Festhalten an dem, was aussteht

Eschatologische Texte mythologisch lesen

Im Rahmen der Veranstaltung "Mythos und Wahrheit", 10.01.2025

xiquinhosilva/Wikimedia Commons

Offenkundig hat man Schöpfungsmythen nicht verstanden, wenn man sie nur minutiös wiederzugeben versteht und als Auskünfte über eine ferne Vergangenheit zu interpretieren versucht. Und dasselbe gilt auch für jene biblischen Texte, die den Blick nach vorne wenden und die Ziele individueller Lebensgeschichten sowie der allgemeinen Weltgeschichte thematisieren, denn auch sie sind keine Prognosen kommender Ereignisse, sondern formulieren, was aussteht, und fixieren dieses am Horizont individueller Lebensgeschichten ebenso wie am fernen Horizont der umfassenden Weltgeschichte.

Ohnehin besteht zwischen den Schöpfungsgeschichten und den korrespondierenden Zielgeschichten ein enger Bezug, der nur selten reflektiert wird: Die Schöpfungserzählung Gen 2,4b–3,24 hatte jenen Garten, aus dem die ersten Menschen vertrieben wurden, auf Hebräisch als gan bǝʿēdæn „Garten in Eden“ (2,8) oder, verkürzt, als gan ʿēdæn „Garten von Eden“ (2,15; 3,23) bezeichnet. Als die Schöpfungserzählungen in hellenistischer Zeit im 3. Jh. v. Chr. ins Griechische übersetzt wurden, wurde der hebräische Begriff gan „Garten“ mit einem ursprünglich persischen Lehnwort als παράδεισος „Paradies“ wiedergegeben, und im späten 2. Jh. v. Chr. wurde in den apokryphen Testamenten der Patriarchen zum ersten Mal auch die Welt am Ende der Geschichte als παράδεισος „Paradies“ bezeichnet. So entstand in hellenistischer Zeit jenes Konzept einer spiegelsymmetrischen Zeit, deren Bogen vom „Paradies“ am Anfang zum „Paradies“ am Ende der Weltgeschichte reicht, in dem wir uns im jüdischen, christlichen und muslimischen Geschichtsdenken seither bewegen. Dieser Bogen formuliert am Anfang der Zeit aus, was grundlegend ist zum Verständnis unserer Existenz, und am Ende der Zeit, was aussteht zu ihrer Vollendung.

Dabei gründet die Rede von der Vollendung nicht in einem statischen systematischen Lehrgebäude, sondern ebenso wie die Schöpfungserzählungen in einem anhaltenden Ringen, in dem zudem zwei Diskurslinien ineinander verflochten sind: die Frage nach dem Fluchtpunkt individueller Lebensgeschichten in Tod und Jenseits und die Frage nach dem Fluchtpunkt der umfassenden Weltgeschichte. Diese beiden Diskurse verliefen aber nicht unabhängig voneinander, sondern gründen in gemeinsamen Optionen und münden schließlich in einer Synthese in ein umfassendes Postulat.

 

Was weltgeschichtlich aussteht I

 

Die Zukunftsvisionen der frühen Schriftpropheten Amos und Hosea im Nordreich Israel waren angesichts der nahenden assyrischen Gefahren überwiegend Unheilsansagen gewesen. 733 v. Chr. wurde das Nordreich von den Assyrern auf das Kernreich um die Hauptstadt Samaria verkleinert, und 720 wurde Samaria selber eingenommen. Dies war das Ende des Reiches Israel.

