Formulieren, was der Mensch ist

Schöpfungserzählungen mythologisch gelesen

Im Rahmen der Veranstaltung "Mythos und Wahrheit", 10.01.2025

Wikimedia Commons, Public Domain

Wenn die Analysen und Thesen von Ernst Cassirer (1925; 1944) zutreffen, zeichnet sich mythisches Denken nicht durch einzelne Motive aus. Vielmehr liegt ihm eine eigene Logik, eine eigene Grammatik der Welterschließung, zugrunde, die sich von modernem naturwissenschaftlichem Denken insbesondere durch einen anderen Umgang mit Raum, Zeit und Zahlen grundlegend unterscheidet.

Wir haben in der Schule gelernt, uns die Zeit als eine unendliche Gerade vorzustellen und jeden gleichgroßen Abschnitt als gleichwertig und austauschbar zu betrachten. Ebenso haben wir gelernt, den Raum in einem dreidimensionalen Koordinatensystem als unendlich und jeden gleichgroßen Ausschnitt desselben ebenfalls als kompatibel anzunehmen, denn Zeit und Raum galten im naturwissenschaftlichen Denken (vor Albert Einstein) als endlos und homogen. Diese Vorstellung war jedoch keineswegs selbstverständlich, sondern eine Errungenschaft der neuzeitlichen Naturwissenschaften, die sich in einem langsamen, mühsamen Prozess des Denkens als eine eigene Art und Weise der Welterschließung aus dem mythischen Denken entwickelt und von ihm emanzipiert haben.

Denn im mythischen Denken wird die Zeit nicht als neutrale Gerade, sondern in Zyklen oder Rhythmen, in Phasen des Werdens und des Vergehens, und darüber hinaus zuweilen mit einem absoluten Anfang und einem absoluten Ende gedacht (ECW 12, 123–166). Ebenso wird im mythischen Denken jede Richtung mit unterschiedlichen Werten verbunden (ECW 12, 98–123): Der Osten als Ort der aufgehenden Sonne steht für die Überwindung der Finsternis durch Licht und Leben. Der Westen als Ort der untergehenden Sonne hingegen wird meist mit dem Tod assoziiert. Vor allem aber kennt mythisches Denken ein Zentrum als Hort höchster Werte und verweist Chaos und Tod in die Peripherie.

Zwar neigen wir als Kinder der Neuzeit dazu, mythisches Denken abzuwerten und allein naturwissenschaftliches Denken für gültig zu erachten, doch greift diese Vorstellung zu kurz. Schließlich sind die mythischen Formungen von Raum und Zeit kein Mangel. Zwar eignen sie sich nicht für technische Berechnungen, bieten aber die Möglichkeit, an sich nichträumliche existentielle Größen im Raum und an sich nichtzeitliche existentielle Größen in der Zeit abzubilden und auf diese Weise im Leben mythische, religiöse und moralische Orientierungen zu vermitteln. Darin liegt ihre eigentümliche Leistung, die von anderen Weisen der Welterschließung nicht realisiert werden kann – was am Beispiel altorientalischer Schöpfungsmythen gut gezeigt werden kann.

Das Atram-Hasīs-Epos

 

Um 3500 v. Chr. oder nur wenig später entwickelten sich in Ägypten einerseits und Mesopotamien andererseits parallel zueinander die ersten Hochkulturen der Menschheit. Dass diese nicht in Bergregionen, sondern in Flusslandschaften entstanden, war dabei kein Zufall. Dabei sind Flusslandschaften keineswegs a priori besonders lebensfreundliche Räume. Schließlich finden sich in Bergregionen schattige Stellen mit Quellen, an denen sich kleine Gärten anlegen lassen und man wunderbar leben kann. Dagegen können Flusslandschaften lebensfeindlich sein. Entweder ziehen Flüsse streckenweise in tiefen Betten durch Wüsten, ohne sie zu bewässern, oder sie überschwemmen, insbesondere in Mündungsdeltas, das Land, und es bedarf großer Mühen, dieses durch die Anlage von Kanälen und deren Pflege trockenzulegen. So wurde in den beiden Flusslandschaften – am Nil ebenso wie zwischen Euphrat und Tigris – Lebensraum erst durch gemeinschaftlich organisiertes Handeln eröffnet, durch zentrale Mächte, die darauf achteten, dass die Kanäle sinnvoll angelegt, gegraben, beständig gepflegt wurden und das Wasser systematisch verwaltet wurde.

Darum war menschliches Leben in diesen Hochkulturen oftmals derart mit der Pflege der Kanäle verbunden, dass der Sinn und Zweck des Lebens in der täglichen Pflege der Kanäle zu bestehen schien.

