Sabine Rauh: Normalerweise dürfen an dieser Stelle die Preisträger sagen, warum sie sich besonders freuen über diesen Preis… Herr Kardinal, warum freuen Sie sich besonders über diesen Preis?
Reinhard Marx: Ich muss gestehen, dass mich der Erhalt dieses Preises sehr bewegt. Nie hätte ich es mir als junger Priester oder auch als Ministrant in meiner Heimat vorstellen können, einmal einen Ökumenischen Preis zu erhalten. Umso mehr aber empfinde ich nun tiefe Freude darüber, diesen Preis entgegennehmen zu dürfen – und natürlich auch darüber, dass dieser Preis einen so gelungenen Abschluss des Jahres 2017 markiert und damit gleichsam auch die entscheidenden Weichenstellungen für das neue Jahr vornimmt. Aus diesem Grund freut es mich besonders, dass die Arbeit aller Beteiligten durch diesen Preis bestätigt und gewürdigt wird.
Sabine Rauh: Herr Landesbischof, ich sehe, Sie freuen sich auch.
Heinrich Bedford-Strohm: Zunächst ist der Erhalt dieses Preises sowohl eine Bestätigung als auch ein Rückenwind für all diejenigen, die diesen Weg mit uns und miteinander gehen – und betrifft damit in erster Linie all diejenigen Menschen, die sich – oftmals gegen große Widerstände – in den Gemeinden seit vielen Jahren auf den Weg der Ökumene machen und nun hoffentlich einen Grund zu Freude haben, wenn wir nunmehr von unten, von oben, von allen Seiten sagen: Wir wollen neu auf Christus schauen und uns davon bewegen, aufeinander zubewegen lassen. Und auch die Freundschaft ist etwas, was viele Menschen in den Gemeinden seit vielen Jahren pflegen. Ich erlebe das immer wieder in den Gemeinden: Man trifft Menschen unterschiedlicher Konfession und spürt dabei die menschliche Qualität des Zusammenseins, man spürt gewissermaßen, wie das Geistliche und das Menschliche zusammengehören. Eben diese Freude ist letztlich der Grund dafür, weshalb dieser Preis unser Preis ist, nämlich ein Preis, der allen gewidmet ist.
Sabine Rauh: Sie sagen gerade, in den Gemeinden gehe das bereits seit vielen Jahren so. Natürlich ist es eine Frage der Definition, was „viel“ bedeutet. Zu meiner Kinderzeit erlebte ich das noch ganz anders: Meine Schwester durfte die Zigaretten für die Oma nicht im katholischen Laden kaufen, sondern eben nur im evangelischen Laden. Wie haben Sie das in Ihrer Jugend erlebt, Herr Kardinal?
Reinhard Marx: Diese Erfahrung deckt sich auch mit der meinen. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass wir in dieser Rückschau eine Entwicklung beobachten und verstehen müssen, in der ein jeder auch neugierig auf das Neue war. So gab es beispielsweise zu Gymnasialzeiten auch nicht-katholische Schulkameraden, die den katholischen durchaus nicht nachgeordnet wurden, sodass sich echte und tiefe Freundschaften daraus entwickelt haben – vollkommen abseits also der altbekannten konfessionellen Grenzen. Oder ein anderes Beispiel: Als junger Kaplan war ich in einem sehr protestantischen Gebiet tätig. Wir waren eine kleine Minderheit mit 27 Orten, und wenn ich die Kranken im örtlichen Krankenhaus besuchte, lag mir zunächst einmal die Liste der katholischen Kranken vor; nur war es aber so üblich, dass jedes Zimmer bis zu sechs oder sieben Kranke aufnehmen konnte, sodass ich mich – wie es wahrscheinlich jeder von Ihnen ebenso tun würde – dazu entschied, auch die nicht-katholischen Kranken zu besuchen. Und genau diese Erfahrung hat mich damals sehr beeindruckt. Ich habe dann gesagt: „Ich bin der katholische Kaplan. Ich möchte Ihnen auch einen guten Wunsch sagen. Wie geht es Ihnen?“. Daraufhin haben manche geantwortet: „Wissen Sie, Herr Kaplan, ich kenne noch meinen Konfirmationsspruch. Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Das hat mich mein ganzes Leben lang begleitet.“
Genau das hat mich so beeindruckt; da fragt man sich nämlich: „Was ist da für eine Kraft?“ Mehr noch: Aus Neugierde ging ich sogar, obwohl das damals nicht erlaubt war, in den evangelischen Gottesdienst, um Antwort auf die Frage zu finden: „Wie machen die das?“ Schließlich war die evangelische Kirche dort die Hauptkirche und wir nur die kleine Minderheit, sodass mich die großen Choräle damals sehr beeindruckt haben. Letztlich bin ich also davon überzeugt, dass Freundschaft wie auch jeder Lernprozess genau dann entstehen, wenn man sich – und das kann ein langer Weg sein – aufeinander zubewegt. Denken wir etwa an die früher oft selbstverständliche erste Frage des Vaters, wenn der Hoferbe des Bauernhofs kam und sagte: „Ich habe ein junges Mädchen kennengelernt.“ Dann war die erste Frage: „Ist sie katholisch?“ und nicht: „Liebst Du sie?“. Dieses Stadium haben wir heute wohl alle überwunden – und da können wir froh sein.
