Kindheit und Jugend in Schweden
Bevor man sich der Biographie Ellen Ammanns nähert, sollte man einen kurzen Blick auf die schwedische Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts werfen. Frauenstudium und -arbeit waren dort längst Alltag, so auch im Hause Sundström in Stockholm, wo am 1. Juli 1870 Ellen Aurora Sundström geboren wurde. Mutter Lilly und Vater Carl Rudolf Sundström förderten die Entwicklung ihrer beider Töchter als Angehörige des Bildungsbürgertums durch den Besuch der höheren Mädchenschule. Als Lilly Sundström 1881 zum Katholizismus konvertierte, hatte dieser Wechsel natürlich auch Einfluss auf die religiöse Erziehung der Kinder. Obwohl protestantisch getauft, wurden sie im katholischen Glauben erzogen.
Nach dem Abitur 1888 verbrachte Ellen über ein Jahr zum Zwecke von Sprachstudien in Deutschland. In dieser Zeit entstanden auch erste Kontakte mit der Zentrumspartei und das Erleben katholischer Volksfrömmigkeit. Wieder zu Hause, erlernt Ellen auf Wunsch des Vaters und mangels Geldes für ein Medizinstudium die damals weltberühmte schwedische Heilgymnastik. Ihr eigener Wunsch, Geschichte zu studieren und Lehrerin zu werden oder gar in ein Kloster einzutreten, bleibt zurück.
Mit dem plötzlichen Tod des Vaters drückt die finanzielle Not die Familie noch stärker, so dass Dr. Ottmar Ammann zum Studium der Heilgymnastik als Untermieter bei den Sundströms in Stockholm einzieht. Die beiden verlieben sich; die Verlobung erfolgt am 4. April 1890. Ellen bricht daraufhin ihre Ausbildung ab und folgt für die Heirat ihrem Mann nach München. Dort wird sie auch „realiter“ katholisch.
Die frühen Münchner Jahre – erstes sozial-caritatives Auftreten
Als Ottmar Ammann in der Münchener Landwehrstraße eine orthopädische Privatklinik eröffnet, übernimmt seine Frau deren hauswirtschaftliche Leitung. Zwischen 1892 und1903 gebar Ellen Ammann fünf Söhne und eine Tochter. Legendär waren die Skiausflüge der ganzen Familie ins Dachauer Hinterland – Sport war im damaligen Bayern absolut unüblich. Ellen hatte zu Hause schon die eigene Mutter als Auslandskorrespondentin des Stockholmer Dagblatt erlebt, so ließ sie sich von den engen Normen der Einheimischen auch im weiteren Alltagsleben nicht so schnell binden. Damit erweist sie, aus dem fernen, frauenpolitisch längst viel weitsichtiger agierenden Schweden, sich den Bayern gegenüber immer wieder als „die Ausländerin“.
Ihre Biographin Marianne Neboisa weist darauf hin, dass Ellen Ammann gerade in ihrer Münchner Anfangszeit vieles lernen musste: „… ein flüssigeres Deutsch, außerdem alles, was die kulturellen, kirchlichen und politischen Verhältnisse in Bayern betrifft.“ Marie Buczkowska, eine Mitstreiterin im Katholischen Frauenbund, schreibt in einem Artikel zum 100. Geburtstag von Ellen Ammann im Juli 1970 in der Zeitschrift „Der Frauenbund – Frau im Leben“, dass Ellen Ammann in Bayern alles fremd war: „die Sprache, das Essen, die Berge“.
Vermutlich ist es gerade diese Fremdheit, die sich nicht am bayerischen Zeitgeist orientiert, sondern für den Alltag der bayerischen Frauen viele Grenzziehungen überwindet. Ellen Ammann prägt so das soziale, gesellschaftliche und politische Leben in Bayern über vier Jahrzehnte lang neu.
