Ich möchte mit diesem Beitrag einen Werkstattbericht präsentieren, der eine ungewöhnliche Troika zum Gegenstand hat: Drei Personen, die sich 1932/33 verbunden hatten mit einem einzigen Ziel, nämlich die Reichskanzlerschaft von Adolf Hitler zu verhindern. Man male sich aus, wenn Hitler nicht Reichskanzler geworden wäre – die Weltgeschichte wäre anders verlaufen. Diese drei Personen, die ich Ihnen gleich näher porträtieren werde, sind keine lupenreinen Demokraten, sind keine Repräsentanten der Weimarer Demokratie. Aber die Tragik der Weimarer Republik besteht ja nicht zuletzt darin, dass Ende 1932 und Anfang 1933 eine Konstellation entstanden war, in der man auf lupenrein demokratischem Wege, sich berufend auf den Buchstaben der Weimarer Verfassung, Hitler eher in die Hände arbeitete. Ich möchte zunächst einmal diese Konstellation knapp konturieren.
I.
Das Grundproblem einer Demokratie ist dann besonders dramatisch, wenn sich bei freien, gleichen und geheimen Wahlen die Mehrheit des Volkes für antidemokratische Bewegungen entscheidet; und genau das haben die Deutschen seit Sommer 1932 getan. Sie wurden zweimal im Jahr 1932 zu den Wahlurnen gerufen, am 31. Juli 1932 und dann am 6. November 1932. Das strategische Ergebnis beider Wahlen ist identisch; in beiden Fällen hatten Nationalsozialisten und Kommunisten die absolute Mehrheit der Mandate im Reichstag der Weimarer Republik erreicht; und das sind nur die beiden extremistischsten Gegner der liberalen Demokratie gewesen. Daraus ergibt sich, dass sich der Reichstag als positiv gestaltender Faktor selbst eliminierte. Wenn man Ende 1932 den Reichstag als gestaltenden Faktor ins Zentrum der Politik zu rücken suchte, spielt man damit den Ansprüchen Hitlers direkt in die Hände, weil Hitler immer stärker seinen Anspruch auf die Reichskanzlerschaft mit dem Argument zu legitimieren suchte, dass er als der Anführer der bei weitem stärksten politischen Kraft ein gewissermaßen natürliches Recht auf das Amt des Reichskanzlers habe.
Die Nationalsozialisten schneiden als die bei weitem stärkste politische Kraft bei diesen beiden Reichstagswahlen ab; sie erreichen 37,3 Prozent im Juli 1932, und 33,1 Prozent im November 1932. In beiden Fällen befinden sich die Nationalsozialisten in einer komfortablen strategischen Position. Denn gegen die Hitler-Partei kann im Reichstag seit Sommer 1932 keine Regierung gebildet werden, die sich auf die Mehrheit der Parlamentarier stützen kann.
Doch die Weimarer Republik ist keine rein parlamentarische Demokratie; sie ist viel stärker eine semi-präsidentielle Demokratie; und das bedeutet, dass Reichskanzler derjenige wird, weil ihn der Reichspräsident dazu ernannt hat. Kein Reichskanzler der Weimarer Republik ist demnach vom Parlament gewählt worden. Damit besitzt der Reichspräsident eine erhebliche politische Gestaltungsfreiheit, eine Person seiner Wahl zum Reichskanzler zu ernennen. Ab 1930 wird das auf die Spitze getrieben in den sogenannten Präsidialkabinetten; Heinrich Brüning amtiert als erster Kanzler eines solchen Präsidialkabinetts. Reichspräsident Hindenburg ist dabei die Schlüsselfigur, weil er letztlich aus eigener Machtvollkommenheit darüber befindet, wer Reichskanzler werden wird. Damit stellt sich die grundlegende Frage: Gibt es eine Alternative dazu, dass Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernennt?
Diese Alternative gibt es; sie ist in der Forschung seit langem bekannt, und sie wird repräsentiert vom letzten Reichskanzler vor Hitler, einem politischen General, Kurt von Schleicher. Schleicher steht für eine Anti-Hitler-Option, die darauf setzt, den Buchstaben der Weimarer Verfassung an der einen oder anderen Stelle auszuhebeln, partiell sogar einen Verfassungsbruch zu betreiben, um eine Zeit der Ausschaltung des Parlaments – diese Phase soll einige Monate währen – zu nutzen, um mit den Machtmitteln des Staates mögliche Widerstände, wie sie etwa von den Nationalsozialisten und ihrem sozialrevolutionären Flügel, der SA, zu erwarten gewesen wären, mit aller Härte der Staatsgewalt zu bekämpfen. Kurt von Schleicher kann dieses Vorhaben auch einlösen, weil er seit Sommer 1932 Reichswehrminister ist und damit über ein 100.000-Mann-Heer verfügt, das er zur Bekämpfung innerer Unruhen einsetzen könnte. Zum zweiten ist Preußen seit Sommer 1932 gleichgeschaltet, das heißt, die Exekutive Preußens, die preußische Schutzpolizei, wird direkt vom Reich kommandiert, und damit hat die Reichsregierung auf diesem Weg auch Zugriff auf die preußischen Sicherheitsorgane.