Ebenso düster waren die Unheilsansagen der Propheten Jesaja und Micha im Südreich Juda. 701 wurde seine Hauptstadt Jerusalem von den Assyrern eingeschlossen und entkam erst im letzten Moment der Zerstörung. Zwar brach die assyrische Vormacht seit der Mitte des 7. Jahrhunderts langsam in sich zusammen, was zwischenzeitlich Anlass zu Heilshoffnungen gab, doch erwiesen sich diese als verfrüht, denn seit 605 eroberte König Nebukadnezzar II. von Babylonien mit seinen Truppen die Levante. Als Jerusalem trotz aller Warnungen Jeremias einen Aufstandsversuch unternahm, wurde die Stadt 597 eingenommen und die Oberschicht von Juda nach Babylonien deportiert. Als sie trotz der erneuten Warnungen Jeremias in Jerusalem und der nicht minder scharfen Worte Ezechiels aus Babylonien einen zweiten Aufstandsversuch wagte, wurde sie 587 total zerstört und ihre Führungsschicht abermals deportiert.

 

Was lebensgeschichtlich aussteht I

 

Bis zu dieser Zeit unterschieden sich die Vorstellungen vom Tod und der Umgang mit den Toten nicht oder nur marginal von denen benachbarter Völker der Levante. Da im Bergland von Israel und Juda tiefe Erde kaum vorhanden und für Erdbestattungen folglich zu kostbar war, wurden die Toten begüterter Familien in Felskammergräbern ihrer Familien und die Armen in kollektiven Felskammergräbern beigesetzt, die ebenfalls über Jahrhunderte in Gebrauch blieben. Jedesmal, wenn ein neuer Todesfall zu beklagen war, wurden die Gebeine der am meisten Verwesten beiseite geschoben, um Platz für die nächste Bestattung zu schaffen.

Die Geister der Toten kamen – davon ging man aus – in die šǝ’ôl, die „Unterwelt“, in der sie in einen Dämmerschlaf verfallen (Gen 37,35; Jes 38,18; Ps 6,6; Jes 14,9). Ob sie zu Lebzeiten Fromme oder Frevler waren, spielte für sie keine Rolle mehr, denn das Jenseits war (noch) keine moralische Anstalt. Im Tod galten alle als gleich, und ihr vergangenes Leben war nur noch insofern relevant, als man Verstorbenen, derer man gerne gedachte, am Grab Brot und Wasser spendete, um ihren Hunger und Durst zu stillen, oder sie in Totenbeschwörungen wieder zu zeitweiligem Leben erweckte, um sie um ihren Rat und Segen zu bitten (1 Sam 28), was man bei Frevlern nicht tat.

Ansonsten galt das Dasein in der Unterwelt als freudlos: Yhwh wurde als ein Gott der Lebenden betrachtet, und wer in das Reich der Toten hinabstieg, galt seiner segnenden Macht entzogen (vgl. Jes 38,18; Ps 88,6), denn die Unterwelt wurde als Herrschaftsbereich des Totengottes mōlæk (hebr.) oder moloch (gr.) angesehen, des „Königs“ der Toten (vgl. Lev 18,21; 20,2–5; 2 Kön 23,10; Am 5,26 LXX; Jes 30,33; 57,9; Jer 32,25).

Dies waren die Vorstellungen vom Schicksal der Toten, nicht nur in Israel und Juda, sondern ähnlich in der gesamten Levante von der Mittelmeerküste bis nach Mesopotamien, bis sich im Kreis der nach Babylonien Verschleppten von Juda ein tiefgreifender Wandel der Vorstellungen von Tod und Jenseits vollzog.

 

Was weltgeschichtlich aussteht II

 

Ezechiel war schon 597 v. Chr. nach Babylonien deportiert worden und war dort, im Kreis der anderen Deportierten aus Juda, zunächst als Unheils-
prophet aufgetreten, doch als er im Januar 586 die Nachricht von der Zerstörung Jerusalems erhielt, mutierte er zum tröstenden Heilspropheten. Eine Generation später verkündete ein anonymer Prophet, dessen Sprüche in Jes 40–55 überliefert sind, weshalb er als „Deuterojesaja“ bezeichnet wird, den Verschleppten, dass König Kyros II. von Persien 539 im Auftrag Yhwhs in Babylonien einmarschieren (Jes 44,24–45,7) und allen Völkern, vor allem aber den Exilanten aus Juda, unbedingtes Heil bringen werde, denn Gottes Gericht sei nun vorbei (Jes 40,1–2).