Mitbegründerin des Mädchenschutzvereins
Obwohl im Hause Ammann – wie auch schon zuvor im Elternhaus – immer wieder finanzielle Engpässe auftreten, engagiert sich Ellen Ammann stark ehrenamtlich im sozial-caritativen Bereich. Schon als 25-jährige ist sie 1895 wesentlich an der Gründung des „Marianischen Mädchenschutzvereins“ (heute IN VIA) beteiligt. Dieser kümmert sich mit Zufluchtsheimen und Lehrkursen um junge Mädchen, die vom Land in die Stadt ziehen, um eine Arbeitsstelle zu finden. Ziel des Marianischen Mädchenschutzvereins ist ein länderübergreifendes Hilfsnetz für junge, an fremden Orten alleinstehende und Arbeit suchende Mädchen aufzubauen. Die stadtunkundigen Landmädchen kommen häufig mit naiven Vorstellungen in München an. Oft werden sie schon am Bahnsteig von organisierten Händlerringen abgefangen und als rechtlose Arbeitskräfte in Fabriken oder als Prostituierte ins In- und Ausland verkauft. „Die Hässlichen in die Küche, die Schönen ins Stübchen“ – eine Personalstrategie, die wir heute noch genauso kennen… In Polizeiakten lesen wir, dass sich am Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofes die vornehmen Damen um Frau Hofrat Ammann einen erbitterten Kampf mit stadtbekannten Zuhältern geliefert hätten, bei dem die Damen der Gesellschaft Stöcke und Schirme als willkommene Kampfgeräte nutzten.
Gründung der Bahnhofsmission
Ellen Ammann erkennt, dass die vorbeugende Sozialarbeit bereits am Ankunftsort Bahnhof einsetzen muss, deshalb gründet sie in Zusammenarbeit mit dem evangelischen Verein der „Freundinnen junger Mädchen“ 1897 in München die erste katholische Bahnhofsmission. Kurz nach der katholischen Bahnhofsmission startet in der Landeshauptstadt auch die evangelische Bahnhofsmission. Der Anfang der katholischen Bahnhofsmission ist bescheiden: Ein Stuhl und ein kleiner Tisch mit abschließbarer Schublade in einer Ecke des südlichen Wartesaals am Gleis 11 auf dem Münchner Hauptbahnhof. Ellen Ammann und ihre Mitarbeiterinnen warten die Ankunft der Züge ab und sprechen die jungen Frauen vor den Schleppern an; sie informieren die jungen Leute kostenlos über geeignete Arbeitsstellen und Unterkünfte. Die Bahnhofsmission ist wie eine Schule für das spätere Wirken von Ellen Ammann. Hier lernt sie, zu organisieren, andere für ihr ehrenamtliches Engagement zu begeistern und in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Gerade letzteres fällt ihr anfangs nicht leicht, zumal sie rein äußerlich dazu auch nicht prädestiniert erscheint. Ellen Ammann wird von ihren Zeitgenossinnen als klein, zierlich, mädchenhaft und unscheinbar beschrieben, jedoch mit Hang zur „nordischen Vehemenz“. Die Frauenrechtlerin Lida Gustava Heymann charakterisiert Ellen Ammann in ihren Memoiren wie folgt: „In meiner langjährigen Bekanntschaft mit dieser Frau, die weder eitel war, noch ihre Taten jemals herausstrich, konnte ich wiederholt feststellen, wie wesentlich und ausschlaggebend ihre Initiative und Tatkraft in entscheidenden Augenblicken waren.“
Gratwanderung zwischen weiblicher Emanzipation und Tradition
Das offensive öffentliche Engagement der sechsfachen Mutter wird naturgemäß in der damaligen Gesellschaft nicht nur positiv gesehen: „Ellen Ammann musste sich gefallen lassen, dass manche Stimme gegen sie laut wurde; es sei unvereinbar mit den Pflichten einer Frau und Mutter, so viel in der Öffentlichkeit und für die Allgemeinheit zu wirken. Aber um solchen Tadel kümmerte sie sich nicht.“
„Die Frau gehört ins Haus“, das war lange der führende Leitsatz der bürgerlichen Elite in Deutschland. Ellen Ammanns Lebensweg folgt jedoch anderen Gesetzen. Theoretisch vertrat sie zwar ein patriarchalisch-christlich motiviertes Eheverständnis, aber praktisch und mit ihrem beispielhaften Handeln kritisierte sie vehement patriarchale Verhältnisse und hierarchische Strukturen. 1911 schreibt sie dazu: „Es ist dem deutschen Mann theoretisch sehr schwer zu beweisen, dass die Frauen gleich viel wert sind wie die Männer … Darum arbeiten wir praktisch und überzeugen die Männer von unserer Kapazität. Dann geben sie Schritt für Schritt nach.“ Ellen Ammann will also zeitlebens nicht gegen die Männer arbeiten, sondern mit ihnen.
