Einleitung
„Sehr leicht ists zu beweisen, dass der Papst nicht der Oberste und das Haupt der Christenheit sei, oder Herr der Welt, über Kaiser, Konzile und alles, wie er in seinen Drecketalen lügt, lästert, flucht und tobt, so wie ihn der höllische Satan treibt. (…) Dies ist allererst die allerärgste Grundsuppe aller Teufel in der Hölle, dass er solche Gewalt dahin ausdehnt, dass der Papst macht haben will, Gesetze und Artikel des Glaubens aufzustellen, die Schrift (welche er nie gelernt, nicht kann, auch nicht wissen will) nach seinem tollen Sinn zu deuten.“ So legte Martin Luther 1545 in seiner Schrift „Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet“ seine Abneigung gegen das Papsttum dar.
Der Theologe Thomas Söding hat jüngst davon gesprochen, dass Luther das individuelle Gewissen und damit auch das Individuum gegenüber der Gemeinschaft gestärkt habe, aber: „Er hat darüber die einheitsstiftende Kraft des Papsttums und der Bischöfe unterschätzt“. Um diese Einheitsstiftung in ihren verschiedenen Facetten soll es im Folgenden gehen.
Das Papsttum ist eine Institution, die Antike, Mittelalter und Neuzeit bis heute verbindet. Rom war die Hauptstadt des alten römischen Reiches gewesen. Die seit der Spätantike entwickelten Führungsmöglichkeiten des römischen Bischofs ließen sich auf unterschiedliche Weise umsetzen. Die Spannung zwischen Charisma und Institutionalisierung, die viele große Religionen kennzeichnet, kann am römisch-päpstlichen Beispiel ausgesprochen gut studiert werden. Bis heute stellte die Tendenz zur Institutionalisierung immer wieder charismatische und weitere, oft gegenläufige Entwicklungen in den Schatten. Bei den Päpsten lässt sich diese Spannung ebenso mit den Begriffen Person und Amt andeuten: Neben den charismatischen Seelenführer konnte der effektive Verwalter treten. Strömungen wie die Armutsbewegungen, welche die im Laufe der Zeit immer stärker institutionalisierte Form des römischen Papsttums in Frage stellten, wurden von der Institution integriert oder abgelehnt. Häufiger kam es jedoch zu Anverwandlungen und Hybridisierungen. Welche Prozesse waren dabei einheitsstiftend beziehungsweise erzeugten gegenläufige Entwicklungen? Die Einheit des lateinischen Westens bestand nämlich keinesfalls gleichförmig, sondern musste errungen werden und konnte ebenso verloren gehen. Ich erläutere dies für die Zeit des Mittelalters in fünf Beispielen, klammere dabei aber die Trennung zwischen Ost- und Westkirche aus.
Papst Gregor I. (590-604) an der Wende von der Spätantike zum Mittelalter
Die Schriften Papst Gregors I. (590-604) wurden im Mittelalter am häufigsten überliefert und zitiert; auch deshalb ist der Pontifikat Gregors I. für die frühmittelalterliche Papstgeschichte zentral. Gregor stammte aus einer alten römischen Senatorenfamilie, aus der auch schon Felix III. (483-492) und Agapit I. (535-536) zu Päpsten erhoben worden waren. Gregor wurde 573 Stadtpräfekt, bereits sein Vater hatte als Verwaltungsbeamter einer der sieben Regionen Roms Verantwortung für die Stadt übernommen. Gregors Horizont prägte die Entsendung als päpstlicher Vertreter (Apokrisiar) nach Byzanz 579. Zuvor hatte er einige Klöster gegründet, bekannt ist S. Andrea auf dem Monte Celio in Rom, wo er selbst als Mönch eintrat.
Trotz einer insgesamt starken römischen Orientierung stand Gregor zugleich in einer weiter gespannten, spätantik-mediterranen Tradition. So machte er sich während seines Aufenthaltes in Byzanz Erzbischof Leander von Sevilla (578-600), der in Spanien den Übertritt der Westgoten vom Arianismus zum Katholizismus vorbereitete, zum Freund.
