin.

So war der Boden schon gleichsam bereitet, als Marc Rothemunds Film „Sophie Scholl – Die letzten Tage“, erschien, der diese Tendenz verstärkte. Hier steht Sophie Scholl nicht nur ganz im Mittelpunkt, sie wird auch sehr fassbar für das Publikum gemacht, indem er sie in Haltung und Charakter gleichsam wie eine Frau des Jahres 2005 zeichnet. Ihre Religiosität und das komplizierte innere Ringen in der Auseinandersetzung mit theologisch-philosophisch-politischen Werken sind dabei kaum noch zu erkennen.

Dies alles, wie auch die Tatsache, dass mittlerweile rund 100 Straßen in Deutschland nach den Geschwistern Scholl benannt sind und das Geschwisterpaar nach einer Auszählung aus dem Jahr 2009 der häufigste Namengeber für deutsche Schulen ist, stellt einen deutlichen Hinweis darauf dar, dass die Weiße Rose und insbesondere die Geschwister Scholl spätestens seit der Jahrtausendwende zu einem „Erinnerungsort“ im Sinne des Konzepts der „Lieux de mémoire“ von Pierre Nora geworden sind.

Mindestens ebenso wichtig erscheint für die Veränderungen im Bild der Weißen Rose nach etwa 2000 eine enge Anlehnung der Publizistik zur Weißen Rose an aktuelle Forschungstrends und moderne Analysen der NS-Gesellschaft. Nur zwei Beispiele dafür: Detlef Bald, der lange Zeit am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr gearbeitet hatte, griff 2003 in seiner Studie „Die Weiße Rose. Von der Front in den Widerstand“ direkt auf die seit der umstrittenen Wehrmachtsausstellung (1995-1999 und 2001-2004) intensivierte Forschung um die Verstrickung der Wehrmacht in die Verbrechen des NS-Staates zurück und hob das Erlebnis des Vernichtungskrieges an der Ostfront als das entscheidende Motiv für die Gruppe hervor. Demgegenüber traten religiöse Belange zurück. Sönke Zankels 2008 veröffentlichte und heftig umstrittene Publikation „Mit Flugblättern gegen Hitler“ griff in ihren umstrittensten Passagen auf die seit der Goldhagen Debatte 1996 entfachte Diskussion und Forschung über den Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft zurück und unterstellte auch den Mitgliedern der Weißen Rose antisemitische und elitär-antidemokratische Tendenzen.

Die christliche Motivation der Weißen Rose wird in den jüngsten Veröffentlichungen ganz überwiegend wieder konstatiert, am deutlichsten, sehr differenziert und prägnant bei Jakob Knab, der 2012 in einer Herausgeberschrift mit dem Titel „Die Stärkeren im Geiste. Zum christlichen Widerstand der Weißen Rose“ dazu erneut zahlreiche Belege angeführt hat.

 

VI.

 

Es zeigt sich also, so lässt sich im Rückblick auf die eingangs zitierten Sensation heischenden Anzeigen in der Presse festhalten, dass von letzten Geheimnissen, die nun gelüftet seien, oder ganz neuen Perspektiven nicht die Rede sein kann. Trotz mancher Einsprüche im Laufe der Erforschung der Weißen Rose und einer 2017 wieder von Miriam Gebhardt energischer vertretenen Ansicht, dass die religiöse Motivierung überbewertet werde, verfestigt sich nach Meinung der überwiegenden Zahl der Autorinnen und Autoren derzeit der Eindruck, dass christliche Motive den Widerstand der Weißen Rose bestimmt haben.

Was das genau bedeutet, wie kirchennah diese Motivation war, welche Vorbilder genau wirkten, wie reformkatholisch das alles war und welche Unterschiede bei den einzelnen Gruppenmitgliedern dabei zu konstatieren sind – dies bleibt freilich im Detail umstritten.

Festzuhalten ist also, dass immer wieder zeithistorische Kontexte, aber auch aktuelle Forschungstrends und eigentlich schon immer, aber seit den 1980er Jahren noch verstärkt auch mediale Einflüsse das Bild von der Weißen Rose verändert haben. Ältere Interpretationen wurden auf diesen Wegen verdrängt, gerieten sogar in Vergessenheit, wurden manchmal aber auch Jahre später fälschlicherweise als völlige Neuigkeiten propagiert. So fehlt es heute wahrlich nicht an Deutungsmöglichkeiten – man möchte fast sagen, für jede Interessenlage findet sich mittlerweile ein entsprechender Anhaltspunkt nach 75 Jahren Publizistik und historischer Forschung.

Nach Aleida Assmann sind dies deutliche Indikatoren dafür, dass die Weiße Rose nun auch im kulturellen Gedächtnis unserer Gesellschaft angekommen ist. Und es ist deshalb auch nicht zu erwarten, dass sich diese erreichte Deutungsvielfalt durch eine immer wieder eingeforderte treffende Gesamtdarstellung ändern könnte, weil die Weiße Rose ein Erinnerungsort mit vielen Anknüpfungspunkten geworden ist, der dies vor allem ist, weil er immer wieder aktuelle Legitimations- und Identifikationsinteressen bedienen kann.