Sabine Rauh: Damals wurde das Mädchen dann selbstverständlich katholisch.
Reinhard Marx: Und umgekehrt wahrscheinlich genauso.
Sabine Rauh: Herr Landesbischof, wie haben Sie das erlebt?
Heinrich Bedford-Strohm: Wir erleben eigentlich jetzt, gerade in diesem Jahr und bis heute so etwas wie ein ganz breites „healing of memories“. Dabei spielen Geschichten wie die Deine eine besondere Rolle: Die sind zum Teil schmerzhaft, manche sind auch noch ein bisschen begraben, eben Geschichten von Menschen, die in ihrer eigenen Lebenszeit erlebt haben, dass und wie man sich gegenseitig verletzt hat, wie man sich gegenseitig einen Hut aufgesetzt hat, einen abwertenden Hut aufgesetzt hat, und wie man darunter gelitten hat. Bei solchen Geschichten spürt man heute aber den Atem der Befreiung, der entsteht, wenn Menschen sich einfach freuen, dass wir nunmehr an einem anderen Punkt angekommen sind – obwohl da noch so viel ist, das zum Teil begraben liegt und immer noch nachwirkt, sodass wir da noch einen langen Weg zu gehen haben.
Darüber hinaus ist auch das wechselseitige Verständnis, eben die Bilder, die wir von dem jeweils anderen haben, enorm in Bewegung geraten – gerade da liegt also noch viel vor uns. Ich glaube daher, dass dieses Reformationsjubiläums-/ und Gedenkjahr auch ein großes Bildungsjahr war, weil Menschen zum ersten Mal erlebt haben, wie „die Anderen“ eigentlich wirklich sind. Soll heißen: Dass auch „die Anderen“ tolle Gottesdienste feiern können oder etwa die Abendmahlsliturgien große Ähnlichkeiten miteinander aufweisen. Immer wieder erlebe ich dieses Staunen darüber, dass die Abendmahlsliturgien ja ganz ähnlich sind. Genau solche Einsichten aber machen mir viel Hoffnung – wenn man nämlich darüber redet, was alles an Vorurteilen, alles an persönlichen, verletzenden Erfahrungen da ist, dann ist das ja der erste Schritt, um voranzugehen.
Reinhard Marx: Dazu vielleicht eine Ergänzung: Eben wurde ja bereits Bezug genommen auf den Text „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ – und genau das ist eben auch eine Seite der Ökumene. Vieles ist geschehen in der Theologie, in Diskussionen über Texte, wobei gerade das Leben eben auch durch Begegnungen oder durch das, was Menschen erfahren, geprägt wird. Mit anderen Worten: Nicht alle Katholiken und evangelische Christen lesen die ökumenischen Texte, es kommt ebenso sehr auf die zeichenhaften Erfahrungen an. Jesus sagt: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Das gehört alles drei zusammen. Man kann das eine nicht ohne das andere haben. Zwar sind wir in der Theologie teilweise schon etwas weiter; dabei darf aber nicht vergessen werden, diese Einsichten auch wirklich zu sehen, sie praktisch auszuüben, gemeinsam zu feiern und sie miteinander kennenzulernen. In der Bischofskonferenz etwa habe ich davon gesprochen, dass wir Schritt für Schritt und damit jeweils aufs Neue überprüfen müssen, ob wir überhaupt über den anderen sprechen können – auch unter uns und ohne, dass der andere dabei ist. Genau das sollten wir ja im normalen Leben auch nicht tun. Zugegeben: Das ist eine leider etablierte, vielleicht auch gelegentlich selbstverständliche, Form unserer Kommunikation geworden, aber in der Regel sollte man miteinander statt übereinander sprechen. Mit einem Wort: Die praktische Dimension darf nicht vernachlässigt werden.