Ein hohes kirchliches Amt als Papst oder im päpstlichen Umfeld zu übernehmen, war in alten Senatorenfamilien attraktiv und üblich. Ebenso hatten aber auch die asketisch-monastischen Traditionen in Rom verstärkt seit dem 5. Jahrhundert ihren Raum.
Von Gregor I. ist als erstem Papst des Mittelalters ein Register bzw. eine Registerabschrift erhalten, in der 854 Schreiben des Papstes überliefert sind. Unter einem Register versteht man die Zusammenstellung des Briefausganges einer „Behörde“ in zusammenfassenden oder gekürzten Einträgen. Diese bei Gregor erkennbaren frühen Spuren der Registerführung zeigen, wie ernst man in Rom Fragen der Archivierung nahm. Mit ihr schuf man zugleich ein institutionelles Gedächtnis.
Aber war Gregor auch Theologe? Neben zahlreichen Bibelkommentaren und Predigten werden ihm auch die Dialogi zugeschrieben, gesammelte Erzählungen und Wundergeschichten, die das Wirken Gottes in der Welt dokumentieren sollten und so auch die Entwicklung christlicher Mirakelberichte prägten. Er schuf mit diesen Schriften einen Fundus, der viele komplizierte Glaubensinhalte vereinfachte und didaktisierte. Dabei stand er durchaus in der Welt, nahm die Strömungen seiner Zeit auf, wie die von Gregor schon zu Beginn seines Pontifikates verfasste regula pastoralis verdeutlichen kann, die in vier Teilen die Aufgaben eines (Seelen-)Hirten beschreibt.
In diesem Werk wurde das Bild eines idealen Bischofs – und damit auch des Bischofs von Rom – in Anlehnung an den Abt in der Benedikt- und anderen monastischen Regeln entworfen. Die Bezeichnungen abbas und papa benennen auch aus dieser Perspektive nur zwei Seiten einer gleichen Medaille. Gregors Hirtenregel reagierte zudem auf die Situation der Bischöfe in Italien am Ende des 6. Jahrhunderts und sicherte kirchliche Herrschaft. Diese Ausrichtungen entsprachen der Zeit an der Wende von der Spätantike zum frühen Mittelalter und Gregor verschickte seine Regel in die westliche Welt, wie Handschriften und andere Indizien belegen.
Gregor schuf damit eine breit rezipierte Literatur, die manche augustinischen Vorstellungen erst „volkstümlich“ machte, das lateinische Schrifttum pädagogisierte und die Praxis in den Vordergrund rückte. Erscheint dies vielleicht aus klassisch-philologischer Perspektive als stilistischer „Niedergang“, so prägte sein Vorgehen und Schriftgut doch das mittelalterliche Christentum. Gregor der Große erscheint so gleichzeitig durch charismatische wie auch institutionalisierende Fähigkeiten ausgezeichnet, seine theologischen Schriften verdeutlichen dies auf der einen Seite, seine Registerbriefe, die auch Gregors Aufgaben als Stadtherr und politischer Akteur über die Stadtgrenzen hinaus dokumentieren, auf der anderen. Mit seiner Orientierung am Mönchtum und an den städtisch-römischen Traditionen schuf er eine vereinheitlichende Grundlage, die auch künftig an vielen Orten im lateinischen Westen als Richtschnur angesehen wurde.