Frauenrechtlerin mit großem Interesse an der Frauenbewegung
Gründung des Münchner Zweigvereins des Katholischen Frauenbundes
Aufgrund ihrer schwedischen Sozialisation bringt Ellen Ammann ein großes Interesse an der Frauenbewegung mit und verfolgt in der Presse aufmerksam alles, was die allgemeine Frauenbewegung betrifft: „Es sollte sich bald zeigen, dass unsere frauenbewegte Schwedin eine Aufgabe an den allzu konservativen Bayernfrauen zu erfüllen hatte.“ Ihre Herkunft aus Schweden trägt dazu bei, dass sie sich mehr traut als andere: „Es versteht sich, dass ich ein wichtiges Glied in der Kette bin, weil ich – nicht deutsch geboren – in Vielem freier denke als die Frauen hier.“
Bereits 1903 ist sie fest entschlossen, die katholischen Frauen in München zu einer großen Organisation zusammenzuschließen. Als sie erfährt, dass in Köln ein Katholischer Frauenbund gegründet werden soll, ist sie dabei, wartet zu Hause jedoch noch etwas ab. Erst im Herbst 1904 bereitet sie die Gründung eines Münchner Zweigvereins vor. Bei einer Veranstaltung des Marianischen Mädchenschutzvereins im Oktober 1904 hält der Kapuziner Pater Benno Auracher ein Referat über Frauenarbeit und Frauenwirksamkeit. Am Schluss dieser Rede fragt er die anwesenden Damen, welche Frau gewillt sei, in München einen Zweigverein des Katholischen Frauenbundes zu gründen. Was dann passiert, schildert Ammanns Erstbiographin Marie Amalie von Godin: „Im Schweigen aller etwas überraschten Anwesenden erhob sich schüchtern, zierlich und jung Ellen Ammann von ihrem Sitz. „Ich bin bereit“, sagte sie schlicht und Pater Auracher schloss die Versammlung mit der Ermahnung, ungesäumt ans Werk zu gehen.“
Als Migrantin und junge Frau muss Ellen Ammann nun mit offenem Widerstand kämpfen. Vor allem aus dem Vorstand des Mädchenschutzvereins meldet sich Protest; die zweite Vorsitzende wendet sich verärgert an die erste Vorsitzende Caroline von Hohenhausen: „Trachten Sie zu verhindern, dass Frau Ammann ganz unnötigerweise wieder einen neuen Verein ins Leben ruft, wo doch unser Mädchenschutz schon besteht und sehr wohl in der Lage ist, die nötige Aufbauarbeit zu leisten. Und überdies ist Frau Ammann als Ausländerin, durch ihre Jugend und auch in anderer Hinsicht, doch wirklich nicht die geeignete Persönlichkeit, eine solche Organisation zu schaffen und gar noch zu leiten.“
Dass solche Vorurteile keine Ausnahme waren, bestätigt Ellen Ammanns Erstbiographin Marie Amelie von Godin: „… so konnte man in jenen Tagen vielfach ähnliche Aussprüche zu hören bekommen. … diese kleine, zarte, unscheinbare Frau, deren Stimme kaum in einem mäßig großen Zimmer bis in die letzten Reihen der Anwesenden zu hören ist, soll die katholischen Frauen Münchens führen? Diese Ausländerin, die zwar fehlerfrei deutsch schreibt, im Sprechen aber doch noch immer gehemmt ist und in der Erregung sofort die Artikel zu verwechseln beginnt? Ist denn da wirklich nicht eine einzige Bayerin und Deutsche unter den vielen erprobten Vorsteherinnen unserer Vereine, die vor den Augen dieser Norddeutschen Gnade finden könnte?“ Mit „Norddeutschen“ sind die Damen des Bundesvorstandes des Katholischen Frauenbundes gemeint, der seinen Sitz in Köln hatte. Aber Pater Benno setzt sich unbeirrbar für Ellen Ammann ein. Und so wird sie schließlich zur Vorsitzenden des Zweigvereins gewählt.
KDFB wird unter Ellen Ammann in Bayern zur Volksbewegung
Der Katholische Frauenbund, dem bereits bei der Gründungsversammlung in München 339 Frauen beitreten, fußt in Bayern auf Bürgertum und Adel, wird aber bald zur Volksbewegung, was nicht zuletzt ein Verdienst von Ellen Ammann ist: „Im Frauenbund treffen sich die Frauen aller Stände als gleichberechtigte Mitglieder derselben großen Organisation, die sich zur Aufgabe gestellt hat, an der Lösung aller Probleme der Frauenfrage mitzuarbeiten.“ Ellen Ammann hat Geschick im Umgang mit Frauen aller Bevölkerungsschichten und Altersklassen. Trotz ihrer Bildung und ihres hohen Standes versteht sie die Sprache der Frauen des einfachen Volkes und setzt sich für ihre Nöte ein.