Das alles ist hinreichend von der bisherigen Forschung akzentuiert worden. Ich möchte dem Ganzen hier einen neuen Akzent hinzufügen, der diese Option noch attraktiver macht, weil es dieser autoritären Variante die Aussicht auf Spaltung der nationalsozialistischen Bewegung an die Seite stellt. Dazu braucht man einen prominenten Nationalsozialisten, der eine von Hitler unabhängige, eigene Autorität besitzt und diese eigene Autorität bei Neuwahlen in Gestalt einer eigenen Liste einbringt und damit die eine hitlertreue NSDAP schwächt. Eine solche, sich von Hitler emanzipierende Liste hätte an den Teil der NSDAP, der in den Staat hinein drängt und bereit ist, zu den Bedingungen Schleichers und Hindenburgs Regierungsverantwortung zu übernehmen, appelliert. Es wären damit Nationalsozialisten Minister geworden; aber Hitler wäre die Reichskanzlerschaft verwehrt worden.
Eine solche diese Konstellation entsteht im Dezember 1932; und für diese Konstellation stehen drei Personen: Gregor Strasser und Kurt von Schleicher; und der dritte ist gewissermaßen ein Überraschungsgast, der preußische Kronprinz Wilhelm. Zu allen dreien und deren Anteilen möchte ich Ihnen einige wesentliche Informationen an die Hand geben.
II.
Beginnen wir mit Gregor Strasser; und damit sind wir beim Genius loci München angelangt. Denn München ist der Ort, an dem die Konspiration gegen Hitler hauptsächlich geschmiedet wird. Warum ist München der Ort, an dem dieses Anti-Hitler-Bündnis Gestalt gewinnt? München ist Sitz der Reichsorganisationsleitung der NSDAP; und Gregor Strasser fungiert als deren Reichsorganisationsleiter. Der Begriff Generalsekretär für diese Tätigkeit wäre untertrieben, weil Gregor Strasser den gesamten Parteiapparat organisiert und der Parteiarbeit seinen Stempel aufdrückt. Hitler eignet sich nicht dazu: Er ist kein Organisator im Sinne bürokratisch-rationaler Herrschaft, wie sie Max Weber beschrieben hat. Gregor Strasser hingegen ist ein fähiger Administrator, der im Parteihauptquartiert der NSDAP alle Fäden in der Hand hat und viele Vertraute dort an Schaltstellen platziert hat.
Strasser war aber weit mehr als nur derjenige, der einem charismatischen Politiker wie Hitler die Alltagsgeschäfte abnahm. Strasser war kein getreuer Diener und Zuarbeiter des Parteivorsitzenden Hitler. Denn Strasser verfügte über eine politische Anhängerschaft aus eigenem Recht, weil er es gewesen war, der seit Mitte der 1920er Jahre die zunächst auf den süddeutschen Raum beschränkte NSDAP nach Nord- und Ostdeutschland hat expandieren lassen. Er hat fast sämtliche Gauleiter, die 1932 im Amt sind, persönlich kennen gelernt und gelegentlich auch für die NSDAP gewonnen.
Doch Strasser ist nicht nur innerhalb der NS-Führungsriege bestens vernetzt. Er kann auch in performativer Hinsicht Hitler das Wasser reichen. Was meine ich mit „in performativer Hinsicht“? Performanz zielt ab auf die Qualität öffentlicher Auftritte und damit auf die Wirkung auf das Publikum. Strasser konnte auftreten und die Massen gewinnen. Er war ein Redner, der Hitler in dieser Hinsicht die Stirn bieten konnte; und er war jemand, der seine rhetorische Autonomie auch sehr deutlich zum Ausdruck brachte. Nur Strasser konnte sich erlauben, nach öffentlichen Auftritten Hitlers das Wort zu ergreifen, so dass die Zuhörer eine Art Rednerwettbewerb erlebten und Hitlers oratorische Leistung sich an der von Goebbels zu messen hatte. Ein Bespiel, das ich dem Tagebuch eines sächsischen Hitlerjungens entnehme: Am 23. Juli 1932 hielt die NSDAP eine Wahlkundgebung in Dresden vor zehntausenden von Zuhörern ab, auf der zunächst Hitler sprach. Aber Hitlers Rede blieb nicht für sich stehen, weil nach ihm Gregor Strasser das Wort ergriff. Strassers Stellung war so, dass er sich in dieser Rede erlauben konnte, auf Hitler einzugehen – welcher führende Nationalsozialist konnte sich die Freiheit herausnehmen, seine eigene oratorische Agenda zu verfolgen?