Rom ein besonderer Bischofssitz? Die Diskussionen um Papst Formosus (891-896)
Wie kam es aber zu einer weiteren Zentrierung? War Rom ein Bischofssitz wie andere oder ein herausragender Sitz? Im 9. Jahrhundert gab es einige Päpste, die immer wieder auf Anfragen in allgemeiner Form reagierten, dazu gehören vor allem Nikolaus I. (858-867) und Johannes VIII. (872-882). Regino von Prüm vergleicht in seiner Chronik, die er am Ende des 9. Jahrhunderts verfasste, Papst Nikolaus I. mit Gregor dem Großen, denn seit diesem Papst habe keiner mehr diesem gleich gehandelt; Königen und Tyrannen habe er Einhalt geboten und Autorität gleichsam wie ein Herr der Welt gezeigt, gegenüber Klerikern sei er freundlich und mild gewesen, nur den vom rechten Pfad Abweichenden sei er mit Strenge begegnet. Deshalb könne man an einen zweiten Elias denken, der im Geiste erstanden sei. Waren dies Primatsvorstellungen avant la lettre, deren Entfaltung durch das sogenannte „dunkle“ 10. Jahrhundert nur unterbrochen wurde?
Der 891 zum Papst erhobene Formosus war nicht unumstritten, denn nach dem Pontifikat Nikolaus’ I., den er bei zahlreichen Aktivitäten unterstützt hatte, soll der Bischof von Porto (bei Rom) in diverse Verschwörungen verwickelt gewesen sein. Er wurde deshalb 876 auf einer Synode verurteilt, 883 wieder rehabilitiert und erneut in das Bistum Porto eingesetzt. Seine Inthronisation auf den römischen Bischofssitz 891 stellte aber ein kirchenrechtliches Problem dar, denn grundsätzlich war der Wechsel von einem Bischofssitz auf einen anderen verboten, weil ein Bischof die ihm anvertraute Gemeinde nicht verlassen dürfe. Ausnahmen waren nur in Notsituationen erlaubt, wobei die Ausnahmeregel im Einzelfall Raum zu Diskussionen bot, die nach dem Tod des Formosus entsprechend begannen.
Sein Nachfolger, Papst Stephan VI. (896-897), klagte Formosus an, ließ sogar dessen Leiche exhumieren und in einem Schauprozess verurteilen. Der tote Papst wurde seiner Pontifikalgewänder beraubt und seine Leiche in den Tiber geworfen. Rechtlich ließ sich dem toten Papst vorwerfen, dass Ehrgeiz, nicht Not zum Wechsel des Bistums geführt habe. Weil es aber in den späteren Streitschriften zugleich darum ging, ob die von Formosus geweihten Kleriker ihre Ämter weiter ausüben dürften, ist zu vermuten, dass wichtige Gruppierungen in Rom und dem Umland einander gegenüberstanden, deren Bezeichnungen als Formosianer und Antiformosianer weitere (machtpolitische) Interessensfelder verdecken.
So war auch Stephan VI. selbst vor seiner Erhebung zum Papst an anderer Stelle Bischof gewesen. Die Reihe der folgenden, meist sehr kurzen Pontifikate lässt ein Bild Roms erkennen, das durch Auseinandersetzungen und Grabenkämpfe gekennzeichnet war. Insgesamt hatten von 896–904 sieben Päpste die Cathedra Petri inne, viele starben keines natürlichen Todes. Von Einheit oder Integration schien man in dieser Zeit des Streites weit entfernt.
Die Streitigkeiten um das Translationsverbot des Formosus brachten aber langfristig für die Papstgeschichte einen entscheidenden Wendepunkt, der gut zeigt, wie aus Krisen Neues hervorgehen kann. Wenn im Laufe des 10. Jahrhunderts nicht mehr darüber diskutiert wurde, ob ein Vertreter der römischen sedes zuvor an anderer Stelle Bischof gewesen war, dann wurde offensichtlich inzwischen akzeptiert, dass der römische Stuhl eben ein ganz besonderer, herausgehobener Bischofssitz geworden war, auf den man auch trotz früherer kirchenrechtlicher Verbote von einem anderen Bischofssitz wechseln konnte.