Was lebensgeschichtlich aussteht II

 

Allerdings müssen wir den Worten dieses anonymen Propheten zwischen den Zeilen auch entnehmen, dass er mit seinen Heilsankündigungen bei den Deportierten nicht angekommen, sondern gescheitert ist (Jes 43,19; 49,14). Auch wurden seine überlieferten Heilsworte an vier Stellen von einer redaktionellen Hand durch vier Texte (Jes 42, 1–4; 49,1–6; 50,4–9; 53,1–11b) unterbrochen, die, als Zyklus gelesen, das Schicksal eines durch und durch gescheiterten Gotteskünders beschreiben, in dem wir mit großer Wahrscheinlichkeit niemand anderen als ihn selbst erkennen können. (Leider sind diese vier „Gottesknechtslieder“ in der revidierten Einheitsübersetzung von 2016 nicht mehr durch entsprechende Überschriften markiert.)

Im vierten dieser „Gottesknechtslieder“ stellt die Gemeinde nach seinem Tod und Begräbnis betroffen fest, ihn zu Lebzeiten verkannt zu haben. Sie reflektiert im Rückblick sein Leiden, kann es aber nicht mit seiner Schuld erklären, denn er war schuldlos. Dennoch hielt sie an ihrer Vorstellung fest, Yhwh lasse niemanden schuldlos leiden. Sie schloss daraus, er habe stellvertretend die Schuld der Gemeinde getragen (ein theologisch riskanter Gedanke), und artikulierte zugleich die Erwartung, dass Yhwh seinen „Gottesknecht“ nicht in der Unterwelt verkommen lasse, sondern zu sich aufnehme und er „Licht schauen“ werde (Jes 53,11):

„Nach der Mühsal seines Lebens wird er Licht schauen, sich sättigen an seiner Erkenntnis.“

– ein theologisch revolutionäres Bekenntnis, weil es erstmals in der biblischen Glaubensgeschichte implizit Yhwh jenseits der Todesschwelle ansetzt und entgegen der bisherigen Tradition postuliert, dass er unschuldige Opfer der Geschichte zu sich nimmt.

 

Was weltgeschichtlich aussteht III

 

Zwar gestattete König Kyros II. von Persien den Verschleppten tatsächlich die Heimkehr, doch waren diese entgegen der späteren biblischen Darstellung (Esr 1–6) mehrheitlich nicht zur Heimkehr bereit, denn das Leben im prosperierenden Babylonien schien ihnen im Vergleich zum zerstörten Jerusalem offenbar attraktiver zu sein, und so wurde der Tempel von Jerusalem 520–515 v. Chr. vor allem von der nicht verschleppten ärmeren Bevölkerung von Juda selber wieder aufgebaut.

 

Was lebensgeschichtlich aussteht III

 

Doch der im vierten „Gottesknechtslied“ gesäte Gedanke vom Schicksal der Opfer ging langsam auf, denn in Ps 73 stellt ein Beter angesichts des Anstoß erregenden Glücks der Frevler den Zusammenhang von Tun und Ergehen und damit Gottes Gerechtigkeit in Frage (73,1–12). Er berichtet von seinem zunächst vergeblichen Ringen mit dem Theodizeeproblem (73,13–17) und kündigt schließlich seine Lösung an (73,18–28): Während die Frevler schlussendlich scheitern (73,18), nimmt Gott die Gerechten „in Herrlichkeit“ auf (73,24):

„Du leitest mich nach deinem Ratschluss, danach nimmst du mich in Herrlichkeit auf.“

Ähnlich schildert der in Ps 49 ebenfalls mit dem Theodizeeproblem ringende Beter den Wandel der Frevler (49,6–15). Nachdem er angesichts der Ungerechtigkeit des Weltlaufs an der Gerechtigkeit Gottes zeitweilig zu verzweifeln drohte, äußert er nach einer Wende ebenfalls seine Glaubensgewissheit, jenseits der Todesschwelle von Gott aufgenommen zu werden (49,16).