Wer ist der erste Nationalsozialist, der eine reichsweit beachtete Rede hielt, die als Tonträger verbreitet wurde? Das war nicht Adolf Hitler; Hitler hat seine erste Rede im Radio erst im Februar 1933 als Reichskanzler gehalten. Gregor Strasser war ihm hier voraus; und diese Rede ist die bekannte Reichstagsrede vom 10. Mai 1932, wo er einem weit verbreiteten Unbehagen an der damaligen Wirtschaftsordnung Ausdruck verlieh. Indem es ausgerechnet ein Nationalsozialist war, der eine – wie er es bezeichnete – „antikapitalistische Sehnsucht“ des deutschen Volkes thematisierte, betätigte er sich durchaus begriffsschöpferisch und setzte sich auch damit von Hitler ab. Ich zitiere aus der Reichstagsrede Strassers einige Passagen, damit Sie erkennen, dass diese Rede auch auf die Arbeiterschaft ausgerichtet war, auf welche vor allem folgende Worte gemünzt waren:
„Wenn der Verteilungsapparat des weltwirtschaftlichen Systems von heute es nicht versteht, den Ertragsreichtum der Natur richtig zu verteilen, dann ist dieses System falsch und muss geändert werden, um des Volkes willen. [ …] Interessant und wertvoll an dieser Entwicklung ist die große – antikapitalistische Sehnsucht, wie ich es nennen möchte, die durch unser Volk geht und die heute vielleicht schon 95 Prozent unseres Volkes bewusst und unbewusst erfasst hat. Diese antikapitalistische Sehnsucht ist nicht im geringsten eine Ablehnung des aus Arbeit und Sparsinn entstandenen sittlich berechtigten Eigentums. Sie hat insbesondere nichts zu tun mit den sinnlosen und destruktiven Tendenzen der Internationale. Sie ist vielmehr der Protest des Volkes gegen eine entartete Wirtschaft, und sie verlangt vom Staat, dass er, um das eigene Lebensrecht zu sichern, mit den Dämonen Gold, Weltwirtschaft, Materialismus, mit dem Denken in Ausfuhrstatistik und Reichsbankdiskont bricht und ehrliches Auskommen für ehrlich geleistete Arbeit wiederherzustellen in der Lage ist.“
Strasser kann als der einzige Nationalsozialist von Rang gelten, der sich durch rednerische Performanz auch außerhalb der NSDAP einen beachtlichen Kreis von Anhängern schuf, die in ihm einen politischen Hoffnungsträger sahen und in ihm den einzigen Nationalsozialisten erblicken, der staatsmännische Qualitäten besaß und damit die Voraussetzung für Regierungsfähigkeit mitbrachte. Damit avancierte Strasser zu einer politischen Schlüsselfigur im Herbst und Winter 1932/33, als die NSDAP in ihrer ersten veritablen Krise steckte.
Im Dezember 1932 befand sich die NSDAP in einer strategisch verzwickten Lage, in der zwei Konzepte aufeinanderprallen: Hitler und seine Vertrauten wollten unterhalb der Reichskanzlerschaft keine Regierungsbeteiligung eingehen, während nicht wenige Parteigrößen – darunter an der Spitze Strasser – sich mit weniger Einfluss in einer Reichsregierung begnügen wollten, wenn denn anders keine Regierungsbeteiligung zustande gekommen wäre. Hitler, der in den wichtigen Zäsuren seines Lebens immer verkündete, er spiele va banque, setzt auch diesmal alles auf eine Karte und proklamiert: die Reichskanzlerschaft für ihn oder sonst keine Regierungsbeteiligung der NSDAP. Doch mit der Parole „alles oder nichts“ stößt Hitler innerhalb der eigenen Partei auf immer mehr Skepsis. Wenn man die Tagebücher des Hitler-Vertrauten Goebbels liest, wird man erkennen, dass sich Goebbels wie im dunklen Wald Mut zupfeift, um sich zu vergewissern, dass diese riskante Strategie Hitlers die richtige sei. Mehr als nur einmal beschleicht Goebbels die leise Furcht, dass Hitler sich verspekulieren könnte. Denn es gibt keine Garantien, dass Hitlers riskante Strategie sich auszahlen würde, weil die Hoheit über die Vergabe des Reichskanzlerpostens allein beim unberechenbaren Reichspräsidenten Hindenburg lag.