Ein Rechts- und Kulturraum Europa
Die Umbruchszeit der Kirchengeschichte, die man zu Unrecht mit der verkürzenden Bezeichnung „Investiturstreit“ versehen hat, führte zu zahlreichen weiteren, wichtigen Entwicklungen. Diese „papstgeschichtliche Wende“ war auch dadurch gekennzeichnet, dass Päpste nun nicht mehr nur auf die Anfragen aus dem Orbis christianus reagierten, sondern selbst handelten und damit zugleich Prägungen Europas förderten.
Die zentrale Bedeutung der Papstkirche entwickelte sich dabei aus einem Entwicklungsvorsprung, der neben theologischen Neubestimmungen auch Verwaltung, Recht und andere Bereiche betraf. Die in der Folge erkennbare Ausstrahlung Roms sowie die Mittel der Durchdringung großer Gebiete Europas in unterschiedlicher Form durch das Papsttum sind besonders im letzten Jahrzehnt wiederholt untersucht worden.
Studien über die Leistungsfähigkeit der päpstlichen Kanzlei haben die prägende Kraft dieser „Behörde“ in ganz Europa im 12. Jahrhundert deutlich gemacht und zugleich die Bedeutung der Papsturkunde herausgestrichen. Schon das einheitliche Aussehen der Urkunden besticht. Besonders wichtig wurden die Legaten und delegierten Richter, die das in verschiedenen Werken gesammelte Kirchenrecht im gesamten lateinischen Westen anwandten und zugleich verbreiteten. Sie verschafften damit zugleich dem im 12. Jahrhundert wiederentdeckten römischen Recht in ganz Europa Einfluss. In Rechtsverfahren wurde ein einheitlicher Kultur und Rechtsraum geschaffen, in dem das ius commune Bedeutung erlangte. Einheitliche rechtliche Verfahren und eine verbindliche lateinische Terminologie in ganz Europa verdanken sich diesem päpstlichen und römischen Wirken.
Dieser Prozess der Vereinheitlichung war aber auch von Kritik begleitet, denn dies alles ließ sich nicht ohne Verwaltung und Finanzen realisieren. So entstanden beispielsweise satirische Schriften, die die angebliche Geldgier der Reformpäpste thematisierten.
Die Zentrierung wurde nicht nur in Rom geschaffen und entstand auch keinesfalls ohne Wechselwirkungen. Seit der Vertreibung Gregors VII. aus Rom 1084 und seinem Tod 1085 waren dessen Nachfolger teilweise abgeschnitten von den Institutionen in Rom, wo die ‚Gegenpäpste‘ lange Zeit herrschten. Der schon bald zum Papst erhobene Cluniazensermönch Urban II. 1088 sollte allerdings mit großer Kraft aktiv werden, um sein als legitim betrachtetes Papsttums auch zu finanzieren. Er musste weitgehend außerhalb Roms agieren, dürfte aber diesen Standortnachteil wettgemacht haben, indem er sich häufig und stark auf monastischen Gemeinschaften, vor allem auf Cluny, stütze. Auch die neu strukturierte päpstliche Kammer verdankte dabei viel den Vorbildern aus Cluny. Im strukturellen Bereich dienten monastische Gemeinschaften mit ihren Vestararen, Kämmerern und ihrer Güterverwaltung als Modell für die größere Kirchengemeinschaft. Zwei Dinge sind festzuhalten: Die päpstliche Kammer entstand außerhalb Roms und Urban II. nutzte Erfahrungen monastischer Gemeinschaften zur Zentrierung der Gesamtkirche. Rom nahm also vielfach Entwicklungen im lateinischen Westen auf und vereinheitlichte dann durch Verbreitung.
Übersteigerter Machtanspruch – von Innozenz III. zu Bonifaz VIII.