So formulieren diese drei Beispiele im Verlangen nach Gerechtigkeit ihre Erwartung, dass Gott die Gerechten, die zu Lebzeiten scheitern, nicht in der Unterwelt vergessen wird. Vielmehr werde er ihnen jenseits der Todesschwelle entgegentreten, um sie aufzunehmen, den weisheitstheologisch erwarteten Zusammenhang von Tun und Ergehen wiederherstellen und die Gerechtigkeit sichern.

 

Was weltgeschichtlich aussteht IV

 

Zwar war die Zeit der persischen Herrschaft über Juda nicht ganz so paradiesisch, wie von Deuterojesa verheißen, sicherte Juda aber zweihundert Jahre lang ein Leben in relativem Frieden, bis Alexander der Große 333–332 v. Chr. mit seinen Truppen den Vorderen Orient überrannte und sein von Ägypten bis zum Indus reichendes neu errichtetes Reich nach seinem Tod zerbrach und in Kriegen zwischen seinen Thron-
erben versank, die den Zeitgenossen in Juda nicht ohne Grund als Weltuntergang erschienen sein müssen.

Darum wurden in dieser Zeit die Unheilsansagen des historischen Propheten Jesaja zum ersten Mal mit den bislang eigenständig überlieferten Heilsansagen des anonymen Propheten Deuterojesaja redaktionell zu einem Doppelwerk verbunden, das den Leserinnen und Lesern einen Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse ihrer Zeit vermitteln sollte, denn es bot erstmals einen Geschichtsplan, der in vom gegenwärtig zu erleidenden Unheil (in seinem ersten Teil) zum ersehnten Heil (in seinem zweiten Teil) führte. Dies war die Erwartung des im gegenwärtigen Leiden ersehnten Jüngsten Gerichts, das auch in zeitnahen redaktionellen Bearbeitungen der zwölf sogenannten „kleinen“ Prophetenbücher von Hosea bis Maleachi seinen Niederschlag fand.

 

Was lebensgeschichtlich aussteht IV

 

Allerdings blieben die Toten in diesen, zwischen 330 und 270 v. Chr. verfassten, prophetischen Texten noch außen vor, doch verlangte die Erwartung umfassender Gerechtigkeit auch deren Integration.

Das erste und wichtigste Zeugnis für diesen naheliegenden Schritt findet sich im äthiopischen Henochbuch, das in der äthiopischen Kirche zum Alten Testament gezählt wird, genauer gesagt im „Buch der Wächter“ (äthHen 1–36), das frühen Fragmenten aus Qumran zufolge spätestens im späten 3. Jh. v. Chr. entstanden sein muss.

Kapitel 22 (Wacker 1985, 35–233; Uhlig 1984, 555–558) erzählt, Henoch, ein Nachkomme von Adam und Eva in siebter Generation (Gen 5,21–24), sei auf seinen Weltreisen in der Anfangszeit der Menschheit an den westlichen Rand der Erde gekommen, der nach mythischen Vorstellungen erwartungsgemäß mit dem Tod konnotiert war, und habe dort einen Berg mit vier Höhlen gesehen, in denen die Toten ruhen. Diese waren dort aber nicht nach guten, minder guten, minder schlechten und schlechten Fällen sortiert. Vielmehr lagen ihrer Gruppierung andere Kriterien zugrunde.

Die erste Höhle (V. 9) war explizit für die Gerechten reserviert. Diese zeichnete sich durch ihre Helligkeit sowie durch eine Wasserquelle aus, die den Durst der gerechten Toten stillte und an die elysischen Gärten erinnert:

„Und diese ist abgetrennt für die Geister der Gerechten, in der die Wasserquelle hell (ist).“

Dadurch, dass diese helle Höhle mit ihrer Wasserquelle allein explizit als Höhle der Gerechten bezeichnet wird, werden die drei dunklen Höhlen implizit als Höhlen der Sünder qualifiziert. Doch wird weiter zwischen drei Klassen von Sündern unterschieden, aber wiederum nicht nach ihrer moralischen Qualifikation nach leichten, mittleren und schweren Verbrechern, sondern im Sinn einer Vorablage erledigter und unerledigter Fälle. So dient die zweite für bislang unbestrafte Sünder (V. 10–11):