Viele Jahre vor Ausrufung der Republik setzt sie so in der eigenen Gründung demokratische Grundprinzipien um. Auch die gruppendynamischen Gesetzmäßigkeiten haben die Frauen im Katholischen Frauenbund intuitiv erfasst. Die Sache der Frauen sollte durch sie selbst verfolgt und organisiert werden, kein Mann dabei die eigenen Ideen in Frage stellen oder Bedenken einbringen. Die Damen wollen einen Frauenverein ohne Präses, in den Augen der Kirche ein Unding und unerhört in der herrschenden Gesellschaftsordnung, die Frauen weder Versammlungsrecht noch Universitätsbildung zugesteht. Da die katholische Kirche diesen so angelegten Verein nicht als „Katholischen Frauenbund“ erlaubt, einigte man sich in Köln 1904 auf einen Geistlichen als Beirat für die Frauen – allerdings ohne Stimmrecht. Denn ohne den klugen Rat eines Mannes ist den Herren von damals eine Frauenorganisation nicht vorstellbar.
Ellen Ammann schwebt die Zusammenfassung aller bayerischen und pfälzischen Zweigvereine zu einem schlagkräftigen Bayerischen Landesverband vor. Durch die zahlreichen Zweigvereinsgründungen stimmt schließlich die Zentrale in Köln diesem Ansinnen einer eigenen bayerischen Dachorganisation zu. Im Dezember 1911 wird der Landesverband des KDFB in Bayern gegründet und Ellen Ammann bleibt bis zu ihrem Tod im November 1932 seine Vorsitzende.
Ellen Ammann ist es wesentlich zu verdanken, dass Bayern – neben dem rheinisch-westfälischen Raum – als eine „Hochburg der katholischen Frauenbewegung“ bezeichnet werden kann.
Wegbereiterin für die professionelle Ausbildung der Sozialen Arbeit
Für Ellen Ammann war nach ihren Erfahrungen in der schwedischen Heimat ein Bildungszugang für Frauen schon von Jugend an Normalität, deshalb ist es für sie naheliegend, auch für deutsche Frauen und Mädchen diesen Anspruch einzufordern.
Ein wichtiges Anliegen von Ellen Ammann ist dabei, dass Frauen sich nicht nur ehrenamtlich und aus Nächstenliebe im sozial-caritativen Sektor engagieren, sondern dass ihre Arbeit auch professionelle Begleitung benötigt. Die von Ellen Ammann gegründete Münchner sozial-caritative Frauenschule war die erste und lange Zeit einzige katholische Ausbildungsstätte in Bayern für Frauen, die sich der sozialen und caritativen Arbeit aus beruflichem oder „nur“ ehrenamtlichem Interesse widmen wollten.
Hinter der Idee, Frauen für die Übernahme sozialer und caritativer Aufgaben professionell auszubilden, steht auch, damit ihre Berufstätigkeit zu fördern: „Soziale Arbeit darf nicht im Dilettantentum stecken bleiben, denn sie ist verantwortungsvolle Arbeit am Menschen, mehr wie jede andere.“ Ellen Ammann und ihre Mitstreiterinnen erkennen früh die Bedeutung einer soliden theoretischen und praktischen Ausbildung für die soziale Arbeit. Damit wird für Frauen außerhalb der Universität eine Ausbildungsstätte für soziale Berufe geschaffen. Für Mädchen und Frauen aus dem bürgerlichen Milieu gab es damals abgesehen vom Beruf der Lehrerin nicht allzu viele Möglichkeiten, einen qualifizierten und gesellschaftlich angesehenen Beruf zu ergreifen. Die Gründung der Sozialen und caritativen Frauenschule durch Ellen Ammann war ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit und ein wichtiger Beitrag zu einem wachsenden Selbstbewusstsein der Sozialberufe.
Ab Oktober 1909 bietet Ellen Ammann im Rückgebäude ihres Wohnhauses in der Theresienstraße 24 eine feste Abfolge von Kursen zu sozialen Fragen an. Ein breites Fächerangebot von Rechtswesen bis hin zur Säuglingspflege steht auf dem Stundenplan. Damit wird die sozial-caritative Frauenschule zum Grundstein für die älteste katholische soziale Frauenschule Bayerns. Ab 1912 wird daraus ein einjähriger Ausbildungslehrgang; 1916 wird dieser Lehrgang auf zwei Jahre ausgeweitet mit je einem Examen nach der Unter- und nach der Oberstufe. 1916 erhält die „Soziale und caritative Frauenschule des Katholischen Frauenbundes in Bayern“ die staatliche Genehmigung. Bereits 1918 erfreut sie sich über die Grenzen Bayerns hinweg großer Beliebtheit. Und es gibt sie heute noch, wenn auch in etwas veränderter Form: Die soziale und caritative Frauenschule ist die Vorläufereinrichtung der heutigen Katholischen Stiftungshochschule München.