Das 13. Jahrhundert bietet die Formulierungen ausgesprochen exklusiver Zentrierung, die sich seit Innozenz III. (1198-1216) und dem vierten Laterankonzil 1215 beobachten lässt. Die Zentrierung kann an der Bulle Unam Sanctam von Papst Bonifaz VIII. verdeutlicht werden, die dieser 1302 erließ, kurz bevor die Avignonesische Zeit des Papsttums begann. Es war der Papst, der auch erstmals ein römisches heiliges Jahr mit der Möglichkeit zum Plenarablass im Februar 1300 verkündete. In Unam sanctam heißt es:
Eine heilige katholische apostolische Kirche müssen wir im Gehorsam des Glaubens annehmen und festhalten. […] und außer ihr gibt es kein Heil und keine Vergebung der Sünden. […] Von dieser einen und einzigen Kirche also gibt es nur einen Leib und ein Haupt, Christus nämlich und Christi Stellvertreter, Petrus und Petri Nachfolger […] Sagen also die Griechen oder andere, sie seien Petrus und dessen Nachfolgern nicht übergeben, so müssen sie auch bekennen, dass sie zu den Schafen Christi nicht gehören[…]
Beide Schwerter hat die Kirche in ihrer Gewalt, das geistliche und das weltliche. Dieses aber ist für die Kirche zu führen, jenes von ihr. […] Dass aber die geistliche Macht an Würde und Adel jede weltliche überragt, müssen wir umso freier bekennen, als überhaupt das Geistliche mehr wert ist als das Weltliche. Das ersehen wir auch deutlich aus dem Regiment in der Welt. Denn in Wahrheit: Die geistliche Macht hat die weltliche einzusetzen und ist Richterin über sie, wenn sie nicht gut ist.
[…] Wer sich also dieser von Gott so geordneten Gewalt widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung… So erklären wir denn, dass alle menschliche Kreatur bei Verlust ihrer Seelen Seligkeit untertan sein muss dem Papst in Rom, und sagen es ihr und bestimmen es.
Das Verhältnis von Kirche und Staat war damit keineswegs langfristig festgelegt, denn die Diskussionen hierüber bestimmten das ganze späte Mittelalter.
Rückzug in den Humanismus?
Dies hatte seinen Preis, denn nach der Zeit in Avignon und dem Schisma von 1378-1417 mit zwei oder drei Päpsten kann keinesfalls von einer Einheit der lateinischen Welt geredet werden. War das Papsttum vor der Reformation wirklich so reformunfähig wie oft behauptet? Die Päpste dieser Zeit waren anders orientiert als wir heute erwarten: Sie förderten seit der Mitte des 15. Jahrhunderts Humanismus und Renaissance, suchten ihren Platz in Italien, und sie begleiteten den Prozess der Europäischen Expansion. Natürlich gab es nach dem Großen Abendländischen Schisma am Beginn des 15. Jahrhunderts große Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Konzil und Papst und die Beschränkung der päpstlichen Vollgewalt. Dass in diesen Zeiten auch die Geschichte einer Päpstin Johanna, die im 13. Jahrhundert erstmals fassbar ist, für alle möglichen Argumentationen herangezogen wurde, ist vielleicht ein deutliches Indiz.
Die Legende berichtet von einer Frau, die in der Mitte des 9. Jahrhunderts den Papstthron in Männerkleidern bestiegen haben soll, dann aber durch die Niederkunft bei einer Prozession entlarvt wurde. Die Geschichte ist sicher bekannt, wenn auch die Romanfassungen oder der Film von Sönke Wortmann hier sicher noch einiges hinzuerfunden haben.
Wichtig bleibt aber, dass die Geschichte argumentativ eingesetzt wurde. Dietrich von Nieheim († 1418) wollte mit dem Pontifikat einer Päpstin belegen, dass eine Papstwahl durchaus ungültig sein könne. Andere Stimmen beriefen sich auf das Beispiel der Päpstin, um zu zeigen, dass die Kirche ohne einen Papst Sicherheit und Orientierung verliere.
