Eine kleine Systematik der Menschenrechte

Die Semantik der Menschenrechte

 

Die Struktur von Rechten im Allgemeinen

Menschenrechte sind eine Teilmenge der im juristischen Sprachgebrauch so genannten subjektiven Rechte, weil sie einzelnen Personen, nicht aber ganzen Kollektiven zukommen. Solche Rechte lassen sich allgemein als interpersonelle normative Relationen verstehen, die zum Schutz wichtiger Interessen oder der Wahlfreiheit der Personen dienen, denen die Rechte zukommen. Jede derartige Relation hat die folgende Struktur, die drei Elemente – die Inhaber, Adressaten und Inhalte der Rechte – miteinander verknüpft:

Der Inhaber hat gegenüber dem Adressaten das Recht auf den Inhalt.

Jedes der drei Elemente kann diverse Variationen annehmen, woraus eine große Vielfalt möglicher Formen von Rechten resultiert. So können die Rechtsinhaber bestimmte Einzelpersonen sein (wie z.B. bei jemandes Eigentumsrecht an einer konkreten Sache) oder eine Mehrzahl, ja überhaupt alle Menschen (wie bei den Menschenrechten). Ebenso kann sich die Menge der Adressaten von bestimmten Einzelpersonen (wie gewöhnlich bei vertraglichen Rechten) bis zur Gesamtheit aller Menschen (wie im Fall der Eigentumsrechte) erstrecken. Und schließlich kann auch der Inhalt von Rechten in zwei Hinsichten variieren: in Hinsicht auf die Modalität des Rechts und in Hinsicht auf seinen Gegenstandsbereich. Was die Modalitäten von Rechten angeht, so kommen die folgenden vier in Betracht: Ansprüche, die sich in entsprechenden Pflichten der Adressaten niederschlagen; Freiheiten, die aus dem bloßen Nichtverbotensein von Handlungen resultieren; Kompetenzen, also Befugnisse zur verbindlichen Regelung des Handelns der Adressaten; und Immunitäten, die festlegen, dass ihre Inhaber eben nicht der Befehlsgewalt der Adressaten unterworfen sind.

Die sich aus diesen Variationen ergebenden elementaren Formen von Rechten können ihrerseits wieder auf vielfältige Weisen miteinander kombiniert werden, woraus mehr oder minder komplexe Konfigurationen von Rechten entstehen. Tatsächlich erweisen sich so gut wie alle prominenten Rechte, die im Recht vorkommen oder moralisch postuliert werden, wie etwa Eigentumsrechte, vertragliche Rechte, Eltern- und Kinderrechte und eben auch Menschenrechte, bei näherer Betrachtung als recht komplexe Bündel von elementaren Rechten. Ob solche Rechte begrifflich notwendig auch entsprechende Wege und Mittel ihrer Einforderung und Durchsetzung gegen ihre Adressaten einschließen, ist umstritten. Dessen ungeachtet wird man sagen können, dass Rechte, die nicht eingefordert und im Fall ihrer nachweisbaren Verletzung nicht durchgesetzt werden können, unvollständig bzw. imperfekt sind. Davon ausgehend kann nun der Begriff der Menschenrechte näher bestimmt werden.

 

Die Beschaffenheit der Menschenrechte 

Menschenrechte sind nach allgemeiner Auffassung universelle, unveräußerliche und besonders gewichtige Anspruchsrechte, nämlich Rechte, die gleichermaßen allen Menschen bedingungslos, d.h. unabhängig von ihren jeweiligen speziellen Lebensumständen von Geburt an zukommen, weder entzogen noch aufgegeben werden können und jeder Person gegenüber der sozialen Umwelt Anspruch auf die Wahrung ihrer grundlegenden Interessen verschaffen. Diese Auffassung, die auf der Annahme des grundsätzlich gleichen Werts aller Menschen beruht und damit deren Recht auf Gleichheit im Recht notwendig einschließt, stellt vor allem auf die Inhaber der Menschenrechte ab und lässt deren Adressaten und Gegenstandsbereiche weitgehend offen. Um diese Bereiche in erster Annäherung in den Blick zu nehmen, ist es hilfreich, eine gebräuchliche Einteilung der Menschenrechte in Erinnerung zu rufen, die folgende Sorten umfasst:

(a) liberale Rechte: auf Leben, körperliche Integrität und bürgerliche Freiheiten (Bewegung, Religion, Meinung, Berufswahl, Eigentum, Vertragsverkehr etc.);

(b) politische Rechte: auf Freiheit der politischen Betätigung (Vereinigung, Versammlung), Beteiligung und Mitsprache (gleiches Wahlrecht u.dgl.);

(c) soziale und wirtschaftliche Rechte: auf Arbeit, angemessene Entlohnung und Arbeitsbedingungen, Koalitionsbildung, soziale Sicherung, Bildung usw.;

(d) kulturelle Rechte: auf Teilnahme am kulturellen Leben (Gebrauch der Muttersprache, Pflege kultureller Tradition), Schutz geistigen Eigentums.

Diese Sorten von Menschenrechten, die oft auch als „Generationen“ bezeichnet werden, weil sie, grob genommen, den sukzessiven Stufen der historischen Entfaltung dieser Rechte entsprechen, lässt zugleich deren fortschreitende Expansion erkennen, mit der nach und nach wachsende Verbindlichkeiten der jeweiligen Adressaten einhergehen. Vor einer näheren Bestimmung dieser Adressaten und ihrer Pflichten soll aber noch ein markanter Wesenszug der Menschenrechte hervorgehoben werden: ihre Doppelnatur.