Daher schlug am 8. Dezember 1932 die Nachricht wie eine Bombe ein, dass Gregor Strasser seine Parteiämter niedergelegt habe. Denn damit war Hitler ein gefährlicher politischer Rivale innerhalb der NS-Anhängerschaft erwachsen, der sich durch diesen Schritt politische Handlungsfreiheit erworben hatte und offen gegen Hitlers Kurs angehen konnte. Strasser konnte nun alle diejenigen Nationalsozialisten sammeln, die mit dem rigorosen Kurs Hitlers nicht einverstanden waren und eine Regierungsbeteiligung auch unterhalb der Schwelle der Reichskanzlerschaft für vertretbar hielten. Strassers Rücktritt stiftet erhebliche Verwirrung in der NSDAP. Hitler selbst erkennt die Dramatik der Situation, in der eine Spaltung der NSDAP in einen Hitler-Flügel und einen Strasser-Flügel nicht ausgeschlossen erscheint. Gemäß dem zuverlässigen Chronisten Goebbels verkündet Hitler einen Tag später, also am 9. Dezember 1932, vor seinen Getreuen: „Wenn die Partei zerfällt, mache ich in drei Minuten Schluss.“ Hitler hatte zunächst alle Hände voll zu tun, wenigstens die Reichstagsfraktion zu disziplinieren. Er legte sich vor diesem Gremium mächtig rhetorisch ins Zeug und ließ sich von den Abgeordneten Treue in die Hand schwören, um den Laden zunächst einmal zusammenzuhalten.
Aber entscheidend ist, dass Gregor Strasser im politischen Geschäft bleibt. Er geht in Urlaub, tankt neue Kraft und ist Ende 1932 bereit, aus eigener Autorität einen neuen politischen Anlauf zu unternehmen. Dieser neue Anlauf besteht darin, dass er Kontakte knüpft zu denjenigen politischen Figuren, die das Ohr des Reichspräsidenten besitzen und mit deren Hilfe er die Anwartschaft auf ein Regierungsamt erwerben konnte. Dabei kristallisiert sich folgendes Szenario heraus: Gregor Strasser tritt in eine Reichsregierung ein, und zwar als Vizekanzler. Nach einigen Monaten Regierungstätigkeit setzt der Reichspräsident Neuwahlen an; und diese Neuwahl des Reichstags fällt zusammen mit einer Beruhigung der wirtschaftlichen Lage. Bei dieser Wahl tritt Gregor Strasser mit einer eigenen Liste an und spielt den Vorteil aus, unter Beweis gestellt zu haben, dass er regieren kann. Damit, so die Kalkulation, wäre die Spaltung der NS-Bewegung in einen gouvernementalen Flügel um Strasser und einen radikalen Flügel um Hitler und Goebbels vollzogen worden.
Dieses Kalkül lässt sich ablesen aus dem Tagebuch des Strasser-Adjutanten Paul Schulz, das dessen Sohn unter dem Pseudonym Alexander Dimitrios auszugsweise publiziert hat. Strasser verfügt über ein dicht gesponnenes Netzwerk von politischen Vertrauten außerhalb der NS–Parteiführung, das er im Winter 1932/33 gezielt aktiviert, um seine politischen Erfolgsaussichten für den Fall eines Regierungseintritts auszuloten. Dazu zählt etwa Heinrich Martin. Heinrich Martin ist der Privatbankier von Gregor Strasser, der – das ist nicht ganz so antikapitalistisch – gelegentlich auch an der Börse spekuliert hat, mit Geld, das er vom Privatbankhaus Heinrich Martin in München erhalten hat. Heinrich Martin steht unter anderem mit dem preußischen Kronprinz Wilhelm auf vertrautem Fuß und leitet diesem Arkaninformationen weiter, die er von Gregor Strasser erhalten hat. Auch der ehemalige Reichskanzler Heinrich Brüning gehört zu diesem Zirkel. Heinrich Brüning bleibt die graue Eminenz der Zentrumspartei. Brünings Reputation hat innerhalb der Zentrumspartei im Winter 1932 einen Höhepunkt erreicht, gerade weil er von Hindenburg schmählich entlassen worden war. Politisch zielt Brüning in eine ähnliche Richtung wie in Strasser. Er will den gouvernementalen Flügel der Nationalsozialisten für eine Zusammenarbeit gewinnen, mithin ein Kabinett von Strasser bis Brüning, durchaus unter der Reichskanzlerschaft Kurt von Schleichers.