Die Zeit des Großen Abendländischen Schismas und der anschließenden Konzilien von Konstanz und Basel haben nicht nur Europa, sondern auch Entwicklung und Stellung des Papsttums nachhaltig geprägt. Schon nach 1378 erwies sich, dass die Nutzung der zur Verfügung stehenden Mittel für die jeweiligen Parteien entscheidend werden konnte. Dies führte unter anderem dazu, dass Urkundenausstellung, finanzielle Erfassung, Allianzen und Netzwerke zunehmend wichtig wurden. Der steigende Finanzbedarf dürfte auch den Verkauf von Ablässen gefördert haben.
In geistesgeschichtlicher und kirchlicher Hinsicht waren die großen Konzilien von Konstanz und Basel wegweisend, denn hier wurde über das Verhältnis von Gläubigen, Klerus und Papst nachgedacht und Reformpläne geschmiedet. Die Anregungen der Konzilien sollten die Verhältnisse von Reichen und Päpsten künftig prägen. Zwar traten in Italien die Reformgedanken nach dem Baseler Konzil in den Hintergrund, nicht aber notwendigerweise in anderen Gebieten.
Einheit kann aber auch durch Abgrenzung gefördert werden, jedenfalls konnte man es versuchen. Der Humanist Aeneas Silvio Piccolomini, als Papst Pius II. (1458-64), zeigt, dass sich humanistische Interessen und Türkenabwehr nach dem einschneidenden Verlust Konstantinopels von 1453 nicht ausschließen mussten. Er berief schon kurz nach seiner Erhebung, am 12. Oktober 1459, einen Kongress nach Mantua. Rhetorisch glänzte er dort mit einem Kreuzzugsaufruf. Seit Konstantins Zeiten, so der Papst, habe die Kirche keine größere Bedrohung als die durch die Türken erlebt. Allerdings blieb es weitgehend bei Rhetorik, eine Aktion kam nicht zustande. Ob er die anstehenden Probleme auf diplomatischem Wege lösen wollte, ist unsicher. In einem Brief von 1461 schreibt Pius an Sultan Mehmed II.:
„Wir glauben nicht, Du entbehrest so völlig der Kenntnis unsrer Lage, dass Dir entginge, wie groß die Macht des Christenvolkes ist […].
Wenn Du unter den Christen Dein Reich ausbreiten und Deinen Namen mit Ruhm bedecken willst, dann hast Du nicht Gold, nicht Waffen, nicht Heere und nicht Flotten nötig. Ein kleines Ding jedoch kann Dich unter allen, die heute leben, zum Größten, Mächtigsten und Herrlichsten machen. Du fragst, was es sei. Es ist nicht schwierig zu finden und zu suchen nicht weit. In aller Welt kann man es haben: es ist ein Wassertröpfchen, womit Du Dich taufen lassest, Dich zu den Heiltümern der Christen wendest und an das Evangelium glaubst. Tust Du das, so ist kein Fürst auf dem Erdkreis, der Dich an Ehre überträfe oder an Macht Dir gewachsen wäre. Wir werden Dich Kaiser der Griechen und des Ostens heißen, und was Du jetzt mit Gewalt einnimmst und zu Unrecht festhältst, besitzest Du dann zu Recht. […]“ Allerdings ist der Brief bis heute umstritten und es ist unklar, ob er überhaupt abgesandt wurde.
Praktische Schritte konnte Pius II. nicht mehr einleiten, obwohl er sich an die Spitze eines militärischen Unternehmens stellen wollte. Nachdem er 1464 schwerkrank nach Ancona gereist war, ereilte ihn vor dem Aufbruch der Flotte der Tod. Europäische Einigkeit blieb weiterhin schwierig: Auch die vom Böhmenkönig Georg Podiebrad (1458-1471) besonders in den Jahren 1462 bis 1464 gestartete Initiative zu einer europäischen Allianz gegen die Türken versandete in den Anfängen. Dies gilt mutatis mutandis auch für die Aktivitäten im Reich, die trotz verschiedener Aufrufe und Türkentage keinen langfristigen Erfolg zeitigten. Integrierende Symbolhandlungen wurden aber weiterhin unternommen. Als 1462 das Haupt des Apostels Andreas aus Patras (?) nach Rom kam, wurde es mit Gottesdiensten feierlich empfangen. Das von den Türken „vertriebene“ Apostelhaupt kam zu seinem „römischen“ Bruder Petrus.