Zu sagen, dass es Menschenrechte gibt oder dass sie existieren, kann nur heißen, dass diese Rechte als Normen gelten bzw. Geltung besitzen. Von der Geltung von Normen kann nun aber in einem zweifachen Sinn die Rede sein: einerseits im Sinn ihrer idealen Geltung als moralischer Normen, für die triftige Gründe sprechen, sowie anderseits im Sinn ihrer realen Geltung kraft ihrer faktischen Anerkennung und Beachtung, was insbesondere auch auf rechtliche Normen zutrifft, die aufgrund ihre Verankerung im positiven Recht gelten. Was nun die Menschenrechte angeht, so werden sie seit ihrer Entdeckung oder Erfindung jedenfalls als moralische Rechte verstanden, nämlich als solche, die nicht allein Anspruch auf öffentliche Anerkennung als Normen der konventionellen Moral erheben, sondern auch nach rechtlicher Institutionalisierung verlangen. Und insoweit sie tatsächlich durch positives Recht institutionalisiert werden, sind sie zugleich spezifische legale Rechte, nämlich solche, die sich auf sehr gewichtige moralische Gründe stützen, derentwegen sie dem Belieben der staatlichen Macht entzogen bleiben.

Als legale Rechte brauchen die Menschenrechte, um effektive Geltung entfalten zu können, freilich auch entsprechende Rechtswege, die es ermöglichen, sie bei Bedarf gegen ihre Pflichtadressaten einzufordern und nötigenfalls mit Mitteln rechtlichen Zwangs durchzusetzen. Aber gerade in diesem Punkt stoßen die Menschenrechte, was den sich aus ihrer Universalität ergebenden Anspruch auf globale Geltung betrifft, in einer in viele Staaten geteilten Welt vielfach auf kaum überwindliche Grenzen, weil ihre wirksame Gewährleistung in erster Linie den einzelnen Staaten obliegt, von denen sie vielerorts nicht nur nicht geschützt, sondern oft sogar notorisch verletzt werden, und weil auch die bestehende internationale Ordnung keine hinreichenden Möglichkeiten bietet, die Achtung dieser Rechte seitens der Staaten gegen ihren Willen zu erzwingen. Dieser prekäre Sachverhalt findet im Übrigen auch im moralischen Diskurs über Menschenrechte insofern Niederschlag, als es darin vielfältige Unsicherheiten bezüglich der näheren Bestimmung aller drei Elemente dieser Rechte gibt.

 

Der Gehalt der Menschenrechte als moralischer Ansprüche

Wenn man es unternimmt, die drei erwähnten Elemente von Menschenrechten – deren Inhaber, Adressaten und Inhalte – im Detail zu konkretisieren, so scheinen einige Aspekte heute weitgehend klar und gesichert zu sein, während über eine ganze Reihe weitergehender Fragen weder Klarheit noch Einigkeit besteht.

Bezüglich der Inhaber der Menschenrechte ist so viel klar, dass diese Rechte uneingeschränkt allen Bürger/innen eines jeden Staats in und gegenüber diesem Staat zukommen. Mehr oder minder unsicher und umstritten ist aber, inwieweit sie auch den sich im Land aufhaltenden Fremden, wie Besuchern, Immigranten und Asylanten, zugestanden werden müssen. In den entwickelten Demokratien wird heute zwar weithin anerkannt, dass Fremden zumindest die wesentlichen liberalen Rechte zugestanden werden müssen, doch ob und inwieweit ihnen auch politische, soziale und kulturelle Rechte zukommen, ist weder sicher noch ausgemacht.

Zu den Adressaten der Menschenrechte gehören sicher die einzelnen Staaten, die ja in erster Linie zur Gewährleistung dieser Rechte zumindest ihrer eigenen Bürger, zum Teil aber auch der sich in ihnen aufhaltenden Fremden verpflichtet sind. Ferner liegt es nahe, zu den Adressaten auch die Staatengemeinschaft zu zählen, weil es dieser obliegt, eine internationale Ordnung zu etablieren, welche die Menschenrechte überall auf der Welt so gut wie möglich sichert. Und in dem Maße, in dem sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sowohl auf regionaler als auch auf globaler Ebene transnationale Systeme des Menschenrechtsschutzes entwickelt haben, kommen auch deren Akteure als Adressaten in Betracht. Da jedoch alle diese Institutionen – Staaten ebenso wie internationale Institutionen – letztlich nur durch ein entsprechendes kollektives Handeln der einzelnen Menschen zustande kommen und Bestand haben können, stellt sich die Frage, ob und inwieweit nicht auch alle privaten Verbände und politischen Akteure, ja sogar alle Einzelpersonen im Maß ihrer Einflussmöglichkeiten als Adressaten der Menschenrechte betrachtet werden sollen.

Was die Inhalte der Menschenrechte betrifft, so findet im Laufe der Zeit eine zunehmende Expansion dieser Rechte statt, die von relativ bescheidenen, weil national begrenzten negativen Freiheitsrechten zu sehr anspruchsvollen Rechten führt, die jedem Menschen nicht nur gegenüber dem eigenen Staat vielfältige positive Ansprüche auf politische Teilhabe und soziale Sicherung garantieren sollen, sondern auch zunehmend durch transnationale Regelsysteme verbürgt werden. Diese Entwicklung hat unvermeidlich eine Zunahme von Fällen zur Folge, in denen Menschenrechte miteinander und mit öffentlichen Interessen in Kollision geraten, womit sie zugleich an Bestimmtheit verlieren. Ein Weg, den daraus resultierenden Problemen zu begegnen, besteht darin, jenen Rechten, die dem Schutz besonders elementarer Interessen jedes Menschen dienen, so vor allem den Rechten auf Leben, körperliche Integrität und Bewegungsfreiheit, in Kollisionsfällen Vorrang vor anderen, weniger gewichtigen zu geben und sie damit gewissermaßen notstandsfest und nicht-derogierbar zu machen.