Diese Lebenserfahrung war der gedankliche Ausgangspunkt für die Entstehung des Atram-Hasīs-Epos, das spätestens um 1800 v. Chr. in Babylonien verfasst wurde (von Soden 1994). So erzählt es, anfangs hätten die niedrigen Götter die Kanäle, ohne deren tägliche Pflege Leben im Zweistromland selbst für Götter undenkbar war, noch selber­ reinigen und die Tragkörbe mit Erde selber tragen müssen, schließlich aber gegen die höheren Götter aufbegehrt, und so wurde auf Beschluss der Götter zu ihrer Entlastung der Mensch geschaffen: „Den Tragkorb des Gottes trage der Mensch!“ (Tafel I 197).

Dabei wurde der Mensch stillschweigend als ursprünglich auf Unsterblichkeit hin erschaffen gedacht; er konnte zwar sterben, musste aber nicht sterben, sondern konnte ewig leben (Clifford 1994, 78). Schließlich sollte seine Sterblichkeit im Laufe der Erzählung erst ätiologisch eingeführt werden, denn Mythen beschreiben nicht, sondern führen narrativ ein, was der Erklärung bedarf.

Dieses unbegrenzte Leben hatte jedoch zur Folge, dass das Treiben, Lärmen und Keifen auf Erden bald derart überhandnahm, dass die Göttinnen und Götter beschlossen, eine Sintflut zu senden, um die Menschheit wieder zu vernichten. Als Atram-Hasīs – sein Name bedeutet: „Der an Weisheit Übergroße“ – der Flut mit einer Arche entkam, gestand ihm Enlil, der Hauptgott des babylonischen Pantheons, zwar weiterhin ewiges Leben zu, verfügte aber, neue Menschen zu schaffen, deren Leben von vornherein durch Sterblichkeit sowie durch drei weitere Verfügungen eingeschränkt sein sollte: Ein Teil der Frauen sollte nicht gebären können, ein Teil sollte zölibatär leben müssen, und ein Teil der Säuglinge sollte schon an der Mutterbrust sterben.

So leistet dieser Mythos eine Ätiologie der prekären, von Arbeit, Mühe, Leid und Tod gezeichneten Existenz des Menschen und ist in dieser Beschreibung der Conditio humana zweifellos wahr.

Das Gilgamesch-Epos

 

Auch das Gilgamesch-Epos greift das Problem der Sterblichkeit auf. Zwar enthält es keinen Schöpfungsmythos, bietet in einer Rückblende aber eine, teilweise sogar wörtliche, Wiederholung der Sintfluterzählung aus dem Atram-H˘asīs-Epos und verbindet die Sterblichkeit des Menschen mit seiner Aufgabe, sein Leben im Wissen um sein Sterbenmüssen entwerfen, führen und gestalten zu müssen.

Das Werk stammt aus Uruk, einer der frühesten und bedeutendsten Städte im südlichen Mesopotamien, die schon um 2650 von einem riesigen, fast 10 km langen Stadtmauerring mit über 900 Türmen umfasst worden war, der als Werk eines sagenhaften Königs namens Gilgamesch galt, und ist in mehreren Fassungen überliefert, die in mehreren Etappen zwischen dem 20. und 7. Jh. v. Chr. entstanden.

Die vermutlich unter dem letzten neuassyrischen König Assurbanipal (669–627 v. Chr.) in Ninive verfasste Standardfassung (Franke 2023) erzählt in elf Gesängen von König Gilgamesch. Dieser sei so grausam gewesen, dass die Götter beschlossen, ihm, um ihn in Schach zu halten, einen wilden Gesellen namens Enkidu gegenüberzustellen, der erst durch einen Besuch bei einer Prostituierten namens Schamchat den Tieren entfremdet und zum kulturfähigen Menschen gezähmt werden konnte. Doch statt zu Gegnern zu werden, werden Gilgamesch und Enkidu unzertrennliche Freunde, die zum Leidwesen der Götter und Menschen keine Grenzen mehr kennen. Darum muss Enkidu eines Tages auf göttlichen Beschluss wieder sterben. Gilgamesch ist untröstlich, denn er wird angesichts des Todes seines Freundes seiner eigenen Sterblichkeit inne, läuft in verzweifelter Suche nach Unsterblichkeit über die Wüste hinaus zu den Bergen am Rand der Erde und gelangt durch einen Tunnel in einen sagenhaften Wald mit Bäumen aus Edelstein. An den Gestaden des Meeres kehrt er in eine Schenke einer weisen Wirtin namens Siduri ein und erzählt ihr von seiner Suche nach seinem Freund und dem ewigen Leben. Sie weist ihm den Weg zu Ur-Schanabi, einem Fährmann, der ihn über das „Wasser des Todes“ zu einem Greis namens Uta-Napischti bringt. Uta-Napischti – sein Name bedeutet: „Er fand Leben“ – war kein Geringerer als jener Held der Urzeit, der im Atram-H˘asīs-Epos den Namen Atram-H˘asīs getragen, als einziger Mensch die große Flut überlebt hatte und – im Gegensatz zu den nach der Flut neu geschaffenen Menschen – noch unsterblich war. Für Gilgamesch sieht er allerdings keinen Weg, zur Unsterblichkeit zu gelangen, verrät ihm aber zum Abschied, wie dieser die „Pflanze des Herzschlags“ finden kann, die Pflanze des sich ewig erneuernden Lebens (XI 281–286):