Die Bemühungen der Päpste zeigen, wie die alten universalen Ansprüche noch weniger als früher durchgesetzt werden konnten. Weil sich das Papsttum den Herrschafts- und Lebensformen der italischen Mittelstaaten angepasst hatte, blieben auch in diesem Bereich die Handlungsmöglichkeiten in der praktischen Umsetzung eingeschränkt.
Vor diesem Hintergrund ist auch die päpstliche Reaktion auf die Eroberung von Granada 1492 zu sehen, denn die Katholischen Könige wurden unmittelbar nach ihrem Erfolg beglückwünscht und erhielten wenige Jahre später den Ehrentitel „Katholische Könige“.
Schon kurz nachdem Kolumbus am 4. März 1493 von seiner ersten Reise zurückgekehrt war, wurde in Barcelona ein Brief gedruckt, der die Neuigkeiten mit den neuen Druckmedien verbreiten sollte. Am 29. April desselben Jahres literarisierte der Gelehrte Leandro de Cosco in Rom den Brief und legte eine lateinische Fassung vor. Das in Basel gedruckte Exemplar erhielt illustrative Holzschnitte und wurde unter dem Titel De insulis inventis veröffentlicht.
In einer weiteren, neuen Ausgabe von 1494 wurde der Brief nun zusammen mit dem Drama Historia Baetica von Carolus Verardus gedruckt, das die Eroberung Granadas 1492 rühmt. In diesem Baseler Druck beglückwünschte der oberrheinische Humanist Sebastian Brant (1457-1521) den Doppeltriumph der spanischen Monarchie in Granada und bei der Westfahrt des Kolumbus, indem er König Ferdinand als Vorkämpfer der Christenheit rühmte.
Die Verknüpfung beider Erfolge Ferdinands und Isabellas blieb zukunftsweisend; auch viele Äußerungen der Renaissancepäpste folgten offensichtlich diesem Denkmodell: was 1453 im Osten verloren war, führte zu einem Gewinn im Westen.
Am Ende des Mittelalters: Luther oder Humanismus und Expansion?
Die im frühen und hohen Mittelalter bereits entwickelten päpstlichen Konzepte von Kreuzzug, Sarazenenkampf und Missionskonzepte wirkten zusammen, um auch den Herausforderungen in der Neuen Welt zu begegnen. Die Förderung der Europäischen Expansion war aber zugleich eine Konsequenz, die sich aus der Osmanischen Expansion ergeben hatte. Bernd Schneidmüller hat in seiner Geschichte Europas deshalb von einer „verkleinerten Christenheit“ und gleichzeitig von „Aufbrüchen aus Europa“ gesprochen. Jedenfalls stand der künftig „verkleinerten“ oder getrennten Christenheit in Europa eine Expansion des lateinischen Europa gegenüber, mit allen Vorteilen, Problemen und Verwerfungen, was langfristig Transformationsprozesse anregte.
Fast wirkt es so, als ob mit dem Renaissancepapsttum ein Tiefpunkt der Papstgeschichte erreicht war, insbesondere weil anschließend die Reformation ihre Anliegen maßgeblich mit einer Kritik am Papsttum verknüpfte. Auch diese Sicht urteilt allerdings vom Ergebnis her und vor allem aus einer deutschen Perspektive. Tiefpunkte der Papstgeschichte gab es auch in früherer Zeit, denkt man nur an das 10. Jahrhundert nach dem „Leichengericht“ des Formosus. Welche weiteren Aspekte einer historischen Umbruchsituation lassen sich also ausmachen, die es rechtfertigen, von einem Papsttum in einer Krise zu sprechen?