 

Die rechtliche Gewährleistung der Menschenrechte

 

Die Menschenrechte im nationalen Kontext

Als legale Rechte finden die Menschenrechte in erster Linie in den nationalen Rechtsordnungen ihren Platz. Und in funktionierenden Verfassungsstaaten bilden sie als Grundrechte auch ein tragendes Fundament der Grundordnung dieser Staaten. Dies legt es nahe, zuerst die Menschenrechte, wie sie in den Verfassungsstaaten garantiert werden, in der Reihenfolge ihrer sukzessiven Stufen kurz Revue passieren zu lassen.

Die liberalen Menschenrechte zielen darauf ab, die bürgerliche Freiheit aller Bewohner/innen eines Staates einschließlich der Fremden zu sichern, indem sie jeder dieser Personen gegenüber den Institutionen des jeweiligen Staates die folgenden Ansprüche verleihen, die entsprechende Pflichten der betreffenden staatlichen Gewalten bedingen: 1. den Anspruch auf die grundlegenden formell-rechtlichen Bedingungen individueller Handlungsfreiheit, so insbesondere das Verbot willkürlicher Gewalt und die Freistellung von Handlungsmöglichkeiten, insoweit diese weder mit öffentlichen Interessen noch mit den Rechten Anderer in Konflikt geraten, wie Religion, Meinungsäußerung, Vereinigung, Eigentum, Vertragsverkehr und Berufswahl; 2. den Anspruch, im Gebrauch der Freiheiten weder durch den Staat noch durch Dritte gehindert zu werden; und schließlich 3. den Anspruch auf die Absicherung dieser Freiheiten durch geeignete rechtliche Institutionen und faire Verfahren, welche die Einforderung und Durchsetzung der Rechte ermöglichen.

Im Unterschied dazu werden die politischen Menschenrechte, jedenfalls die auf politische Beteiligung und Mitsprache, im nationalen Kontext nicht allen sich in einem Land aufhaltenden Personen, sondern nur dessen mündigen Bürger/innen zugestanden. Dank dieser Rechte haben alle Bürger/innen eines Staates gegen diesen die folgenden Ansprüche: 1. auf freie Teilhabe am politischen Leben, d.h. auf gleiche Teilnahme an der öffentlichen Meinungs- und Entscheidungsbildung über allgemeine Angelegenheiten; 2. auf staatlichen Schutz vor Behinderungen ihrer betreffenden Aktivitäten durch Dritte; 3. auf faire Verfahren der politischen Meinungs- und Entscheidungsbildung, insbesondere der Wahlen repräsentativer Körperschaften und politischer Abstimmungsprozesse; und 4. auf geeignete Rechtswege zur Durchsetzung jener Ansprüche.

Dass die sozialen und ökonomischen Menschenrechte hinsichtlich ihrer Inhaber und ihres Umfangs nicht unerheblich von Land zu Land variieren, hat nicht nur mit den Ungleichheiten ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, sondern auch mit ihren unterschiedlichen Systemen der sozialen Sicherung zu tun. Zwar gilt das Recht auf ein Existenzminimum als ein zentrales Menschenrecht, wonach jeder Staat nach Möglichkeit allen seinen Bürger/innen, aber auch den sich in ihm aufhaltenden Fremden bei Bedarf wenigstens eine ihre Existenz sichernde Grundversorgung garantieren muss. Doch welche Leistungsansprüche dieses Recht im Einzelnen inkludiert, ist ebenso kontingent wie die Ausgestaltung der das Existenzminimum übersteigenden sozialen Leistungsansprüche, etwa bei Krankheit, bei Arbeitslosigkeit oder im Alter. Und Ähnliches gilt für andere soziale Menschenrechte, wie das Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen. Ungeachtet dieser Unterschiede ist den sozialen Menschenrechten die folgende Struktur gemeinsam: Alle Personen, die berechtigt sind, am Wirtschaftsleben eines Landes teilzunehmen, haben gegenüber dessen Staat und Gesellschaft, abgesehen vom Recht auf das Existenzminimum, Anspruch: 1. auf Zugang zu einer daseinssichernden Erwerbstätigkeit, 2. auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen, 3. auf ausreichende soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit sowie im Alter und 4. auf geeignete Rechtswege, um die Erfüllung jener Ansprüche durch den Staat nötigenfalls auch durchsetzen zu können.

Während die liberalen und politischen Menschenrechte in wohlfunktionierenden Rechtsstaaten in hohem Maße verfassungsrechtlich verbürgt sind, trifft das selbst in solchen Staaten auf die sozialen Rechte gewöhnlich nicht zu. Und das ist umso weniger in der Vielzahl jener Staaten der Fall, die nicht einmal bei den bürgerlichen Rechten rechtsstaatliche Standards erfüllen. Da sich dieser Befund mit dem Universalitätsanspruch der Menschenrechte nicht gut verträgt, besteht auch Bedarf nach einer rechtlichen Sicherung dieser Rechte auf internationaler Ebene. Dabei sind zwei Ebenen des internationalen Menschenrechtsschutzes zu unterscheiden: einerseits die Ebene des globalen Menschenrechtsschutzes im Rahmen des universellen, weltweit verbindlichen Völkerrechts, und andererseits die Ebene regionaler, nämlich länderübergreifender, aber regional begrenzter Systeme, von denen vor allem das europäische System interessiert.