Die sozial-caritative Frauenschule ist eines von Ellen Ammanns Lieblingswerken; bis 1925 leitet sie die Schule, bis zu ihrem Tod im November 1932 ist sie Schulvorstand; ihre letzte Unterrichtsstunde hält sie einen Tag vor ihrem Tod. Ellen Ammann gibt der Schule den Leitspruch „Caritas Christi urget nos“ (übersetzt „Die Liebe Christi drängt uns“) mit auf den Weg. Davon ist auch ihr persönlicher Einsatz als Lehrerin geprägt.
Ellen Ammann unterrichtet einmal wöchentlich das Fach „Frauenfrage und Frauenbewegung“. Diese Stunden zeigen ganz praktisch die unabdingbare Notwendigkeit des Zusammenschlusses der Frauen für gemeinsame Ziele auf und liefern so immer auch die Legitimation für den Katholischen Frauenbund: „In diesen Stunden verstand sie es, die missionarische Aufgabe des Frauenbundes den Schülerinnen so klar zu machen, dass jeweils eine bis vier Schülerinnen in den Dienst des Frauenbundes eintraten.“ Die erste, aus dem Kurs von 1916/18, ist Paula Huber, die Schwester des 1943 von den Nationalsozialisten hingerichteten Prof. Kurt Huber.
Wegen ihrer bescheidenen und uneitlen Haltung war Ellen Ammann bei ihren Schülerinnen äußerst beliebt: „Und wie hingen die Schülerinnen der ersten Jahrgänge, um die sie sich noch sehr persönlich annehmen konnte, an ihr: Sie war ihnen leuchtendes Vorbild, Verkörperung eines Ideals: wie man frauliches Wesen, tiefe Mütterlichkeit mit Sachlichkeit, Tatkraft und Dienst an der Öffentlichkeit vereinigen kann.“
Ellen Ammann hat mit ihrer Gründung wesentlich zur Professionalisierung weiblicher Sozialarbeit beigetragen und damit Pionierarbeit für den Beruf der Sozialarbeiterin bzw. Sozialpädagogin geleistet.
Ellen Ammann – Christliche Politikerin in der jungen Demokratie
Im Zuge der Novemberrevolution im November 1918 erhalten Frauen im Deutschen Reich das aktive und passive Wahlrecht. Eine der ersten Frauen, die 1919 in den neu gewählten Bayerischen Landtag einziehen, ist Ellen Ammann. Für sie und ihre sieben Mitstreiterinnen ist der parlamentarische Alltag absolutes Neuland. War für einige der insgesamt 19 weiblichen Landtagsabgeordneten in der Weimarer Republik die parlamentarische Arbeit nur ein Zwischenspiel, so gehörte Ellen Ammann als Parlamentarierin der ersten Stunde bis zu ihrem Tod 1932 ununterbrochen in allen fünf Wahlperioden dem bayerischen Landtag an.
Katholische Powerfrau im Bayerischen Landtag
Ellen Ammann schafft es, Spuren zu hinterlassen und sich in einer bislang reinen Männerbastion zu behaupten. Als Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei gehen von ihr bedeutende Impulse aus. Obwohl sie das Frauenwahlrecht nie aktiv und öffentlich gefordert hatte, stürzt sie sich 1919 mit Überzeugung und Elan in die Politik. Über den KDFB schafft sie es auch, die bayerischen Frauen im eigenen Sinn für Politik zu interessieren. Die Informationsabende zur politischen Bildung, zu Wahlrecht und Demokratie werden von den anderen Parteien argwöhnisch beobachtet. In ihrer parlamentarischen Arbeit ist sie vor allem für die Ressorts Gesundheitswesen, Familienfürsorge, Jugendfürsorge, Öffentliche Fürsorge und Wohlfahrtspflege zuständig. Diese Themen entsprechen ganz ihrem bisherigen Wirkungs- und Erfahrungsbereich.