Der Ablass, den Papst Julius II. für den Bau der Peterskirche erlassen und den Leo X. danach erneuert hatte, war nur der Anlass für Luthers Thesen. Auch hier gab und gibt es Missverständnisse. Luther bezeichnete die Absicht des Papstes zwar noch als rechtens, nahm aber Anstoß an Deutungen der Ablassprediger, die Fehlinterpretationen hervorrief. Maßgeblich dazu bei trug das Verhalten Albrechts, 1513 Erzbischof von Magdeburg, dann seit 1514 Erzbischof von Mainz. Die Konfliktpunkte lagen somit zwar auch in Rom, aber mindestens ebenso sehr in lokalen Gegebenheiten.
Überdies hat jüngst der evangelische Kirchenhistoriker Berndt Hamm unter dem Titel „Ablass und Reformation – Erstaunliche Kohärenzen“ die gängige Konfrontation von Ablass und Reformation neu interpretiert und tiefgehende Gemeinsamkeiten zwischen der spätmittelalterlichen Ablassverkündigung und der reformatorischen Gnadenbotschaft unterstrichen. Dass die Gnade für jeden Einzelnen aber ausschließlich innerhalb der römischen Kirche zu erlangen sei, blieb in Rom seit der pointierten Feststellung in der Bulle Unam sanctam Bonifazʾ VIII. (1302) unverrückbar. Nur ein Missverständnis gilt es nachdrücklich immer wieder richtigzustellen. Ablass und Ablassfrömmigkeit sind deutlich von Ablasskauf und -handel zu scheiden, will man nicht die Polemiken des 16. Jahrhunderts zum Maßstab erheben.
Die Reformation war deshalb kaum die notwendige Konsequenz, die sich aus dem Zustand des Papsttums zur Zeit der Renaissance ergab. Mehr noch als die unter anderem von Luther benannten Missstände scheinen die veränderte politische Situation, die territoriale Beschränkung des Papsttums auf den Kirchenstaat, das Interesse an Italien im Reigen der dortigen Herrschaften dazu beigetragen zu haben, dass die Rufe der Päpste in vielen Ländern nicht mehr gehört und befolgt wurden, unabhängig davon, ob würdige oder unwürdige Vertreter die Cathedra Petri innehatten. Damit erweist sich die Zeit der Renaissance und des Humanismus als weiterer Wendepunkt eines universalen Papsttums, das zwar Kunst und Wissenschaft förderte, jedoch durch die Fixierung auf Italien die universalen Ansprüche teilweise sogar selbst aufgab, und zudem aufgrund der Mitgestaltung von Renaissance und Humanismus einen enormen Geldbedarf entwickelte. Einheit und Integration schienen nur noch in Ausnahmefällen – vor allem im Verbund mit den iberischen Reichen – zu funktionieren.
Durch das didaktische Schrifttum eines Gregors des Großen, den Prozess um Formosus, die Kritik an Urban II. zu den päpstlichen Finanzen, oder die Nähe der Päpste des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts zu Humanismus, Renaissance und Europäischer Expansion wird deutlich, wie unterschiedlich der päpstliche Beitrag zu Vereinheitlichung und Einheitsstiftung sein konnte. In antik-römischen Traditionen spielte Einheitsstiftung durch Verwaltung, Schriftlichkeit, Archivierung, Verfahren und Recht eine wesentliche Rolle. Ohne die Päpste wäre ein Rechts- und Kulturraum Lateineuropa nicht vorstellbar. Sollte man den anachronistischen Begriff „Kulturkatholizismus“ verwenden wollen, so könnte er die Päpste der Hochrenaissance besonders gut charakterisieren. Vielleicht waren sie mit Blick auf Kultur und neue Welten ihrer Zeit nur sehr weit voraus.