 

Elemente des globalen Menschenrechtsschutzes 

Im Rahmen des universellen Völkerrechts hat sich nach dem 2. Weltkrieg ein recht komplexes System des globalen Menschenrechtsschutzes entwickelt, das folgende Komponenten inkludiert: allgemeine Proklamationen, internationale Abkommen, transnationale Institutionen, globale NGOs und Massenmedien. Mit der UN-Charta von 1945 setzt eine Vielzahl von allgemeinen Proklamationen der Staatengemeinschaft ein, die den weltweiten Schutz der Menschenrechte als eine vordringliche Aufgabe der internationalen Ordnung postulieren. Obwohl diese Proklamationen, darunter vor allen anderen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (UDHR) von 1948, keine Rechtsverbindlichkeit haben, spielen sie im politischen Diskurs eine nicht unerhebliche Rolle, weil sie zentrale Ziele der näheren Gestaltung der globalen Ordnung formulieren, die Menschenrechte als fundamentale Grundsätze einer legitimen staatlichen Ordnung bekräftigen und an die Selbstverpflichtung der Staaten zur Achtung dieser Rechte erinnern. Konkretisiert werden sie durch eine Reihe völkerrechtlicher Abkommen, die meist bestimmte Sorten von Menschenrechten betreffen und heute im Prinzip weltweit rechtliche Geltung besitzen, da sie von einer dafür ausreichenden Zahl von Staaten ratifiziert wurden. Dazu gehören, um nur die wichtigsten zu nennen, die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und die zwei Menschenrechtspakte von 1966 (in Kraft seit 1976): zum einen der Zivilpakt, der die bürgerlichen und politischen Rechte umfassend und detailliert regelt und dabei unter anderem die Verbote von Folter, Sklaverei und Zwangsarbeit als notstandsfeste Erfordernisse statuiert; zum anderen der Sozialpakt, der wie der Zivilpakt ein allgemeines Diskriminierungsverbot und die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie darüber hinaus eine ausführliche und anspruchsvolle Liste von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten postuliert.

Um diesen Abkommen, deren reale Umsetzung infolge der Souveränität der Staaten ja weitgehend diesen selbst überlassen bleibt, dennoch eine gewisse Bedeutung zu verschaffen, wurde ein System transnationaler Institutionen etabliert, welche die Menschenrechtspraxis der Einzelstaaten regelmäßig beobachten, überprüfen und dokumentieren sowie notorische und krasse Menschenrechtsverletzungen anprangern können. Dazu gehören, abgesehen von der Generalversammlung, insbesondere die folgenden Einrichtungen der UNO: der Menschenrechtsausschuss (CCPR), der die Mitgliedsstaaten des Zivilpakts anhand periodischer Berichte bewertet; der Menschenrechtsrat (UNHRC), der die Staaten bezüglich der Erfüllung ihrer menschenrechtlichen Verpflichtungen regelmäßig überprüft, bei Bedarf auch spezielle Untersuchungen über die Situation in einzelnen Ländern durchführt und Beschwerden über gravierende Menschenrechtsverletzungen behandelt; und nicht zuletzt die Hochkommissariate für Menschenrechte (UNHCHR) und für Flüchtlinge (UNHCR), welche die menschenrechtlichen Aktivitäten der UNO koordinieren und sie auch durch ihre Öffentlichkeitsarbeit fördern sollen. Die meisten dieser Institutionen können zwar bis zu einem gewissen Grad relativ unabhängig von strategischen Machtkalkülen der Großmächte agieren, verfügen aber über keine effektiven Sanktionsmöglichkeiten gegen Staaten, die sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig machen.

Davon gibt es zwei Ausnahmen, die das Ergebnis rezenter Entwicklungen des Völkerrechts sind: erstens die humanitäre Intervention, d.h. der militärische Eingriff in ein Staatsgebiet zur Beendigung einer humanitären Notlage, so vor allem schwerer Menschenrechtsverletzungen, aufgrund eines Beschlusses des Sicherheitsrates; und zweitens die subsidiäre strafrechtliche Verfolgung von schweren Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie Völkermord, durch den Internationalen Strafgerichtshof (ICC). Beide Varianten sind allerdings der Gefahr machtpolitischer Verzerrungen ausgesetzt: die erste, weil die Entscheidungen des Sicherheitsrats viel eher von machtstrategischen Kalkülen seiner Mitglieder als von moralischen Erwägungen geleitet sind; und die zweite deswegen, weil der Internationale Strafgerichtshof von einer Reihe von Staaten boykottiert wird, so dass sich deren politische oder militärische Führer der strafrechtlichen Verantwortung leicht entziehen können.

Das skizzierte System des globalen Menschenrechtsschutzes, das wegen seines Mangels an zwingenden Sanktionsmechanismen, abgesehen von den erwähnten Ausnahmen, im Wesentlichen den Charakter von „soft law“ hat, würde allein nicht viel ausrichten, fände es nicht Rückendeckung und Unterstützung durch zwei zivilgesellschaftliche Machtfaktoren, die relativ unabhängig von den strategischen Kalkülen der internationalen Politik operieren, nämlich NGOs und Massenmedien. So tragen zahlreiche globale Nichtregierungsorganisationen, die sich, wie z.B. das Rote Kreuz, Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen oder Oxfam, dem Kampf für Menschenrechte verschrieben haben, durch ihre konkreten Hilfsaktionen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen wie auch durch ihre Pressekampagnen und Publikationen nicht nur zur Linderung der Not vieler Menschen, sondern auch zur Ächtung der Täter bei. Und Ähnliches gilt für seriöse Massenmedien, deren Berichte über Menschenrechtsverstöße, sei es im eigenen oder in einem anderen Land, mitunter zu einer Mobilisierung der Öffentlichkeit führen, die unter günstigen Umständen den Menschenrechten zu mehr Beachtung verhelfen kann, sei es vermöge entsprechender Reformen im eigenen Land oder mittels angemessener internationaler Reaktionen auf die inkriminierten Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern.