Sabine Rauh: Herr Landesbischof, Sie haben gerade schon das Stichwort genannt: „healing of memories“. Wir haben im März einen großen gemeinsamen Gottesdienst in Hildesheim gefeiert, der unter diesem Motto stand. Wir haben uns heute an Cicero erinnert, der von einer geistlichen Freundschaft spricht, von einer Freundschaft, die auch als „Konsens“ bezeichnet werden kann. Dieser Konsens heißt: „zusammen fühlen“. Bitte erzählen Sie von Ihren Gefühlen, die Sie aus diesem Gottesdienst erinnern.
Heinrich Bedford-Strohm: Diese Erinnerung weckt sehr starke Gefühle in mir. Es war nicht nur die abstrakte theologische Wahrheit, die natürlich in die gründlichen Vorbereitungen eingeflossen ist und die sehr gut überlegt war, sondern es war für uns alle sehr berührend, weil die Veranstaltung – wie heute ja auch – live im Fernsehen übertragen wurde. Auf diesem Wege konnten viele Menschen in Deutschland erreicht werden – ein glücklicher Umstand, der gerade durch die vielen Briefe, die wir danach erhalten haben, zum Ausdruck gekommen ist.
Dazu möchte ich ein Beispiel geben: Diese wuchtige riesige Metallsperre, die vor dem Altar lag, haben junge Menschen in einem bestimmten Moment des Gottesdienstes aufgerichtet, nachdem wir einander die zugefügten Wunden bekannt und um Vergebung gebeten haben; durch dieses Aufrichten formte sich die Metallsperre dann zu einem Kreuz und wurde damit zu einem Symbol dafür, dass nunmehr der Blick auf Christus gerichtet war, eben auf das Kreuz, das uns den Weg zum Altar öffnet, das uns den Weg in die Zukunft öffnet, den Weg in eine gemeinsame Zukunft öffnet – dieses Erlebnis war etwas ganz Starkes.
Dazu vielleicht noch etwas anderes: Lieber Reinhard, als Du gesagt hast, wofür Du dankbar bist bei den Evangelischen, dass Du als Kardinal die Synodendiskussion – hier sitzt übrigens unsere bayerische Synodalpräsidentin – schätzt und liebst, das fand ich sehr schön.
Reinhard Marx: Ebenso bewegt hat mich – wie ich bereits vielen Mitbrüdern erzählt habe – der letzte gemeinsame Gottesdienst in Wittenberg: Man stelle sich vor 20 Jahren den Ratsvorsitzenden der EKD vor, der auf der Lutherkanzel in Wittenberg den Papst in Rom als Bruder in Christus anruft: das ist doch unvorstellbar. Diese Tatsache gilt manchen als selbstverständlich, wohingegen mich dieses klare Plädoyer für eine echte Zusammengehörigkeit sehr bewegt hat. Oft vermutet man hinter so vermeintlich einfachen Worten keine große Bedeutung. Und doch wirken sie oft als Zeichen, die wiederum Emotionen hervorrufen können. Das sind echte Emotionen mit einem Fundament.
Sabine Rauh: An diesen Gottesdiensten konnten sehr viele Menschen teilhaben – durch die Medien, Sie haben es erwähnt. Weniger teilhaben konnten wir an Ihrer gemeinsamen Reise in das Heilige Land. Natürlich wurde darüber berichtet, aber wir waren nicht dabei. Sie sind gemeinsam an die Wurzeln unseres Glaubens gereist: Was hat das im Sinne von „gemeinsam fühlen“ mit Ihnen gemacht?