„Eröffnen will ich dir, Gilgamesch, eine geheime Sache,
und ich will dir ein Geheimnis der [Götter] sagen:
Es gibt eine Pflanze, deren Ausehen wie ein Dornstrauch ist,
ihr Dorn ist wie der der Rose, und sie wird dich stechen.
Wenn deine Hände diese Pflanze erreichen [können,
wirst du durch sie deine Lebenskraft wiedergewinnen.]“

Mit dieser Pflanze greift das Epos auf ein Motiv der syrisch-mesopotamischen Bildkunst zurück (Estes 2020), die in älteren Darstellungen einen Baum zeigt, der symmetrisch von zwei Capriden, ziegenartigen Tieren, flankiert wird, die – vermutlich zur Freude ihrer Hirten – meist von seinen Blättern knabbern. In jüngeren Darstellungen werden die Capriden zunehmend durch Keruben ersetzt, durch Mischwesen, die als Wächterfiguren mit dem Kopf eines Menschen, dem Körper eines Löwen und den Flügeln eines Adlers die stärksten Fähigkeiten aller Lebewesen verbinden. Dabei sind sie, dreidimensional gedacht, als den Betrachterinnen und Betrachtern zugewandt zu denken, um den Baum als Verkörperung der Fülle des Lebens vor unbefugtem Zugriff zu schützen.

Gilgamesch verabschiedet sich, taucht auf den Grund des Meeres hinab, findet die Pflanze des Lebens und macht sich mit Ur-Schanabi, dem Fährmann, die Pflanze in seinen Händen, auf den Heimweg. Doch als er unterwegs in einem Teich ein erfrischendes Bad nimmt und sie am Ufer unbewacht liegen lässt, wird sie von einer Schlange geraubt. Diese häutet sich – als Zeichen ihrer sofort eintretenden Verjüngung – und lässt ihn in seiner Sterblichkeit ohne Hoffnung zurück (XI 301–309):

„Nach zwanzig Meilen brachen sie das Brot,
nach dreißig Meilen schlugen sie das Nachtlager auf.
Gilgamesch sah einen Teich, dessen Wasser kühl war,
stieg hinein, um in dem Wasser zu baden.
Eine Schlange roch den Duft der Pflanze,
kam [lautlos] herauf und trug die Pflanze davon –
als sie davonglitt, warf sie ihre schuppige Haut ab.
Da setzte sich Gilgamesch weinend nieder,
die Tränen liefen ihm über die Wangen.“

So kehrt Gilgamesch – nun der Unausweichlichkeit seiner Sterblichkeit endgültig bewusst geworden – in seine Stadt Uruk zurück, um sein Leben im Wissen um sein Sterbenmüssen neu zu entwerfen und sich im Werk seiner Hände, im Bau der Stadtmauer von Uruk, zu verwirklichen und zu verewigen.

 

Die Wahrheit der altorientalischen Schöpfungsmythen

 

Wollte man diese Texte als historische Quellen lesen, wären sie obsolet, denn wir wissen inzwischen aufgrund der naturwissenschaftlichen Forschungen der letzten drei Jahrhunderte, dass die Welt vor 13,8 Milliarden Jahren in einem Urknall entstand und sich der Mensch in den letzten 5 Millionen Jahren aus Hominiden entwickelt hat.

Wenn wir sie hingegen mittels der Grammatik des mythischen Denkens als Erzählungen verstehen, die die Conditio humana narrativ umreißen, ohne sie statisch zu beschreiben, dann können wir die Wahrheit dieser beiden Mythen nicht bestreiten, denn die menschliche Verbindung von Arbeitenmüssen, Sterbenmüssen und dies auch noch zu wissen, ist zweifellos prekär.