 

Das europäische Menschenrechtssystem

Neben dem globalen System des Menschenrechtsschutzes existieren ferner diverse regionale Systeme, darunter etwa die sich auf die Länder Mittel- und Südamerikas erstreckende Amerikanische Menschenrechtskonvention oder die afrikanische Banjul Charta. Aus diesen Systemen sticht im Hinblick auf ihre Rechtsqualität, Breitenwirkung und Effektivität eines deutlich hervor: das europäische System, das heute aus zwei sich überlappenden und ergänzenden Komponenten besteht: dem System des Europarates und dem der Europäischen Union. Im Zentrum des ersten steht die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 (in Kraft seit 1953), die sich zwar nur auf die bürgerlichen und politischen Rechte erstreckt, aber durch eine Reihe weiterer Abkommen ergänzt wird, darunter die Europäische Sozialcharta (1961, 1965) und das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (1995, 1998). Das System der EU (bzw. ihrer Vorläufer) stützte sich ursprünglich ebenfalls auf die EMRK, findet heute noch eine weitere Fundierung durch die Grundrechtecharta (2000, 2009), die auch soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte einbezieht.

Insgesamt hebt sich das europäische System von anderen regionalen Systemen durch die folgenden Vorzüge ab: (1) Seine Grundlage bildet eine gelungene rechtliche Kodifikation der Menschenrechte in Gestalt der EMRK, der Grundrechtecharta und weiterer Abkommen. (2) Seine Wirksamkeit wird durch eine weitgehend unabhängige Gerichtsbarkeit garantiert, für die zwei Gerichte zuständig sind, deren Rechtsprechung zwar manchmal voneinander abweicht, im Wesentlichen aber doch harmoniert: (a) der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) des Europarats, der bei vermuteten Verstößen gegen die EMRK von den beteiligten Staaten wie auch von deren Bürger/innen angerufen werden kann und über deren Beschwerden bindende Entscheidungen trifft, welche jedoch von manchen Staaten mitunter nur zum Teil oder gar nicht umgesetzt werden; sowie (b) der Europäische Gerichtshof (EuGH) der EU, bei dem zwar nur die Bürger/innen der EU ihre Menschenrechte nach Erschöpfen des nationalen Instanzenzugs einklagen können, im positiven Fall aber ein durchsetzbares Urteil erwirken. (3) Die große Breitenwirkung des europäischen Systems verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, dass ein Kriterium für den Beitritt eines Staates zur Europäischen Gemeinschaft bzw. Union dessen sichtbare Achtung und Gewährleistung der Menschenrechte gemäß der EMRK war und ist – ein Umstand, der nicht wenige europäische Staaten veranlasst hat, ihre nationalen Rechtssysteme mit den menschenrechtlichen Anforderungen der EMRK zumindest bis zum Beitritt in die EG/EU in Einklang zu bringen.

In diesem Zusammenhang sollte auch ein weiteres System des internationalen Menschenrechtsschutzes regionalen Zuschnitts erwähnt werden, das gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Bürgerrechtsbewegungen in den real-sozialistischen Ländern in erheblichem Maße gefördert hat: das System der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und der daraus resultierenden Helsinki-Schlussakte (1975). In diesen Schlussakten hat der so genannte Ostblock im Interesse einer Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Westen eine Reihe von Rechten seiner Bürger/innen zugestanden, die deren Möglichkeiten des Reisens, der Meinungsäußerung, der Kommunikation mit dem Ausland und der kulturellen Betätigung sehr erweitert haben.

 

Realität und Ideal der Menschenrechte

 

Die triste Realität der Menschenrechte

Es ist offensichtlich, dass die skizzierten Systeme des Menschenrechtsschutzes, die heute in entwickelten Rechtsstaaten und im europäischen Raum existieren, zumindest die liberalen und politischen Rechte der Bürger/innen im Großen und Ganzen wirksam gewährleisten, während die sozialen und kulturellen Rechte, aber auch die Rechte von Fremden rechtlich schlechter gesichert sind. Es spricht ferner viel dafür, dass auch das globale Menschenrechtssystem nicht ohne jede Wirkung ist, auch wenn es schwer ist, den Grad seiner Wirksamkeit näher zu bestimmen, da man dafür wissen müsste, wie es mit den Menschenrechten ohne dieses System stünde. Dennoch bietet sich, wenn man den realen Zustand der Welt insgesamt in den Blick nimmt und ihn an den großartigen Ansprüchen menschenrechtlicher Proklamationen misst, ein ziemlich tristes Bild. Nicht nur werden diese Rechte in vielen Ländern notorisch missachtet oder sogar in gröbstem Maße verletzt, sondern sie finden in großen Teilen der Welt auch keine hinreichend effektive Förderung oder Unterstützung durch ein regionales oder das globale System. Betrachten wir die Missstände etwas näher, wozu es hilfreich ist, zwischen der nationalen und der internationalen bzw. globalen Ebene zu differenzieren.