Strassers „warm-up“ wird gekrönt am 6. Januar 1933; denn an diesem Tag wird er vom Reichspräsidenten empfangen. Es ist vollkommen klar, dass Strasser an hervorgehobener Position nur dann in die Regierung eines Präsidialkabinetts eintreten kann, wenn vorher Gespräche mit Reichspräsident Hindenburg stattgefunden haben. Am 6. Januar 1933 ist es dann so weit: Hindenburg kann Starsser politisch „beschnuppern“ und damit testen, ob er regierungsfähig sei. Allem Anschein nach ist dieser Test positiv ausgefallen. Das heißt, seit dem 6. Januar 1933 gibt es die Aussicht, dass Strasser in ein von Kurt von Schleicher geführtes Präsidialkabinett eintritt und damit eine Entwicklung eingeleitet wird, in deren Verlauf die NSDAP gespalten, aber auf jeden Fall der Anspruch Hitlers auf die Reichskanzlerschaft entwertet worden wäre.
III.
Kommen wir nun zum zweiten in der Runde, zu Kurt von Schleicher. Kurt von Schleicher ist der Prototyp des politischen Generals, eines Generals, der gelegentlich verächtlich als sogenannter Schreibtischgeneral dargestellt wird, weil er nie ein eigenes Truppenkommando übernommen hatte. General Schleicher findet seine Erfüllung im politischen Spiel mit allem, was dazu gehört. Schleicher ist ein Intrigant, er schmiedet Ränke und spielt über Bande. Kurt von Schleicher ist aber nicht nur ein gewiefter Mann hinter den Kulissen, sondern er repräsentiert auch eine bestimmte Tradition der preußisch-deutschen Militärgeschichte: die des politischen Militärs, der aus eigenem Recht eine Einmischung in die Belange der Politik für sich reklamiert, wenn Staat und Nation auf dem Spiel stehen. Diese Tradition kulminiert im Militärputsch vom 20. Juli 1944, als die Militäropposition gegen eine verbrecherische Obrigkeit zu genuin militärischen Mitteln griff, um in einer Stunde nationaler Not das Schlimmste vom deutschen Nationalstaat abzuwenden.
In der Krisenzeit der Weimarer Republik im Herbst/Winter 1932/33 zeigt sich, dass eine solche Konzeption allem Anschein nach der einzige erfolgsverheißende Weg war, um Hitler von der Macht fernzuhalten. Es handelte sich zweifellos um eine autoritäre Lösung, die den politischen Geltungsanspruch des Reichstags, in dem die NSDAP eine Schlüsselstellung besaß, ausschalten wollte. Kurt von Schleicher war für diese Aufgabe wie geschaffen, da er mit Leib und Seele ein politischer General war. Doch er besaß gegenüber Gregor Strasser den großen Nachteil, dass er immer nur über eine abgeleitete politische Autorität verfügte. Seine Autorität hing allein an seinen Ämtern, für die er sich nicht durch flammende Appelle an die Öffentlichkeit, sondern durch politische Ränkespiele und einen konspirativen Politikstil qualifiziert hatte. Diese Karriere mündete im Juni 1932 im Amt des Reichswehrministers; Anfang Dezember 1932 wurde sie durch das Reichskanzleramt gekrönt. Doch dieser politische General besitzt keine politischen Bataillone; es gibt keine Schleicher-Partei, keine Schleicher-Bewegung im deutschen Volke. Schleicher ist für den politischen Massenmarkt nicht geschaffen. Wie ein typischer Militär redet er hölzern; ihm fehlt die Fähigkeit, vor Massen aufzutreten.
Was ist Schleichers politisches Pfund? Es ist die Nähe zur Macht; und die Nähe zur Macht heißt hier die Nähe zum Oberbefehlshaber der Reichswehr, die Nähe zu Reichspräsident Hindenburg. Schleichers Beziehung zum Reichspräsidenten speiste sich nicht zuletzt aus seiner persönlichen Bekanntschaft zum einzigen Sohn Hindenburgs, Oskar, die auch aus der gemeinsamen Zeit beim dritten Garderegiment zu Fuß herrührte. Diese Freundschaft zu Oskar ist allerdings nicht wirklich belastbar; sie zerbricht im Winter 1932/33. Über seinen Sohn geriet Schleicher in das Blickfeld des Reichspräsidenten.