Die biblische Schöpfungserzählung Gen 2,4b–3,24

Diese prekäre, den Menschen allein auszeichnende Verbindung zwischen seiner Sterblichkeit, seinem Wissen um seine Sterblichkeit und seiner Aufgabe, sein Leben im Wissen um seine ­Sterblichkeit führen und gestalten zu müssen, wird auch in der Schöpfungserzählung Gen 2,4b–3,24 thematisiert.

Allerdings ist diese von Spannungen durchzogen, die sich nur diachron, in der Annahme redaktioneller Fortschreibungen, erklären lassen, theologischer Überarbeitungen, die schließlich zur Überlagerung mehrerer Aussagesysteme geführt haben. So sind drei Schichten A – B – C sowie ein punktueller Zusatz BZ mit drei sich überlagernden und einander fortschreibenden Aussagesystemen zu unterschieden (Bieberstein 2008).

Alle drei Stadien der Erzählung weisen eigene stilistische und theologische Profile auf und sind zugleich vom gemeinsamen Bemühen getragen, die prekäre Conditio humana fortschreibend zu entfalten.

Nach der Grundschicht A (2,4–8.18–25; 3,20) erschuf Gott zunächst einen einzelnen Menschen und setzte ihn in einen Garten in Eden, er erschuf allerlei Tiere und führte sie ihm als potentielle Partner zu, doch als sie sich nicht als ihm entsprechende Partner erwiesen, schuf er zur Vollendung seines Werkes die Frau.

Dabei enthält diese Erzählung nur zwei Reden, die wie die Brennpunkte einer Ellipse das Spannungsfeld der Erzählung konstituieren: Gott stellt eingangs (in der ersten Gottesrede der Weltgeschichte!) in 2,18 das Problem fest: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.“ Und in 2,23 konstatiert abschließend der Mensch (in der ersten Menschenrede der Weltgeschichte!), dass das Problem nun gelöst sei: „Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau (ʾîššā) soll sie heißen, denn vom Mann (ʾîš) ist sie genommen.“

So thematisiert die Grundschicht der Erzählung erstmals in der Geschichte altorientalischer Schöpfungserzählungen die existentielle Einsamkeit des Menschen und die Suche nach ihrer Überwindung in einem Leben in Beziehung, vorzugsweise in Zweisamkeit, ohne die Gottes Schöpfung auch aus göttlicher Sicht nicht als gelungen gelten kann.

Die erste Bearbeitung B (2,9 ohne die Worte „den Baum des Lebens und“; 2,15–17; 3,1–19.21.23) indes betrachtet die Welt trotz der überwundenen Einsamkeit des Menschen nicht mehr ungeteilt als idyllisch. Vielmehr bringt sie eine weitere Gebrochenheit des Menschen ins Spiel und erzählt, Gott habe ins Zentrum des Gartens den „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ gepflanzt, und die Menschen haben ihren Griff nach seinen Früchten und damit ihre Erkenntnisfähigkeit mit ihrer Sterblichkeit bezahlt.

Dabei erschließt sich der Sinn der Erzählung (wie in ätiologischen Erzählungen üblich) wiederum erst von ihrem Schluss her: Gott hatte die Menschen gewarnt, sie würden den Griff nach dem Baum der Erkenntnis mit ihrem Tod bezahlen. Da sie nach dem Griff nicht tot umfielen und von einer Begnadigung keine Rede war, kann mit der Ankündigung ihres Todes keine Todesstrafe, sondern nur der Eintritt der Sterblichkeit gemeint gewesen sein (Blum 2004, 22–23). Schließlich galten die Menschen auch in den früheren, oben genannten altorientalischen Schöpfungsmythen als zunächst auf Unsterblichkeit hin geschaffen, und der Text wurde in deren Tradition auch in der christlichen Rezeption bis zur frühen Neuzeit, als eine zunehmend pseudonaturwissenschaftliche Lektüre des Textes ein adäquates Verständnis des mythischen Textes erschwerte, so verstanden.

Demnach galten die Menschen im Sinne der Erzählung zunächst stillschweigend als unwissend, aber als potentiell unsterblich. Erst mit ihrem Griff nach dem Baum der Erkenntnis wurden sie wissend, aber sterblich. Damit bietet die Erzählung eine Ätiologie der prekären Existenz des Menschen, sterblich zu sein wie ein Tier und zugleich wissend zu sein wie ein Gott und dadurch in der belastenden Situation zu stehen, als einziges Lebewesen sein Leben im Wissen um seinen unweigerlich kommenden Tod führen und aushalten zu müssen.