Was die nationale Ebene betrifft, so reicht die Skala der menschenrechtlichen Defizite von horrenden Menschenrechtsverbrechen bis zu einer schleichenden Erosion erreichter menschenrechtlicher Standards. Über die schlimmsten, weil die fundamentalsten Ansprüche vieler Menschen verletzender Vorkommnisse berichten mit beunruhigender Regelmäßigkeit die Massenmedien. Immer wieder erfahren wir: dass irgendwo auf der Welt eine ethnisch motivierte Vertreibung einer Volksgruppe oder sogar ein Genozid geschieht; dass eine Regierung eine großflächige Verfolgungsaktion gegen oppositionelle Gruppen oder religiöse Minderheiten durchführt, indem sie deren Mitglieder töten, in Haft halten oder vertreiben lässt, Folterungen anordnet oder duldet und kritische Stimmen zum Schweigen bringt; dass manche Regierungen die Bewohner ganzer Landstriche um ihren Grund und Boden bringt, um ihn gegen bare Münze an ausländische Firmen zu verpachten; dass in vielen Weltregionen die Frauen in weitgehender Rechtlosigkeit und Abhängigkeit von ihren Vätern oder Ehemännern leben und im Fall ihres Aufbegehrens gnadenloser Bestrafung ausgeliefert sind; dass in manchen Ländern, darunter auch sehr reichen, wenig qualifizierte ausländische Arbeitsuchende von ihren Arbeitgebern mit dem Einverständnis des Staates in ausbeuterische und entwürdigende Arbeitsverhältnisse gedrängt werden, die den Charakter von Zwangsarbeit haben; dass viele der fremden Frauen in solchen Verhältnissen von ihren Arbeitgebern zu sexuellen Diensten genötigt und dann, wenn sie dafür nicht mehr von Nutzen sind, ohne Abfindung verjagt, ja nicht selten getötet werden; dass Scharen von Frauen aus armen Regionen von organisierten Zuhälter-Banden durch falsche Versprechen in reichere Länder gelockt und dort zur Prostitution gezwungen werden, wogegen die staatlichen Behörden dieser Länder nicht energisch genug einschreiten; und viele andere Dinge dieses Kalibers mehr.

Gegenüber diesen krassen Menschenrechtsverletzungen nehmen sich die in zahlreichen Staaten der Welt systematisch praktizierten Beschränkungen der bürgerlichen und politischen Freiheiten, vor allem der Meinungsäußerung, der Medien, der Vereinigung und Versammlung sowie der politischen Teilhabe, nahezu harmlos aus. Aber sicher sind diese Missstände ebenso ernst zu nehmen, da sie nicht nur von den betroffenen Menschen als gravierende Freiheitsverluste empfunden werden, sondern auch den Nährboden staatlicher Korruption bilden, die dann vielfach weitere und viel gravierendere Menschenrechtsverletzungen mit sich bringt. Doch auch in den Ländern mit einer soliden Rechtsstaatlichkeit und einem funktionierenden System des Menschenrechtsschutzes ist keineswegs alles in bester Ordnung. Denn in den meisten dieser Länder findet gegenwärtig eine schleichende Erosion dieses Systems in zweifacher Hinsicht statt: erstens, weil die erreichten Standards der Sicherung der sozialen und wirtschaftlichen Rechte unter dem Druck der fortschreitenden ökonomischen Globalisierung und im Sinne der sich damit zugleich verbreitenden neoliberalen Ideologie nach und nach abgesenkt werden, was auf keine großen Hindernisse stößt, da diese Rechte in den meisten nationalen Rechtssystemen nicht im Verfassungsrang stehen und auch nicht im Rahmen der internationalen Systeme einklagbar sind; und zweitens, weil die wachsenden Ströme von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten, die aus den von Kriegen, wirtschaftlichen Nöten und klimatischen Desastern geplagten Regionen des Südens in begünstigte Länder drängen, nicht nur deren Systeme der sozialen Sicherung in Bedrängnis bringen, sondern infolge des wachsenden Arbeitskräfteangebots überdies die Macht der Gewerkschaften schwächen und damit den Abbau wirtschaftlicher Rechte erleichtern.

Die ganz erheblichen Defizite des Menschenrechtsschutzes auf internationaler und globaler Ebene sind ebenfalls wohlbekannt. Sie bestehen, wenn man vom europäischen System absieht, zum einen in den Schieflagen und Verzerrungen der bestehenden Schutzsysteme durch die überwiegend von machtstrategischen Interessen beherrschte internationale Politik und zum anderen in der notorischen Schwäche und mangelnden Durchsetzungskraft dieser Systeme. Infolgedessen pflegen sich die Großmächte, deren Politik nicht selten krasse Verletzungen der Menschenrechte unterstützt oder sogar betreibt, weder durch die Regeln des globalen Schutzsystems noch durch kritische Äußerungen der zuständigen Institutionen beirren zu lassen, es sei denn, es handelt sich um Demokratien, deren Regierungen auf die öffentliche Meinung ihres Wahlvolks Rücksicht nehmen müssen. Und noch weniger pflegen sich die Regime waffenstarrender Despotien, die sich durch den Verkauf von natürlichen Ressourcen ihrer Länder finanzieren, um die Menschenrechte zu scheren oder von internationaler Kritik beeindrucken zu lassen. So werden von machtbesessenen politischen Führern immer wieder kriegerische Konflikte ausgelöst, durch die zahllose Menschen ums Leben kommen oder schwere Verletzungen an Leib und Seele erleiden, aus der Heimat vertrieben werden und zu einem elenden Dasein als unerwünschte Flüchtlinge verdammt sind.