Durch ihr vielfältiges Engagement in verschiedenen Organisationen bringt sie beste Voraussetzungen für die Parlamentsarbeit mit. Ellen Ammann kann sich außerdem auf ein dichtes Frauennetzwerk verlassen, das sie während der Arbeit im Landtag kontinuierlich mit Rat und Tat unterstützt. Kraft und Motivation für ihr politisches Engagement gibt ihr natürlich auch ihr starker Glaube.
Für ihre Zweitbiographin Marianne Neboisa sind ihre Ressortberichte „eine Fundgrube für sozial- und kulturkundliche Studien der Weimarer Zeit in Bayern“. Wie schon in ihren bisherigen Funktionen, so denkt Ellen Ammann auch als Abgeordnete äußerst zielorientiert und arbeitet tatkräftig und unbeirrbar an der Realisierung ihrer Anliegen.
Die Bayerische Volkspartei würdigt Ellen Ammann zum 50. Geburtstag im Juli 1920 wie folgt: „Sowohl in der Parteileitung wie in der Landtagsfraktion haben Sie sich durch Ihr politisches Verständnis und durch die ruhige Art, in der Sie oft an der Lösung schwieriger politischer, wirtschaftlicher und auch persönlicher Fragen mitarbeiteten, das größte Ansehen erworben.“
Als Mitglied des Verfassungsausschusses wirkt sie entscheidend an der Neugestaltung der bayerischen Verfassung mit. Und am 21. Juni 1919 ergreift die gebürtige Schwedin im Bayerischen Landtag zum ersten Mal das Wort.
Ganz selbstverständlich bleibt Ellen Ammann, trotz ihrer anstrengenden und zeitintensiven politischen Tätigkeit, weiterhin Vorsitzende des KDFB-Landesverbandes und Vorsitzende des Münchner Zweigvereins des Katholischen Frauenbundes.
Ellen Ammanns Rolle beim Hitlerputsch
Ihre Arbeit als Abgeordnete fällt in eine politisch und wirtschaftlich äußerst turbulente Zeit: immer neue Revolutionswellen, der Kapp- und dann der Hitlerputsch, Inflation, Arbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise, häufige Wahlen und Kabinettsumbildungen sowie das Anwachsen des Nationalsozialismus.
Hitler und seine Anhänger treiben in München ab 1920 ungestört ihr Unwesen. Im Januar 1923 dringen 15 Hitler-Faschisten in München mit Schlagringen und Gummiknüppeln in eine Mitgliederversammlung der „Friedensgesellschaft“ und verletzen ein Mitglied so stark, dass man den Verlust des Auges befürchtet. Unter dem Eindruck dieser Tat führt Ellen Ammann gemeinsam mit Vertreterinnen anderer Münchner Frauenvereine wie Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg ein Gespräch mit dem damaligen Innenminister Dr. Schweyer. Die Delegation der Frauen trägt ihm die Ausschreitungen und widerrechtlichen Auftritte Hitlers und seiner gewalttätigen Anhänger vor und fordert Hitlers Ausweisung aus Bayern. Hitler war als Österreicher Ausländer und nicht in Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Schweyer kommt dieser Forderung allerdings nicht nach; er verharmlost die Angelegenheit, und die Abordnung muss erfolglos wieder abziehen.
Im November 1923 dann versucht Hitler, sich an die Macht zu putschen. Als am 8. November 1923 Generalstaatskommissar von Kahr seine Anhänger im Münchner Bürgerbräukeller zusammenruft, kommt Hitler mit seinen SA-Leuten hinzu, lässt von Kahr und seine Gefolgsleute in einen Nebenraum abführen und will sie dort zur Anerkennung seiner Machtübernahme zu zwingen.
Ellen Ammann erfährt im Vorfeld dieses Coups zufällig von Hitlers geplantem Vorgehen und fühlt sich als Landtagsabgeordnete dazu verpflichtet, sofort Widerstand zu mobilisieren. Dazu holt sie alle erreichbaren Regierungs- und Parteimitglieder in die Räume der sozial-caritativen Frauenschule. Zusammen mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten und Kultusminister Franz Matt wird noch in dieser Nacht in einer Resolution an das bayerische Volk der Putsch von Hitler und Ludendorff als Staatsverbrechen verurteilt. Die Gruppe entschließt sich außerdem, den Regierungssitz von München nach Regensburg zu verlegen. Der inzwischen entkommene Generalstaatskommissar von Kahr wird von Franz Matt telefonisch darüber informiert. Hitlers Marsch zur Feldherrnhalle am 9. November wird durch die Schüsse der bayerischen Landespolizei auseinandergetrieben und Hitler flieht, wird aber zwei Tage später gefasst. Er erhält Festungshaft in Landsberg, aus der er im Dezember 1924 aber bereits wieder vorzeitig entlassen wird.