„Und diese ist gemacht für die Geister der Sünder, wenn sie sterben und in der Erde begraben werden, und ein Gericht über sie in ihrem Leben nicht stattgefunden hat. Hier sind ihre Geister abgetrennt für diese große Folter bis zum großen Tag des Gerichts der Schläge und Folter für die in Ewigkeit Verfluchten, zur Vergeltung für ihre Geister. Dort wird man sie in Ewigkeit binden.“,

die dritte für (ungesühnte) Ermordete, die noch als Kläger und Zeugen benötigt werden (V. 12):

„Und diese sind abgetrennt für die Geister der Klagenden, die Enthüllungen machen über ihren Untergang, wenn sie ermordet werden in den Tagen der Sünder.“,

und die vierte für bereits bestrafte Sünder (V. 13):

„Und diese ist für die Geister der Menschen gemacht, welche nicht fromm, sondern Sünder sein werden, die gottlos und mit den Gesetzlosen mitschuldig sein werden. Diesen Geistern aber [weil die hienieden Bedrückten weniger bestraft werden] geschieht kein Unheil am Tag des Gerichts, aber sie werden sich auch nicht von hier erheben.“

Ob die Gerechten der ersten Höhle auferweckt werden, wird nicht gesagt und kann auch nicht unter Berufung auf (nicht nachweisbare) ältere Traditionen als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Vielleicht erschöpft sich das Glück der Gerechten auch darin, in einer hellen Höhle mit einer erfrischenden Wasserquelle ruhen zu dürfen. Sicher gilt die Auferweckung nämlich nur für die zweite und dritte Gruppe, die bislang unbestraften (Sünder) einerseits und die ungesühnt ermordeten (Sünder) andererseits. Dagegen werden die schon zu Lebzeiten bestraften Sünder der vierten Gruppe ausdrücklich
nicht mehr auferweckt.

Nur die zweite und dritte Gruppe der Toten wird zum Gericht auferweckt, weil die Rechnung der bislang unbestraften Täter noch offen ist und die Gleichung von Tun und Ergehen im Fall der Getöteten durch deren gewaltsamen Tod vorzeitig abgebrochen wurde und ebenfalls noch der Lösung harrt. Und so endet dieses erste Zeugnis für eine Erwartung einer Auferweckung von Toten folgerichtig stimmig mit einem Loblieb auf Gott als „Richter in Gerechtigkeit“ (V. 14).

Dieses Zeugnis ist in zweifacher Hinsicht äußerst interessant. Erstens integriert es erstmals das Schicksal der Toten in die Erwartung des Jüngsten Gerichts, denn die Toten dürfen in diesem nicht vergessen werden. Zweitens gibt es deutlich zu erkennen, dass die Erwartung einer Auferweckung von Toten nicht in hellenistischen Spekulationen über das Verhältnis von Leib und Seele gründet, sondern im Verlangen nach Gerechtigkeit. Sie ist ein Postulat der religiösen Vernunft, dessen Gedanke etwa zwei Generationen später, in der Zeit der opferreichen Kämpfe der Makkabäer gegen die syrische Besatzung des Landes, in Dan 12,2 zum ersten Mal zumindest anspielungsweise auch in einen Text der Hebräischen Bibel aufgenommen wurde.

Dieses Modell des äthiopischen Henochbuches mit seinen vier Höhlen war ein enormer theologischer Durchbruch, aber sehr kompliziert und wurde vermutlich aus diesem Grund – außer in Dan 12,2 – auch nicht rezipiert, sondern radikal vereinfacht, denn spätere Texte erwarten schlicht, dass alle Gerechten auferweckt werden, alle Frevler hingegen nicht (2 Makk 7; PsSal 3,9–12; 14,9).