Hindenburg identifizierte den politisch umtriebigen Schleicher als Idealbesetzung, um seine ohnehin starke politische Stellung noch weiter aufzuwerten. Daher sollte Schleicher mit dem Plazet Hindenburgs politische Optionen durchdenken, welche die Präsidialgewalt stärken und damit den Reichspräsidenten zur Zentralfigur des politischen Entscheidungsprozesses machen sollten. Als Zuarbeiter für Hindenburg besitzt Schleicher immer nur geliehene Autorität. Aber dies bedeutet nicht, dass man sein politisches Kalkül als hinfällig abtun könnte. Als er nach der Übernahme der Reichskanzlerschaft im Dezember 1932 den ernsthaften Versuch unternimmt, die NSDAP zu spalten, indem er den regierungsbereiten Teil dieser Partei mit Gregor Strasser als Galionsfigur in eine von Hindenburg getragene Präsidialregierung hineinnimmt, trifft er den politischen Nerv der Hitler-Partei und eröffnet zugleich einen nicht ganz chancenlosen Ausweg aus der schwelenden Staatskrise.
Schleicher war kein politischer Dilettant. Wenn er sich ernsthaft mit der Absicht trug, eine nach außen hin geschlossen auftretende Partei wie die NSDAP, in welcher Hitler ein scheinbar unumschränktes Regiment führte, einem politischen Belastungstest hinsichtlich ihrer Geschlossenheit zu unterziehen, musste er in NSDAP-Führungskreise hineinhorchen können. Schleicher musste mithin über Arkaninformationen verfügen, die ihm Zuträger aus diesem Kreis – und zwar auch nach dem Ausscheiden von Gregor Strasser – verschafften? Die Frage lautet damit: Gab es „Nazi-Leaks“? Die Antwort heißt: Ja; und ich möchte Ihnen einen dieser Informanten kurz präsentieren
IV.
Die Rede ist von Generalmajor Franz Ritter von Hörauf, der zu den wenigen höheren Offizieren zählte, die in der SA eine höhere Position einnahmen. Hörauf bekleidete bis März 1933 im Führungsstab der SA-Führung wichtige Funktionen und verfügte damit auch über einen direkten Draht zum Braunen Haus in München. Franz Ritter von Hörauf verfasst im Dezember 1932 und Januar 1933 Berichte über den inneren Zustand der NSDAP, deren politischer Wert für Schleicher erheblich ist, weil er damit sein Handeln präzise kalkulieren kann. Hörauf schreibt diese vertraulichen Berichte allerdings nicht direkt an Schleicher, sondern an einen persönlichen Vertrauten des Reichskanzlers, der ihm diese Berichte in Abschrift zuleitet. Wer war dieser Mittelsmann, ohne den Schleicher gewissermaßen im politischen Blindflug agiert hätte? Wer hat es ermöglicht, dass Schleicher erfolgreiche politische Aufklärung hinsichtlich der NSDAP betreiben konnte? Wer verfügte über politische Vertrauensleute in München, die ihn mit wichtigen politischen Informationen fütterten, die Schleicher gegen Hitler verwenden konnte und sollte? Es handelt sich bei dieser Person um den Dritten im Bunde, der unsere Troika komplettiert: um Seine Königliche Hoheit, den Kronprinzen Wilhelm von Preußen.
Wie kommt es dazu, dass Kronprinz Wilhelm und Kurt von Schleicher so gute Beziehungen pflegten, dass über den Kronprinzen vertraulichste Interna aus dem Braunen Haus an Schleicher weitergeleitet werden konnten? Der enge persönliche Kontakt der beiden fast Gleichaltrigen datiert aus der gemeinsamen Kadettenzeit in Plön. Beide verlieren sich nicht aus den Augen, duzen sich und pflegen ein flapsig-vertrauliches Verhältnis, das sich Ende 1932 auszahlt. Der Kronprinz hat dabei immer auch eine eigene politische Agenda, die auf die Restauration der Monarchie hinausläuft. Aber als sich dieses Unterfangen Ende 1932 als momentan nicht realisierbar entpuppt, ist er bereit, seine Ambitionen zurückzunehmen und Schleicher im Kampf gegen eine Alleinherrschaft Hitlers zu assistieren.