Heinrich Bedford-Strohm: Diese gemeinsame Reise hat in der Tat sehr viel mit uns gemacht. Es war eine sehr gut überlegte Entscheidung, dass wir, bevor das Reformationsjahr beginnt, gemeinsam diese Pilgerreise antreten, genau an den Ort, an dem auch Jesus gewirkt hat und das Evangelium seinen Ausgang nimmt. Daraus Inspiration und Kraft zu gewinnen, dort zu beten, Gottesdienst zu feiern und uns zu fokussieren auf den, von dem her wir alle kommen – das war die eigentliche Idee, die nicht zuletzt in dem Schmerz über die gegenwärtige Trennung an ihr Ziel gelangte.
Bereits zu Anfang in Tabgha, als wir am See Genezareth waren, war für mich ein ganz wichtiger Moment: Wir hielten dort am See im Freien eine Morgenandacht und konnten Jesus so durch das Evangelium präsent werden lassen. Am Abend feierten wir dann Gottesdienst in der dort gelegenen Kirche, die Brotvermehrungskirche heißt; Du hast Eucharistiegottesdienst gefeiert, wobei wir Evangelischen natürlich sitzen bleiben mussten. Genau diese Erfahrung war sehr schmerzhaft. Nach einem solchen Tag der (geistlichen) Gemeinschaft habe ich mich dann mit durchaus mulmigem Gefühl gefragt: „Was ist jetzt? Bin ich da ganz allein damit, diesen Schmerz so zu spüren und irgendwie das Gefühl zu haben, dass das nicht stimmig ist, dass wir nach einer solchen Form der Gemeinschaft nicht einmal gemeinsam Abendmahl feiern können?“
Als wir uns danach im Gästehaus versammelt und ein wenig zusammen gesessen haben, da konnte ich spüren, dass es den anderen ähnlich wie mir ging – und das war für mich eine große Befreiung, weil ich gespürt habe: „Ja, genau das ist unsere Situation, und genau diesen Schmerz haben wir; wir können aber auch nicht einfach hier im Heiligen Land alles über den Haufen schmeißen, ohne das mit jemandem zu konsultieren und das einfach gemeinsam machen.“
Es war mir klar, dass das nicht sinnvoll wäre, so sehr es mich in gewisser Weise auch danach gedrängt hätte. Die Tatsache, dass wir dieses Gefühl dann gemeinsam in der Kommunikation verarbeiten konnten, dass dieses Gefühl auch bei den weiteren gottesdienstlichen Feiern dieser Woche stets präsent war und damit auch der Wunsch oder vielleicht besser: die Sehnsucht danach, dass wir diese Gemeinschaft, die wir fühlen, auch am Tisch des Herrn miteinander zelebrieren und erfahren können, dass sich dieser gemeinsame Wunsch also in die Seele eingepflanzt hat, genau diese Tatsache ist aus dieser Woche bei mir so präsent geblieben. Natürlich könnte ich noch etwas mehr dazu erzählen, aber das scheint mir das Wichtigste zu sein.
Reinhard Marx: Diese Erfahrung scheint mir auch umgekehrt zu gelten. Manchmal kommt man zwar nicht umhin, die Sache nur aus einer Perspektive zu betrachten. Aber auch die katholischen Teilnehmer haben den skizzierten Schmerz gespürt und das Gefühl des Unwohlseins geteilt. Und genau das ist der Punkt. Dabei merkt man nämlich: „Hier ist etwas, das so nicht bleiben darf.“ Und dabei ist noch gar nicht bedacht, wie die Differenzen auch theologisch beizulegen wären – das kann man eh nur dann, wenn man die Aufgabe zusammen erlebt. Deswegen wurde in der Vorbereitung auch stets betont, dass wir nicht nur ökumenische Gottesdienste feiern wollen, sondern eben auch Gottesdienste in der lutherischen oder evangelischen Tradition bzw. in der katholischen Tradition feiern werden, aus Respekt vor dem anderen, aber gleichwohl im Miteinander.
Der letztendliche Effekt war aber so, wie wir ihn beide gleichermaßen empfunden haben, nicht wirklich vorauszusehen. Genau dadurch aber wird der Schmerz umso größer; je näher man sich nämlich kommt, umso mehr drängt sich auch die Einsicht auf, dass es so nicht bleiben kann. Und so bin ich auch der Überzeugung, dass dieses gemeinsame Erlebnis – entgegen aller allzu vorschneller Forderungen – einen sowohl bedrängenden als auch ermutigenden Charakter aufweist, nämlich das beiderseitige Wissen darum, dass es so, wie es ist, nicht bleiben kann. Deshalb will ich sagen: Gehen wir voran, versuchen wir miteinander Wege zu finden, dass es nicht so bleibt.