So thematisiert Bearbeitung B den Preis des Strebens nach Erkenntnis, den Verlust der naiven Unmittelbarkeit, den Helmuth Plessner (1928, 288–346) als „exzentrische Positionalität“ bezeichnet hat, die Erkenntnis der eigenen Nacktheit und Gebrechlichkeit, einen Preis, den zu erheben im Sinne der Logik der Erzählung auch Gott nicht enthoben war.

Somit kreiste Bearbeitung B zwar schon ständig um die beiden Attribute des Menschen, wissend und sterblich zu sein, doch wurde in ihr bislang nur das erste der beiden als Baum der Erkenntnis ins Bild gehoben, und erst Bearbeitung C (2,9c nur „den Baum des Lebens und“; 3,22.24) hat das Bild komplettiert und auch das zweite Attribut mit dem altorientalischen Motiv des Baumes des Lebens explizit in das Bild integriert: Ihr zufolge hatten im Garten nicht nur ein, sondern zwei Bäume gestanden, und nachdem die Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, hat Gott sie aus dem Garten Eden vertrieben, damit sie sich nicht auch noch am Baum des Lebens vergreifen, und ihnen durch Keruben verwehrt, zurückzukehren und auch noch von dessen Früchten zu essen. Die Fülle des Lebens ist dem menschlichen Zugriff – wie schon Gilgamesch lernen musste – auf immer verwehrt. So ist nach Plessner (1928, 309) mit der exzentrischen Positionalität auch die „konstitutive Heimatlosigkeit des menschlichen Wesens“ gegeben.

 

Die biblische Schöpfungserzählung Gen 1,1–2,4a

 

Während Gen 2,4b–3,24 also die existentielle Einsamkeit des Menschen und ihre Überwindung in der Zweisamkeit sowie, im Anschluss an die mesopotamischen Mythen, die prekäre Spannung zwischen Sterblichkeit entfaltet hat, nimmt Gen 1,1–2,4a die Mühsal der täglichen Arbeit aus dem Atram-Hasīs-Epos wieder auf und stellt klar, dass die Zielbestimmung des Menschen keineswegs im Fluch der täglichen Arbeit liegt. Vielmehr ist der Fluchtpunkt der Schöpfung im Privileg des Menschen zu sehen, am siebten Tag an der Ruhe Gottes teilhaben zu dürfen, als sein Stellvertreter aber auch verantwortlich für die Fortführung seines ordungsstiftenden Schöpfungswaltens zu sein (Bieberstein / Bieberstein 2017).

 

Die Wahrheit der biblischen Schöpfungsmythen

 

Demnach sind die antiken Schöpfungsmythen keine Auskünfte über Ereignisse der fernen Vergangenheit, sondern Erzählungen, die die Conditio humana thematisieren. Dazu setzen sie nach der Grammatik mythischen Denkens einen absoluten Anfang der Zeit und führen an ihm – um einen Notenschlüssel zum Verständnis der folgenden Menschheitsgeschichte zu liefern – ein, was erklärt werden soll: die prekäre Existenz des Menschen.

Jeder Versuch, derartige Mythen naturwissenschaftlich zu lesen, sie als eine naive Frühform naturwissenschaftlichen Denkens zu interpretieren und in heutiges naturwissenschaftliches Denken zu übersetzen, ist von vornherein abwegig, denn sie folgen einer anderen Grammatik und realisieren andere Funktionen, die im Leben nicht minder wichtig sind.

Weitere Medien vom Autor / Thema: Theologie | Kirche | Spiritualität

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema: Theologie | Kirche | Spiritualität

Wikimedia Commons
Literatur als Therapie
Erich Garhammer trifft Rilke-Biograf Manfred Koch
Donnerstag, 04.12.2025
© Reinhardhauke
Das Buch Hiob I
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 12.01.2026
© Reinhardhauke
Das Buch Hiob II
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 19.01.2026
© Reinhardhauke
Das Buch Hiob III
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 26.01.2026
© shutterstock / Alexandros Michailidis
Ordo-socialis-Preis 2025 an Sylvie Goulard
Politische Strategien gegen die radikale Rechte in Europa
Dienstag, 27.01.2026
© Reinhardhauke
Das Buch Hiob IV
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 02.02.2026
naturalista_Canva
Aufklärung und Religion
Historische Tage 2026
Donnerstag, 19.02. - Samstag, 21.02.2026
HAI LATTE von Carsten Strauch, Piotr J. Lewandowski
Augenblicke
Die Kurzfilmrolle 2026
Donnerstag, 26.02.2026