Ohne Ellen Ammann hätten Matt und die anderen Minister die Putschnacht buchstäblich verschlafen. Matt zollte später ihrem unerschrockenem Handeln Respekt: „Die Kollegin Ammann hatte damals mehr Mut bewiesen als manche Herren in Männerhosen.“ Das bestätigt auch Lida Gustava Heymann in ihren Erinnerungen: „Aber der Hitlermarsch auf Berlin endet am 9. November vor der Feldherrnhalle in München. Daß dieses ganze, geradezu törichte Unterfangen nicht in einem furchtbaren Blutbade endete, sondern nach wenigen Stunden zusammenbrach, ist meines Erachtens auf die Initiative einer Frau, Ellen Ammann, bayrische Landtagsabgeordnete, zurückzuführen, die vorausschauend instinktiv und nach sicheren Anzeichen erkannte, daß sich eine Katastrophe vorbereitete, und daraufhin ihre Maßnahmen traf.“
Prophetisch ergänzt Heymann: „Geschichtsbücher werden von Ellen Ammanns starker Beteiligung an der Niederwerfung des Hitlerputsches 1923 vermutlich nichts zu berichten wissen.“ Und tatsächlich findet in den Geschichtsbüchern Ellen Ammanns mutiges Eingreifen tatsächlich lange Zeit keinen Eingang. Erst in den letzten Jahren wird in der (Frauen-)Geschichtsschreibung dieser historische Sachverhalt stärker berücksichtigt.
Anlässlich des 90. Jahrestages des Hitlerputsches im November 2013 würdigte auch die Presse die Rolle Ellen Ammanns. In der Süddeutschen Zeitung vom 10. November 2013 wird Ellen Ammann eine Seite gewidmet unter der Überschrift „Vergessene Widerstandskämpferin“. Die Münchner Kirchenzeitung titelte damals „Katholikin gegen Hitler“.
In der Dauerausstellung des 2015 eröffneten NS-Dokumentationszentrums in München wird Ellen Ammanns mutiger Einsatz gegen den Nationalsozialismus ebenfalls im Rahmen der Dauerausstellung „München und der Nationalsozialismus“ erwähnt und gewürdigt.
Mahnerin und Warnerin vor der NSDAP
Bis zu ihrem Tod bezog Ellen Ammann offen Stellung gegen die Nationalsozialisten. Sie warnt immer wieder eindringlich vor der Gefahr, die von der NSDAP ausgeht. Das Ergebnis der Landtagswahl vom 6. April 1924, die den Nationalsozialisten den Einzug in den Bayerischen Landtag ermöglicht, kommentiert sie im „Bayerischen Frauenland“, der Mitgliederzeitschrift des KDFB Landesverbandes Bayern, kritisch: „Der Ausgang der bayerischen Landtagswahl sollte den Frauen zu denken geben. … Die arme Großstadtbevölkerung … läuft jedem neuen Propheten nach, von dem sie sich eine Besserung verspricht. Ohne Nachprüfung glaubt sie tönenden Worten … Wenn diese „neue“ Partei einmal mitzusprechen hat in den Parlamenten, dann wird sich zeigen, daß sie nicht imstande ist, die Lage des Vaterlandes ohne weiteres zu bessern, ja, wir haben allen Grund, zu befürchten, daß besonders für unsere bayerische Heimat ihre Politik verhängnisvoll werden wird. … Eine Überspannung, ja eine Vergötterung des nationalen Gedankens aber, wie sie von völkischer Seite getrieben wird, ist in unseren Augen verwerflich.“ Heute weiß man, wie recht Ellen Ammann mit dieser Einschätzung hatte.
Bezeichnenderweise stirbt Ellen Ammann am 23. November 1932 nach einer ihrer großen Reden im Landtag an den Folgen eines plötzlichen Schlaganfalls. In ihrer letzten Rede ruft die sechsfache Mutter zu Hilfsmaßnahmen für kinderreiche Familien auf und fordert Hilfen in der Wohnungsfrage, eine Bevorzugung bei der Arbeitsplatzvergabe, Schulgeldermäßigung usw. Ihre Rede endet mit „Möge die kinderreiche Familie im Volksbewusstsein wieder zu Ehren kommen.“ Das sind Ellen Ammanns letzte dokumentierte Worte.