Sabine Rauh: Ich muss jetzt an Max Frisch denken: Vielleicht mussten Sie beide Ihre Ansprüche herunterschrauben, um Freunde werden zu können?
Heinrich Bedford-Strohm: Das klingt irgendwie zwiespältig. (lacht)
Reinhard Marx: Eher müssten die Ansprüche Gottes etwas höher gezogen werden.
Sabine Rauh: Mein Kommentar war zwiespältig gemeint. Herr Kardinal, Sie haben vorhin von der Zeichenhaftigkeit gesprochen. Was sind aus Ihrer Sicht die ökumenischen Früchte des Reformationsgedenkjahres?
Reinhard Marx: Daraus scheint tatsächlich eine Frucht gewachsen zu sein; zumindest sind immer mehr Menschen beider Konfessionen der Überzeugung: „Die beiden bekommt ihr nie wieder auseinander, die gehören zusammen. Sie werden sich auch gelegentlich streiten, im guten freundschaftlichen Sinne, aber sie werden zusammengehen, sie gehören zusammen, sie sind unter einem Label da, nämlich Christen!“ Wir sind Christen in dieser pluralen Gesellschaft. Genau dieser Gedanke ist stärker geworden.
Sabine Rauh: Und Sie meinen mit „die beiden“ nicht nur Reinhard Marx und Heinrich Bedford-Strohm.
Reinhard Marx: Nein, wir meinen damit die große Ökumene, die auch die Orthodoxe Kirche mit umfasst. Weil es eben eine so wunderbare und große Sache war, wurde der Fokus hauptsächlich auf die Beziehung zwischen Katholiken und Evangelischen gelegt; selbstverständlich aber sind auch die Orthodoxen, die Orientalen, Teil der ökumenischen Bewegung und sind darin enthalten. Sprich: Das ökumenische Denken ist dieses Jahr stärker geworden. Diesen Befund würde ich also durchaus als eine Frucht bezeichnen; auch bei mir empfinde ich nunmehr eine größere Bereitschaft und größere Kraft, den ökumenischen Weg weiter zu gehen. Mit anderen Worten: Das vergangene Jahr war für mich eine Ermutigung, eine Stärkung mit viel Rückenwind für die Zukunft.
Heinrich Bedford-Strohm: Diese Einsicht der Inklusion möchte ich nochmals unterstreichen. Freilich markiert das Jahr 1517 ein Datum, das – im Unterschied zur Orthodoxie – eine besondere Nähe zur römisch-katholischen und der evangelischen Kirche aufweist; das heißt allerdings nicht, dass nur diese zwei Parteien, schon gar nicht nur diese zwei Personen oder eben nur diese zwei Traditionen angesprochen sind. Ganz im Gegenteil: Es ist ja gerade der Grundgedanke der Ökumene, der auf alles weitere ausgreift. „Christus neu entdecken“ lautet schließlich die Formel, die uns alle miteinander verbindet, und zwar alle Konfessionen gleichermaßen. Genau deswegen haben wir auch bei der Vorbereitung dieses Jahres darauf geachtet, dass in den Kuratorien und Vorbereitungsgremien eben alle Konfessionen vertreten waren. Diese Inklusionsbewegung weist sogar über die christlichen Konfessionen hinaus. Wenn wir nämlich auf Christus schauen, von dem Paulus bekanntlich sagt: „Gott hat in Christus die Welt mit sich versöhnt.“ So steht da „Ton Cosmon“, also „die Welt“, „die ganze Welt“ und meint damit eben nicht nur die Christen. Und wenn das wirklich stimmt, dann steckt in dieser Bewegung zur Überwindung der Grenzen auch ein Zeichen für die gesamte Welt, also gerade nicht ausschließlich für die christlichen Konfessionen, sondern ein Zeichen dafür, dass nach 500 Jahren, in denen Menschen gegeneinander Krieg geführt haben, sie nun endlich diese Grenzen überwinden können. Will sagen: Dass wir damit ein Zeichen setzen in einer Welt, die so zerrissen und so gespalten und so von Hass und Abgrenzung geprägt ist an so vielen Orten. Wir sagen: Es kann gelingen, dass wir alte Abgrenzungen auch nach vielen Jahrhunderten überwinden. Und wir verlieren dabei nichts, sondern wir gewinnen etwas.