Zu diesen skandalösen Missständen tragen aber mehr oder minder indirekt auch die entwickelten Rechtsstaaten bei, auch wenn sie sich in Sonntagsreden zur Universalität der Menschenrechte bekennen. Sie fördern nämlich die Existenz der sich in diversen Weltregionen behauptenden despotischen Regime schon insofern, als sie ihnen durch den Kauf dortiger Naturressourcen wie Erdöl oder Mineralien die finanziellen Mittel verschaffen, mit denen sich diese Regime in den entwickelten Staaten die Waffen beschaffen, die es ihnen erst ermöglichen, die Bevölkerungen der betreffenden Regionen gewaltsam zu unterdrücken und konkurrierende Warlords zu bekriegen. Ferner pflegen auch die entwickelten Rechtsstaaten stets dann, wenn es in ihrem Interesse liegt, auf ihre Souveränität zu pochen, wodurch sie zugleich das bestehende System der Staatensouveränität bekräftigen, welches Sanktionen gegen repressive und ausbeuterische Regime schwierig und das globale System des Menschenrechtsschutzes machtlos macht. Und schließlich spielen gerade auch die wohlhabenden demokratischen Staaten des Nordens bei internationalen und globalen Handelsabkommen ihre größere Verhandlungsmacht immer wieder gegen die Entwicklungsländer aus, um aus dem Welthandel möglichst großen Vorteil zu ziehen, oft zum Schaden vieler dieser Länder, deren Wirtschaftsleistung in der Folge eher sinkt oder stagniert statt zu wachsen.

Diese Befunde legen die Schlussfolgerung nahe, dass die vielfältigen Defizite des gegenwärtigen Zustands weder allein auf Mängel der rechtlichen Sicherung der Menschenrechte, noch bloß auf deren Missachtung durch viele nationale Regierungen zurückzuführen ist, sondern wesentlich auch im bestehenden Weltsystem mit seinen großen politischen Machtunterschieden, ökonomischen Ungleichheiten, zwischenstaatlichen Interessenkonflikten und rechtlichen Unebenheiten wurzeln. Diese Schlussfolgerung sollte jedoch nicht zu einer resignativen Haltung gegenüber den bestehenden Missständen verleiten, weil man damit überhaupt jede sich vielleicht einmal bietende Chance verspielen würde, die bestehenden Verhältnisse nach Möglichkeit zu verbessern. Es ist daher sicher lohnend, darüber nachzudenken, wie ein Idealzustand einer weltweitenden Gewährleistung der Menschenrechte aussehen könnte.

 

Ein Ideal des globalen Menschenrechtsschutzes

Wie die rechtliche Verfassung einer globalen Ordnung, die die Menschenrechte überall auf der Welt garantiert, aussehen könnte, ist gar nicht schwer zu sagen. Denn dafür kann das europäische System durchaus als Modell dienen. Wenn es gelänge, ähnliche regionale Systeme in allen Weltteilen zu etablieren und diese überdies durch ein einigermaßen ausgewogenes und wirksames globales System zu stärken, dann wäre viel gewonnen.

Doch das Projekt, eine solche Ordnung zu realisieren, kann nur in Verbindung mit einer tiefgreifenden Reform des bestehenden Systems der internationalen Beziehungen in Richtung auf deren gerechtere Gestaltung gelingen. Dazu ist freilich eine Vorstellung internationaler und globaler Gerechtigkeit vonnöten, über die jedoch keine Einigkeit besteht. Die diesbezüglichen Auffassungen reichen von der Utopie eines nach dem Vorbild eines föderalen Nationalstaats verfassten Weltstaats, der über ein globales Gewaltmonopol verfügt und die Menschenrechte überall auf der Welt wirksam gewährleistet, bis zum Projekt einer Rückkehr zum klassischen System vollsouveräner Nationalstaaten, die ohne Einmischung von außen schon in ihrem eigenen Interesse die Rechte ihrer Bürger/innen achten. Darauf soll hier aber nicht weiter eingegangen werden. Im vorliegenden Kontext genügt es, einige grundlegende und selbstverständliche Erfordernisse der Gerechtigkeit in Erinnerung zu rufen, aus denen sich relativ einfache Richtlinien für eine Reform des bestehenden Weltsystems ergeben. Zu diesem Zweck sind mehrere Arten der Gerechtigkeit, die sich auf verschiedene Felder des sozialen Handelns beziehen, zu unterscheiden, nämlich Tausch-, politische, distributive und korrektive Gerechtigkeit.

Die Tauschgerechtigkeit bezieht sich auf Tauschverhältnisse, also bilaterale Vertragsgeschäfte, von denen sie verlangt, dass sie dem allseitigen Vorteil der beteiligten Parteien dienen, wozu sie von diesen unabhängig von möglichen Ungleichheiten ihrer sozialen Macht aus freien Stücken in Kenntnis der dafür relevanten Informationen geschlossen werden müssen. Dass der internationale Wirtschaftsverkehr diesem Erfordernis nicht genügt, ist dank der verbreiteten Kritik am bestehenden Welthandelssystem weithin bekannt und wird auch von den allermeisten Anhängern des Freihandels nicht bestritten. Die sich daraus ergebenden Ungerechtigkeiten des Weltwirtschaftssystems, die nicht zuletzt auch zu den wachsenden ökonomischen Ungleichheiten unserer Welt beitragen, ließen sich in technischer Hinsicht leicht verringern, wenn die reichen Länder in ihren Wirtschaftsbeziehungen mit ärmeren Regionen nicht bloß ihre eigenen nationalen Interessen, sondern vielmehr das gemeinsame Interesse aller Völker an wirtschaftlicher Wohlfahrt verfolgen würden.