Jenseits solcher erinnerungskultureller Analysekategorien gibt es meiner Ansicht nach aber auch noch einige lebensweltliche und forschungspraktische Gründe, warum wir 75 Jahre danach vor einer so verwirrenden Vielzahl von Deutungsangeboten stehen. Ich möchte hierzu vier Thesen formulieren:

  1. Bei der intensiven Suche nach den Motiven dieses Widerstandes und der Erfassung der Charaktere der Handelnden wird viel zu häufig deren Jugendlichkeit übersehen. Die Mitglieder des engeren Kreises waren alle Anfang bis Mitte 20 Jahre alt, Sophie Scholl erst 21. In diesem Alter noch kein geschlossenes Weltbild zu haben, auf der Suche zu sein, sich selbst zu widersprechen, Ansichten zu ändern, ist nicht nur keine Schande, sondern zumal in Zeiten eines totalen Krieges wohl eher der Normalfall. Aus diesem Umstand resultieren aber viele Anhaltspunkte für divergierende Deutungen.
  2. Die Quellenlage zur Weißen Rose hat sich seit den 1990er Jahren entscheidend verbessert. Bis heute werden sozusagen immer mehr „Hintergrundinformationen“ hervorgehoben bis hin zu den jüngst edierten Gedichten und Texten von Hans Scholl. Dieses Quellenmaterial wird allerdings nicht selten unzulänglich quellenkritisch bewertet – und wenn dies einmal der Fall ist, dann bleibt die Kritik an der Oberfläche und hält die Bearbeiter kaum davon ab, reichlich steile Thesen daraus abzuleiten. Letztlich ist festzuhalten, dass es trotz aller neuen Quellenfunde und der Bereicherung des zur Verfügung stehenden Quellenkorpus keine regelrechte Schlüsselquelle gibt, die uns zuverlässig so etwas wie die „Wahrheit“ über die Weiße Rose vermitteln könnte. Wer das Für und Wider der verschiedenen nutzbaren Quellengattungen korrekt gegeneinander abwägt, wird immer vorsichtig formulieren – aber das wird im öffentlichen Diskurs um die Deutungshoheit nur selten durchdringen und daher wird die publikumswirksame steile These uns auch in Zukunft häufiger begegnen als das abwägende Urteil, das oft bekennen müsste, dass man bestimmte Zusammenhänge einfach nicht definitiv aufklären kann.
  3. Die feststellbare Konkurrenz um ein angemessenes Bild der Weißen Rose ist freilich nicht nur als Kampf um die öffentliche Deutungshoheit zu verstehen, es spielen auch ganz andere, sehr menschliche Faktoren eine Rolle. Nicht wenige Autorinnen und Autoren wurden zu Arbeiten über die Weiße Rose animiert, weil ihnen irgendwann einmal auffiel, dass die tradierten und gerne angenommenen Heroisierungen bei näherem Hinsehen auf die Quellen nicht mehr haltbar erschienen. Daraus sind dann regelrechte Überreaktionen entstanden, die historisch einwandfreiem Arbeiten selten gut tun.
  4. Die unterschiedlichen Deutungsangebote der Weiße Rose unterscheiden sich eher selten in den Details des Ereignisablaufs – die Grundzüge der Ereignisgeschichte sind mittlerweile weitgehend konsentiert. Unterschiede lassen sich vor allem bei der Frage nach den Motiven des Widerstands allgemein oder für einzelne Widerstandsaktionen und Formulierungen in den Flugblättern feststellen. Die Motive des Handelns von Menschen sind allerdings fast nie mit historischer Sicherheit festzustellen, zumal die wenigsten der Nachwelt genaue Kenntnis darüber vermitteln, warum sie zu einem gewissen Zeitpunkt so und nicht anders gehandelt haben, ganz besonders in Zeiten einer Diktatur. Es kann sich daher grundsätzlich nur um Wahrscheinlichkeitsaussagen handeln, die man auf der Grundlage konkurrierender Quellenzeugnisse, die alle ihre eigene Problematik haben, formulieren kann. Das eröffnet nicht beliebig viele Deutungsmöglichkeiten, schließlich gibt es immer noch das „Vetorecht der Quellen“ (R. Koselleck), aber angesichts vieler disparater Quellen doch viele denkbare Deutungsmöglichkeiten.

Es gibt daher Historikerinnen und Historiker, die in Frage stellen, ob es überhaupt sinnvoll ist, so viel Energie auf Motivforschungen zu verwenden, ob es nicht weiterführender sei, sich auf das zu konzentrieren, was die betreffende Personengruppe denn nachweisbar gemacht habe. Auch über diesen Vorschlag könnte man nun wieder in einen Methodenstreit geraten, im Falle der Weißen Rose aber könnte man tatsächlich so verfahren, weil die objektiven Folgen ihres Denkens, nämlich die Flugblätter, ja noch vorhanden sind.

Lassen wir daher abschließend die Weiße Rose selbst über die Frage nach ihren christlichen Bezügen sprechen. Das Ergebnis ist dann sehr eindeutig. Schon im ersten Flugblatt heißt es: „Daher muss jeder Einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewusst in dieser letzten Stunde sich wehren so viel er kann, arbeiten wider die Geißel der Menschheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates“. Und im vierten Flugblatt formulierten sie: „Gibt es, so frage ich Dich, der Du ein Christ bist, gibt es in diesem Ringen … ein Zögern? Hat Dir nicht Gott selbst die Kraft und den Mut gegeben zu kämpfen? Wir müssen das Böse dort angreifen, wo es am mächtigsten ist, und es ist am mächtigsten in der Macht Hitlers.“

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