Ökumene tut nicht weh, sondern sie macht Freude, und diese Freude stärkt wiederum genau den Glauben, der uns allen gut tut. Und genau darin sehe ich eben ein ganz starkes Zeichen für diese Welt: dass es für die Welt gut ist, Grenzen zu überwinden.
Sabine Rauh: Damit haben Sie eigentlich meine nächste Frage schon beantwortet. Ich wollte nämlich fragen, ob und was – wie Ulrich Wilhelm es angesprochen hat – die Gesellschaft im Umgang mit Konflikten von den Kirchen oder von Ihnen beiden lernen kann? Ist die Ökumene vielleicht eine Blaupause für Konfliktlösung oder /-bearbeitung?
Reinhard Marx: In jedem Falle kann man sehen, dass man aus einer langen, konfliktiven Geschichte lernen kann und Schlüsse ziehen kann für eine bessere Zukunft. Ferner bin ich davon überzeugt, dass es sehr wichtig wäre, wenn ein jeder seinen Beitrag zu leisten versuchte – wenn auch nur einen kleinen. Aber der Kern ist und bleibt eben doch der christliche Glaube selber; das ruft uns nicht zuletzt das unmittelbar bevorstehende Weihnachtsfest mit seiner revolutionären Aussage in Erinnerung: Jesus ist der Bruder aller Menschen, genauer: Gott ist in Jesus der Bruder aller Menschen geworden. Deswegen weist das Christentum und der christliche Glaube – jeder Form von Nationalismus zum Trotz – einen universalistischen Kern auf, den wir gemeinsam bezeugen wollen.
Damit verbunden ist die Einsicht, dass es auf eben diesen Kern auch schwerpunktmäßig ankommt und dass wir von einem Gott reden, der der Vater aller Menschen ist, weswegen wir uns nicht damit zufrieden geben können, wenn Hass und Abgrenzung und Misstrauen und „wir zuerst“ und „wir gegen die anderen“ als allgemeine Wahlsprüche gelten. Das kann schlichtweg nie die Botschaft sein, die wir zu verkünden haben, sodass die Hoffnung darin besteht, durch diese ökumenische Schwerpunktbildung und Vorbildleistung lasse sich letztlich auch ein Dienst an anderen und für andere erkennen.
Heinrich Bedford-Strohm: Vielleicht kann man auch noch im Verhältnis zur Welt etwas hinzufügen, was für diese ganze Frage auch von zentraler Bedeutung ist, das ist nämlich dieses Wort Demut. Wenn wir als Vertreter der christlichen Religion auf unsere Geschichte schauen und wenn wir sehen, wie unfassbar wir selbst dem, was uns eigentlich antreiben sollte, zuwider gehandelt haben, dann ist es, glaube ich, auch gut, wenn wir diese Botschaft jetzt hier in aller Demut und Bescheidenheit zum Ausdruck bringen. Wenn wir auf die Konflikte in der Welt heute schauen, dann fragen wir uns ja: Warum verhakt man sich da so? Da sind wir nicht in der Position, belehrend oder gar hochmutig darüber zu reden, sondern wir haben ja selber erlebt, wie sehr man vergessen kann, was eigentlich im Zentrum steht, eigentlich das normale sein müsste. Deswegen würde ich sagen, gibt es eine tiefe Solidarität mit all denen, die in solchen Konflikten stecken, die weiß, wie schwer es manchmal ist, da rauszufinden. Aber wenn man diesen Vorspruch gemacht hat, dann darf man, glaube ich, auch das sagen, was wir eben versucht haben zu sagen: Dass es gelingen kann und, dass es allen gut tut, wenn es gelingt.
Sabine Rauh: Sie sind beide Sozialethiker. Manche Dogmatiker widersprechen Ihnen ja hörbar und lesbar in Ihren beiden Kirchen. Verstehen Sie sich auch deshalb so gut miteinander, weil Sie beide von diesem Interesse herkommen?
Reinhard Marx: Ja, ich habe ihn ja schon gekannt, als er noch Professor war, da war ich schon Bischof in Trier. Es trafen sich Kommissionen…
Heinrich Bedford-Strohm: Daran kannst Du dich sogar noch erinnern. Ich weiß es auch noch genau. Ein Abendessen in Berlin.