Die politische Gerechtigkeit hat Herrschaftsverhältnisse zum Gegenstand und verlangt, dass mit Befehlsgewalt verbundene Herrschaft über andere Menschen, so auch jede rechtliche Gewalt, nur dann und insoweit ausgeübt werden darf, wenn und soweit sie unparteiischen Regeln folgt und im vernünftigen Interesse der Beherrschten liegt. Es ist evident, dass die existierenden internationalen Machtverhältnisse, aber auch die unausgewogenen Entscheidungsverfahren der Institutionen der Vereinten Nationen zu diesem Erfordernis in Widerspruch stehen. Und darauf ist nicht zuletzt auch die ungleiche Verhandlungsmacht der Staaten bei internationalen Abkommen zurückzuführen, die es den mächtigeren und reicheren Nationen erlaubt, den schwächeren oder ärmeren in allen möglichen weltpolitischen, wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Belangen ihren Willen aufzuzwingen. Obwohl es technisch sehr leicht möglich wäre, wenigstens die gröbsten Verzerrungen der Entscheidungsprozesse in den Institutionen der UNO, etwa im Sicherheitsrat, abzubauen, besteht heute wohl wenig Aussicht, dies auch politisch zu erreichen. Dennoch sollte man diesen Aspekt nicht aus dem Auge verlieren.

Die distributive Gerechtigkeit bezieht sich auf Gemeinschaftsverhältnisse und erfordert eine ausgewogene, d.h. für alle Gemeinschaftsmitglieder bei rechter Betrachtung akzeptable Verteilung gemeinsamer Güter und Lasten. Welche Güter und Lasten allen Völkern der Welt gemeinsam zukommen, ist zwar kontrovers, aber die folgenden zwei Dinge wird man wohl dazu rechnen können: zum einen die natürlichen Ressourcen unserer Welt (Meere, Bodenschätze, klimatische Gegebenheiten der Atmosphäre u.dgl.), sowie zum anderen die kulturellen und intellektuellen Errungenschaften der Menschheit (Kenntnisse, Technik, Bildungsgüter, Kunst). Hinsichtlich der Verteilung der sich auf diese Dinge beziehenden Rechte und Pflichten leidet das bestehende internationale System an erheblichen Ungerechtigkeiten: Während die reichen Nationen aus der rücksichtslosen Ausbeutung der Weltmeere und aus ihrer den Klimawandel forcierenden Lebens- und Wirtschaftsweise Nutzen ziehen, tragen die armen den Schaden davon; und während die vermögenden Länder sich die kostspieligsten Bildungssysteme und Forschungseinrichtungen leisten, um ihre wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zu fördern, fehlen vielen armen Völkern die Mittel, um allen Kindern eine elementare Grundschulausbildung zu ermöglichen. Eine gerechtere Verteilung der im Gemeineigentum aller Völker stehenden Natur- und Kulturgüter ließe sich technisch wiederum ohne große Schwierigkeiten bewerkstelligen: zum Beispiel durch eine Belastung aller wirtschaftlichen Aktivitäten mit den tatsächlichen Kosten ihrer schädlichen ökologischen Auswirkungen, und ferner durch eine ausreichende Direktfinanzierung von Schulen, Ausbildungsstätten und Forschungseinrichtungen in armen Ländern aus Mitteln, zu denen alle reichen entsprechend ihrer Wirtschaftskraft beitragen müssten.

Die korrektive Gerechtigkeit stellt auf Unrechtsverhältnisse ab, d.h. auf interpersonelle Verhältnisse im Gefolge eines von Beteiligten begangenen Unrechts, das nach einer Korrektur in Form einer angemessenen Strafe und/oder Wiedergutmachung verlangt. Die Geschichte der internationalen Beziehungen ist bekanntlich voll von großen Verbrechen, die einzelne Nationen bzw. deren Mitglieder im Auftrag und Einvernehmen mit der jeweiligen Staatsmacht gegen Angehörige oder Einrichtungen anderer Völker begangen haben, ohne jemals dafür irgendeine Art von Wiedergutmachung geleistet zu haben. Zu diesen in der Vergangenheit liegenden Verbrechen kommt aber noch das andauernde Unrecht, das vielen Völkern durch die erwähnten Ungerechtigkeiten ständig zugefügt wird. Dennoch dürfte es aus pragmatischen Gründen ratsam sein, nicht allzu sehr auf die korrektive Gerechtigkeit zu pochen, weil die Entschädigungen, die sie erfordern mag, kaum zu beziffern sind und weil die Heraufbeschwörung früherer Verbrechen einzelner Nationen eher internationale Konflikte schürt als eine Versöhnung der beteiligten Völker herbeiführt. Die Erinnerung an solche Verbrechen kann aber vielleicht als ein Zusatzargument dienen, das die aus den anderen Ungerechtigkeiten resultierenden Ansprüche stärkt.

Nimmt man alle diese Erfordernisse internationaler und globaler Gerechtigkeit, von denen jede für sich allein als relativ moderat erscheinen mag, zusammen, so ergibt sich ein durchaus gehalt- und anspruchsvolles Ideal einer gerechten Weltordnung, in der die Menschenrechte nicht nur dem Namen nach, sondern auch in der Realität universelle Geltung erlangen könnten. Dieses Ideal hat überdies den Vorzug, dass man sich ihm auch graduell durch viele kleine Schritte annähern kann, die zumindest partielle Verbesserungen der Lage der Menschenrechte bringen, auch wenn das ideale Endziel wohl unerreichbar bleibt.

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Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 19.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob III
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 26.01.2026
Shutterstock/Alexandros Michailidis
Ordo-socialis-Preis 2025 an Sylvie Goulard
Politische Strategien gegen die radikale Rechte in Europa
Dienstag, 27.01.2026
Ministerie van Buitenlandse Zaken/Wikimedia Commons
Menschenrechte verteidigen!
Auf der Suche nach einer Gesamtstrategie
Mittwoch, 28.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob IV
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 02.02.2026
naturalista_Canva
Aufklärung und Religion
Historische Tage 2026
Donnerstag, 19.02. - Samstag, 21.02.2026
HAI LATTE von Carsten Strauch, Piotr J. Lewandowski
Augenblicke
Die Kurzfilmrolle 2026
Donnerstag, 26.02.2026