Allerdings sind, nüchtern betrachtet, alle Menschen Opfer und Täter zugleich. Dennoch wagen erst sehr späte Stimmen den nächsten Schritt, eine Auferweckung aller Toten zum Jüngsten Gericht zu erwarten. Blendet man zwei nicht datierbare Zufügungen in älteren Schriften (TestBenj 10,6–8; äthHen 51) aus, so finden sich die beiden frühesten datierbaren Zeugnisse dieser Erwartung annähernd zeitgleich erst um 90 n. Chr. in Sib 4,180 und Apg 24,14–15 (sowie nur wenig jünger in 4 Esr 7,31–35 und syrBar 50,2; 51). So lässt Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, Paulus vor dem Statthalter Felix sagen:

„Das allerdings bekenne ich dir: Dem (neuen) Weg entsprechend, den sie eine Sekte nennen, diene ich dem Gott meiner Väter. Ich glaube an alles, was im Gesetz und in den Propheten steht, und ich habe dieselbe Hoffnung auf Gott, die auch diese hier haben: dass es eine Auferstehung der Gerechten und Ungerechten geben wird.“

 

Festhalten an dem, was aussteht

 

Offenkundig lag diesen Texten kein einheitliches Lehrgebäude von Jenseitsvorstellungen zugrunde. Vielmehr führte ein langer gedanklicher Weg, getragen vom Verlangen nach der ausstehenden Gerechtigkeit, zum Postulat eines Jüngsten Gerichts mit einer Auferweckung aller Toten
(Bieberstein 2009; 2024a).

Dabei vertraten selbst die jüngsten biblischen Autoren in ihren Texten noch ganz unterschiedliche Modelle. So bewegt sich Lukas gelegentlich im erstgenannten Modell einer unmittelbaren Entrückung der Gerechten in himmlische Regionen, etwa wenn er ansagen lässt, Kaparnaum werde nicht in den Himmel aufgenommen, sondern in die Unterwelt (ᾅδης) verworfen (Lk 10,15 // Mt 11,23), oder wenn er einen Armen in seinem Tod von Engeln in Abrahams Schoß tragen, einen Reichen hingegen in der Unterwelt (ᾅδης) qualvolle Schmerzen leiden (16,19–31) oder Jesus einem neben ihm Gekreuzigten verheißen lässt, er werde noch heute mit ihm im Paradies (ἐν τῷ παραδείσῳ) sein (23,43). Doch kann er in Apg 24,10–15 andererseits als einer der ersten beiden Zeugen zugleich das vierte Modell einer Auferweckung aller Toten präsentieren. Und Paulus kann in Phil 1,21–24 im ersten Modell einer Apotheose im Todesmoment formulieren und in 1 Thess 4,13–18 und 1 Kor 15,12–28 im dritten Modell einer partiellen Auferstehung argumentieren.

Was diese Stimmen eint, war folglich kein Lehrgebäude, das es zu glauben gelte, sondern ein gedankliches Ringen um die Option eines Zusammenhangs von Tun und Ergehen, ein Verlangen nach Gerechtigkeit für die Opfer der Geschichte, und stellt dieses Postulat – komplementär zu den Schöpfungsmythen am absoluten Anfang der Zeit – wie einen Leuchtturm an den absoluten Fluchtpunkt der Geschichte, damit „der Mörder“ letzten Endes, wie Max Horkheimer (1970, 62) so treffend formuliert hat, „nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge“.

Mit diesen Abbildungen an sich nichtzeitlicher Größen am Anfang und Ende der spiegelbildlichen Zeit leisten die Schöpfungsmythen gemeinsam mit den Vorstellungen eines Jüngsten Gerichts eine Abbildung an sich nichtzeitlicher Größen in der mythischen Zeit, die – entgegen der mathematischen Vorstellung von Zeit als einer endlosen Geraden – Sinn und Orientierung im Leben stiftet und deren Wahrheit, wie Hans Blumenberg (1997, 25) über absolute Metaphern formuliert hat, eine „vérité à faire“ ist, eine Wahrheit, die es zu tun gilt.

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