An ihrer Trauerfeier am Alten Südfriedhof nimmt alles, was damals in Politik und Gesellschaft Rang und Namen hatte, teil. Das Domkapitel wird von Kardinal Faulhaber angeführt. Ministerpräsident Held und das gesamte Kabinett sind anwesend, ebenso wie die Spitzen der Stadtverwaltung und Mitglieder des ehemaligen Königlichen Hauses. Im „Bayerischen Kurier“ vom 26. November 1932 kann man dazu nachlesen: „Selten hat der Südliche Friedhof eine so große Trauergemeinde vereinigt gesehen wie es am Freitagmittag der Fall war bei der Beerdigung der so unerwartet rasch verstorbenen Frau Hofrat Ellen Ammann.“
Kurz nach ihrem Tod schreibt Marie Amelie von Godin, die mit Ellen Ammann seit der Gründung des Katholischen Frauenbundes 1904 in München eng zusammengearbeitet hat, deren Biographie nieder. Das nationalsozialistische Regime lässt bald alle 60.000 Exemplare einstampfen. Man hatte nicht vergessen, dass Ellen Ammann 1923 an der Vereitelung des Hitlerputsches beteiligt war. Hätte sie Hitlers Machtergreifung noch persönlich erlebt, wäre ihr wohl Schlimmes widerfahren: „Sie wäre … wohl die Erste gewesen, die in Dachau eingezogen wäre“, mutmaßt ihre langjährige Mitarbeiterin Therese Ullrich.
Ellen Ammann – eine starke Frauenpersönlichkeit der Weimarer Republik
Ellen Ammann war eine starke Frau. An ihrer Biographie lässt sich exemplarisch die Veränderung der Gesellschaft durch die Neuausrichtung ihres Leitbildes der Frau ablesen. Dabei hatte sie im Laufe ihres Lebens mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, mit Vorurteilen, mit mangelnden Mitspracherechten der Frauen, den Ängsten und Notzeiten. Der Erste Weltkrieg brachte ein bis dato unbekanntes Ausmaß an sozialer Not und Elend mit sich. In seiner Folge stehen die Geburtswehen der ersten Demokratie in Bayern und schließlich das Erstarken des Nationalsozialismus. All das nahm sie als Herausforderung an.
Abschließend kann man sagen, dass das Leben und Wirken Ellen Ammanns wesentlich durch ihren Glauben geprägt wurde. Ihre Verantwortung für die Welt erkannte sie aus ihrer Verantwortung vor Gott heraus. Die biblische Botschaft war ihr Lehrbuch für eine bessere Weltgestaltung. Aus ihr heraus wertete sie Wege und Ziele, denen all ihre Arbeit galt. Ammann sah katholische Dogmen als lebendige Wirklichkeit an, deren Verankerung jeden Tag neu im Leben zu suchen ist. Und obwohl sie den Protestantismus und den Katholizismus gleich wertschätzte, war der katholische Glaube für sie die wahre Religion, der sie sich in aller Freiheit des protestantischen Geistes verpflichtet wusste. In der von ihr gegründeten „Vereinigung katholischer Diakoninnen“ setzte sie dem ein Fundament, das erst mit der Schwesternkleidung im Sarg öffentlich wurde.
Ellen Ammanns Erbe als Verpflichtung
Zahlreiche Institutionen verdanken Ellen Ammann ihre Existenz: Der KDFB Landesverband Bayern, In Via, die Münchner Bahnhofsmission, die Katholische Stiftungsfachhochschule, aber auch – was kaum jemand weiß – die Polizeiseelsorge, die 1920 von Ellen Ammann initiiert wurde. Ebenso geht die diözesane Ehe-, Familien- und Lebensberatung auf Ihr Betreiben zurück.
1904 schrieb Ellen Ammann an eine Freundin: „Wer sich zu viel vornimmt, führt nichts richtig durch.“ Sie hat sich zeitlebens viel vorgenommen, und sie hat, wenn man sich ihr Erbe ansieht, auch alles richtiggemacht.
Als Vorsitzende des KDFB-Landesverbandes sehe ich mich dem Erbe unserer Gründungsmutter verpflichtet; als Nachfolgerinnen in ihrem Geiste engagieren wir KDFB-Frauen uns beharrlich und leidenschaftlich für die Gleichstellung von Frauen in Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Und auch 85 Jahre nach dem Tod von Ellen Ammann haben wir auf diesem Gebiet immer noch viel zu tun.