Was erfährt Schleicher aus den Berichten Höraufs? Er kann sich ein Bild machen von führenden NS-Politikern, die auf dem Absprung von Hitler sind und förmlich darauf warten, zu Strasser überzulaufen. Dazu zählt kein geringerer als der Fraktionsvorsitzende der NSDAP im Reichstag, Wilhelm Frick, der mit „leichtem Gepäck“ reise und nur darauf warte, mit Strasser zusammen in eine Regierung einzutreten. Schleicher erfährt weiterhin, dass die NSDAP nicht mehr kampagnenfähig ist, weil ihr allmählich das Geld ausgeht. Dies liegt nicht daran, dass ihr die Großindustrie den Geldhahn zugedreht hätte. Die vollmundige Behauptung, die NSDAP sei vom „big business“ ausgehalten worden, hat ohnehin nie seriöser wissenschaftlicher Überprüfung standgehalten und war vor allem das Ergebnis eines ideologischen Zerrbildes, wonach sich Konzernherren, Schlotbarone und Industriebosse eine „faschistische“ Bewegung geschaffen hätten, um die Demokratie zu unterminieren und die Arbeiterschaft politisch zu verwirren. Die NSDAP hing nicht am finanziellen Gängelband des Großkapitals und der Schwerindustrie. Sie hatte ein ausgeklügeltes System der Selbstfinanzierung etabliert, das allerdings Ende 1932 an seine Grenzen stieß, weil es nicht ausreichte, um einen Dauerwahlkampf aus eigener Kraft finanzieren zu können. Das Jahr 1932 war ein Dauerwahljahr: zwei Wahlgänge zur Reichspräsidentenwahl, mehrere Landtagswahlen und zwei Reichstagswahlen hatten die Kassen der NSDAP so geleert, dass der Reichsschatzmeister der NSDAP beim Finanzamt um Steuerstundung nachsuchen musste. Indem der Kronprinz von Hörauf auch mit Informationen hinsichtlich der NS–Finanzlage versorgt wurde, konnte Schleicher die Handlungsfähigkeit der Hitler-Partei taxieren. Alles sprach dafür, dass die NSDAP trotz vollmundiger Ankündigungen keine Auflösung des Reichstags durch eigenes Verhalten provozieren durfte, weil sie momentan nicht wirklich kampagnenfähig war. Dieses Wissen eröffnete Schleicher erhebliche Handlungsspielräume!
Warum verfügte ausgerechnet der preußische Kronprinz in der bayerischen Landeshaupstadt München über ein Netz von Vertrauensleuten? Warum war er das bestinformierte Mitglied ehemals regierender Fürstenhäuser, was Interna der NS-Führung anbelangt? Dies lag zum einen daran, dass er privat häufiger in München weilte, was allem Anschein nach auch darauf zurückzuführen ist, dass die Abstecher des „womanizers“ Wilhelm im Falle Münchens zu einer Vaterschaft geführt hatten, die ihm gewisse Verpflichtungen gegenüber Mutter und Kind auferlegten. Doch der eigentliche Grund war ein dezidiert politischer: Wilhelm brannte vor politischem Ehrgeiz und unterschied sich damit qualitativ von seinem bayerischen Schicksalsgefährten, Kronprinz Rupprecht, der eher darauf wartete, dass ihm eine herrschaftliche Position zufiel, während Wilhelm proaktiv tätig war.
Aus dem Tagebuch des bayerischen Kronprinzen Rupprecht kann man dieses unterschiedliche Politikverständnis deutlich herauslesen. Am 30. November 1932 äußert sich Rupprecht darin über einen an diesem Tag erfolgten „Besuch des deutschen Kronprinzen, der auf der Rückreise von der Gamsjagd in Vorarlberg nach München gekommen war“. Rupprecht kennt auch den eigentlichen Grund für diesen Abstecher Wilhelms nach München: Der deutsche Kronprinz will Gregor Strasser sprechen – und dies ist ein Politikum ersten Ranges: Zu einem Zeitpunkt, an dem sich Wilhelms Verbündeter Schleicher intensiver denn je um Strasser bemüht, sucht der Kronprinz den direkten persönlichen Kontakt zum zweiten Mann der NSDAP, wobei vieles dafür spricht, dass diese Initiative nicht ohne Absprache mit Schleicher geschah. Wilhelm musste zwar unverrichteter Dinge aus München abreisen, weil er Strasser nicht angetroffen hatte. Aber entscheidend ist der Umstand, dass der deutsche Kronprinz ein politischer Mitspieler war, der sich in die Niederungen der Parteipolitik begab und dabei – wie Schleicher – auf die Karte Straßer setzte.
