Fratelli tutti

Zentrale Stellen kommentiert

Im Rahmen der Veranstaltung "„Fratelli tutti“ – Was steht drin?", 05.10.2020

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Jeder Mensch hat das Recht, in Würde zu leben und sich voll zu entwickeln, und kein Land kann dieses Grundrecht verweigern. Jeder Mensch besitzt diese Würde, auch wenn er wenig leistet, auch wenn er mit Einschränkungen geboren oder aufgewachsen ist; denn dies schmälert nicht seine immense Würde als Mensch, die nicht auf den Umständen, sondern auf dem Wert seines Seins beruht. Wenn dieses elementare Prinzip nicht gewahrt wird, gibt es keine Zukunft, weder für die Geschwisterlichkeit noch für das Überleben der Menschheit.“ (FT 107)

Franziskus stellt in der Enzyklika Fratelli tutti die grundlegende Geltung der menschlichen Würde als Ausgangspunkt allen menschlichen Handelns und jeder gesellschaftlichen Struktur heraus. Was scheinbar banal klingt, kann meines Erachtens nicht oft genug wiederholt werden. In gesellschaftlichen Fragen, und oft auch in meinem Arbeitsbereich der Sozialen Arbeit, geht es immer wieder um die Frage, wie wir Menschen wieder in ein System einfädeln, wie sie sich einpassen lernen können. Aus ethischer Perspektive müssen wir aber aus der Warte des Individuums blicken. Wir müssen fragen, wie das System Andockstellen aufmachen kann für die Einzelnen, wie es sich verändern kann und muss, um alle teilhaben zu lassen. Die Sozialenzyklika ruft das „alte“ Prinzip der Personalität in Erinnerung und mahnt beharrlich, fast trotzig, doch unbeirrbar immer wieder an: Im Mittelpunkt steht der Mensch.

Dies wird besonders am Thema Migration deutlich, das der Text unter dem Begriff der Grenze einprägsam ins Bild bringt. Während Franz von Assisi durch seinen Besuch beim Sultan Malik Al-Kamil zeigt, wie kulturelle und religiöse Grenzen, sogar zwischen Feinden überschritten werden können (FT 3), stellt der Text die gegenwärtige Welt als Welt der „Abschottung“ dar, in der „verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen wieder auf[leben]“. (FT 11) Sie richten „neue Schranken zum Selbstschutz auf“ um „eine Kultur der Mauern zu errichten, Mauern hochzuziehen, Mauern im Herzen, Mauern auf der Erde um diese Begegnung mit anderen Kulturen, mit anderen Menschen zu verhindern“. (FT 27)

Scharf wendet sich Franziskus dagegen und macht deutlich: „Es ist nicht hinnehmbar, dass Christen diese Mentalität und die Haltungen teilen, indem sie zuweilen bestimmte politische Präferenzen über ihre tiefen Glaubensüberzeugungen stellen. Die unveräußerliche Würde jedes Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion ist das höchste Gesetz der geschwisterlichen Liebe.“ (FT 39)

Im Gegensatz zu dieser Kultur der Abschottung, der Exklusion, der Abwertung und Missachtung von Menschen zeichnet die Enzyklika eine inklusive Gesellschaft im Bild des Polyeders, das die Einheit der Vielfalt in ihrem Potential, aber auch in ihrer Herausforderung anschaulich visualisiert.

„Der Polyeder stellt eine Gesellschaft dar, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn. Denn man kann von jedem etwas lernen, niemand ist nutzlos, niemand ist entbehrlich. Dies bedeutet, dass die Peripherien mit einbezogen werden müssen. Wer in ihnen lebt, hat einen anderen Blickwinkel, sieht Aspekte der Realität, die man von den Machtzentren aus, in denen die maßgeblichen Entscheidungen getroffen werden, nicht erkennen kann.“ (FT 215)

Die Gegenüberstellung von Peripherie und Machtzentren als Begrifflichkeiten postkolonialer Theorie verweist auf die Notwendigkeit eines globalen Zusammenwirkens: „Wir brauchen eine rechtliche, politische und wirtschaftliche Weltordnung, die die internationale Zusammenarbeit auf die solidarische Entwicklung aller Völker hin ausrichtet.“ (FT 138)

Dies bezieht der Text auch ganz konkret auf die Gestaltung der internationalen Wirtschafts- und Finanzwelt und vor allem die Organisation der Vereinten Nationen, was besonders angesichts der jüngsten Geschichte der Untergrabung der Autorität und Funktionsfähigkeit der UN als eindeutige Positionierung verstanden werden kann. Ein gutes und wichtiges Signal.

Die strukturelle Gestaltung unserer Gesellschaft insgesamt zu überdenken, ist vor allem durch die Corona-Pandemie deutlich geworden. Die Enzyklika wirft punktuelle Spots auf die Thematik und zeigt neben der in der Zeit des Lockdowns deutlich gewordenen Vereinzelung auch auf, was positiv gewachsen ist:

„Die jüngste Pandemie hat uns erlaubt, viele Weggefährten und -ge­fährtinnen wiederzufinden und wert­zuschätzen, die in Situationen der Angst mit der Hingabe ihres Lebens reagiert haben. Wir können erkennen, dass unsere Leben miteinander verwoben sind und wir durch einfache Menschen Hilfestellung erfahren haben, die aber zweifellos eine bedeutende Seite unserer Geschichte geschrieben haben: Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, Supermarktangestellte, Reinigungspersonal, Betreuungskräfte, Transporteure, Ordnungskräfte, ehrenamtliche Helfer, Priester, Ordensleute und viele, ja viele andere, die verstanden haben, dass niemand sich allein rettet.“ (FT 55)

Es ist wichtig zu sehen, dass dahinter das immense Engagement von Menschen in der Care-Arbeit steht – ob unentgeltlich in der Familie geleistet oder schlecht bezahlt in der Pflege, der Sozialen Arbeit und in den pädagogischen Berufen, in haushaltnahen Dienstleistungen und Bereichen der Sicherung der Grundversorgung. Oftmals tragen diese Art der Arbeit Frauen. Sie und ihre Arbeit zu würdigen und auch gegen einen verkürzten Begriff von Arbeit im zurecht kritisierten Wirtschaftsliberalismus breiter hervorzuheben, wäre ein deutliches Zeichen für die Würdigung (meist) weiblicher ­Lebenswelten und der in der Enzyklika viel beschworenen Geschwisterlichkeit gewesen. Diese Chance hat die Enzyklika leider verpasst. Umso wichtiger ist es, die Fäden des Textes weiterzuspinnen, ihn zu lesen und seine Gedanken gemeinsam im beschriebenen Dialog fortzuentwickeln.

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