Genau dieser Politikstil stieß auf Unverständnis beim sich vornehm zurückhaltenden bayerischen Kronprinzen, wenn er seinem Tagebuch anvertraut: „Dass er [der deutsche Kronprinz] den Leuten nachläuft, anstatt sie an sich herankommen zu lassen, ist ein taktischer Fehler.“ Doch nur, wenn man sich auf die Spielregeln der Politik einließ, konnte man als Abkömmling eines ehemals regierenden Herrscherhauses die Politik mitgestalten – und das erkannte der burschikos-leutselige Wilhelm, der auch als „sportsman“ über eine gewisse Popularität verfügte, im Unterschied zum betont zurückhaltend agierenden bayerischen Kronprinzen.
Sie mögen aus meinen Darlegungen mithin entnehmen, wie wichtig München als Treffpunkt einer Fronde gegen Hitler gewesen ist. Darin fanden sich Personen zusammen, die ohne Zweifel keine „lupenreinen Demokraten“ waren und denen es keineswegs darum ging, die parlamentarische Substanz der Weimarer Demokratie zu retten. Was sie vereinte, war die feste Absicht, eine Reichskanzlerschaft von Adolf Hitler zu verhindern. Strasser, Schleicher und Kronprinz Wilhelm legten dabei eine beträchtliche Strecke zurück und waren schließlich imstande, dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ein Konzept zu unterbreiten, dessen Realisierung greifbar nahe war: Gregor Strasser sollte in eine von Kurt von Schleicher geleitete Reichsregierung eintreten, deren Spektrum möglicherweise bis in die Zentrumspartei reichte und in der gegebenenfalls Heinrich Brüning noch einmal zu Ministerehren gekommen wäre.
Jetzt lautet die entscheidende Frage, warum aus diesen Sondierungen keine entsprechenden Entscheidungen erwachsen sind. Die Antwort ist einfach: Der Reichspräsident fällt die Entscheidung; und Hindenburg war keinesfalls auf die Verhinderung einer Reichskanzlerschaft Hitlers fixiert und ließ sich zur selben Zeit eine zweite, eine vollkommen konträre Option ausarbeiten, in der Hitler eine Schlüsselrolle bei der Bildung einer neuen Regierung spielte. Ex- Kanzler Franz von Papen, der sich mit Kurt von Schleicher persönlich verfeindet hat, soll im Auftrag Hindenburgs eine Lösung erarbeiten: Ein Kabinett der sogenannten nationalen Konzentration, in dem alle Kräfte der politischen Rechten, die sich bislang spinnefeind gewesen sind, vereinigt sind, also die Hitler-NSDAP; der Stahlhelm, der stärkste Wehrverband überhaupt, und die Deutschnationale Volkspartei unter ihrem Vorsitzenden Alfred Hugenberg.
Schleicher weiß, dass Gefahr im Verzug ist, wenn diese Alternative zustande kommt; aber ihm sind die Hände gebunden. Hindenburg entscheidet sich Ende Januar 1933 dafür, Schleicher unehrenhaft, so könnte man sagen, zu entlassen, um damit dessen Vorschlag des Eintritts Strassers in das Reichskabinett zu verwerfen. Der Reichspräsident stellt die Weichen für Hitlers Reichskanzlerschaft – eine Lösung, die darauf setzt, die stärkste politische Kraft ungeteilt in die Reichsregierung zu holen und bei anstehenden Neuwahlen einer im Aufwind befindlichen Hitler-Partei zusätzlich den Hindenburg-Mythos als politische Trumpfkarte zur Verfügung zu stellen.
Der Reichspräsident setzt seine politischen Hoffnungen darauf, dass die Regierungsparteien bei anstehenden Neuwahlen eine komfortable Mehrheit erreichen, die Reichskanzler Hitler den Weg zu einem Ermächtigungsgesetz bahnt. Schon am 21. November 1932 hatte Hitler dem Reichspräsidenten in einer vertraulichen Unterredung diese Lösung avisiert und sich mit der Aussage, er sei der Einzige, der dem Reichspräsidenten ein Ermächtigungsgesetz verschaffen könne, in Stellung gebracht. Am 23. März 1933 löst Hitler dieses Versprechen ein. Damit wurde auf eine formal legale Art und Weise, ohne Verfassungsbruch, neben der Weimarer Demokratie auch der Rechtsstaat beseitigt – ein politischer Dammbruch, der ohne die Reichskanzlerschaft Hitlers nicht möglich gewesen wäre. Unsere „drei Männer gegen Hitler“ haben – dies dürften meine Ausführungen gezeigt haben – sich letztlich vergeblich eingesetzt, um Hitler den Weg in das höchste Regierungsamt zu versperren.