Reinhard Marx: Er schien mir nicht unsympathisch, auf keinen Fall. (lacht) Aber gut, das ist erst mal vom Fach her ein Interesse, man nimmt wahr, was der andere schreibt, etwa über soziale Marktwirtschaft, soziale Gerechtigkeit, aber das ist ja jetzt nicht unsere einzige Aufgabe. Wir kommen beide aus dieser Richtung, aber es ist jetzt nicht das Hauptarbeitsfeld. Und man muss eben auch alle Dogmatiker und alle Systematischen Theologen immer wieder daran erinnern, dass die theologischen Erkenntnisquellen nicht nur Texte sind, sondern auch das Leben selber. Das habe ich ja eben genannt. Also die Liturgie gehört mit dazu, dass man erkennt: Was ist jetzt dran? Ein gemeinsames Fest, eine gemeinsame Erfahrung! Also wir sind ein bisschen zu sehr eingeengt, auch in der Ökumene, auf Texte, Texte, Texte, bis der Satz stimmt und noch ein Komma und da kommt noch ein Adjektiv und dann ist es richtig, aber kein Mensch nimmt das wahr.
Es gehört natürlich dazu, dass wir intellektuell nachdenken, systematisch. Aber dann gehört auch das Fest dazu, die Liturgie und die Praxis; gerade auch die diakonische Praxis, die politische Praxis ist für mich auch eine Quelle der Erkenntnis, wie Christsein heute zu leben ist, und da kommen wir vielleicht stärker aus diesem praktischen Feld und schauen: Ja, Christsein in der Theorie ist das eine, aber Jesus hat ja kein Buch geschrieben, keine Theorie gemacht. Jesus hat gelebt und Zeichen gesetzt.
Das sind entscheidende Punkte, an denen deutlich werden soll, was eigentlich Christentum bedeutet, und da sind wir vielleicht von unserem praktischen Denken her etwas stärker, aber ich glaube das gehört zusammen. Ich wollte jetzt nicht gegen die Systematiker oder gegen andere sprechen. Aber es gehört zusammen. Die Wahrheit ist ja eine Person im Christentum. Sie ist kein System von Sätzen, sondern eine Person, der wir begegnen, und deshalb ist es wichtig, auch auf die Praxis zu schauen.
Heinrich Bedford-Strohm: Also das kann ich dick unterstreichen. Das habe ich auch von Anfang an bei ihm gespürt. Diesen Blick auf die Wirklichkeit, dass das sozusagen nicht eine dogmatische Wahrheit ist, die festgezurrt wird, die letztendlich über der Wirklichkeit hinwegsegelt, sondern zunächst einmal die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ich erinnere mich an viele Gespräche, als wir bei der Bioethik und all diesen Fragen einfach mal auf die Wirklichkeit geschaut haben und wo ich gespürt habe: Ja, wir nehmen die Wirklichkeit gemeinsam wahr. Und dass die Wirklichkeitswahrnehmung ihr Gewicht hat, das hat natürlich auch Konsequenzen für die Frage, welche Orientierungen wir geben. Segeln wir über der Wirklichkeit oder versuchen wir, die klaren Grundorientierungen, für die wir beide stehen, ins Gespräch zu bringen mit der Wirklichkeit.
Und das kann man auch nicht tun, indem man sagt: Da ist die Dogmatik und da ist die Sozialethik, sondern entscheidend ist ja, dass beides untrennbar miteinander verbunden ist. Dass wir sagen: „Wie können wir dieses Christuszeugnis heute leben?“ Aus meiner Sicht ist radikale Christusliebe immer auch radikale Liebe zur Welt, denn Christus ist für die Menschen gestorben, für die Welt gestorben und deswegen geht es gar nicht, dass man da eine fromme Innerlichkeit pflegt, ohne sich um die Welt zu kümmern. Das geht nicht von unserem Glauben her. Es mag Religionen geben, wo das der Fall ist. In der christlichen Religion, in der wir gerade wieder feiern, dass Gott Mensch wird und zu den Menschen kommt und ganz nach unten geht, ans Kreuz geht, als Folteropfer am Kreuz stirbt, in dieser Religion geht es nicht. Da heißt Gottes Liebe und Verbindung zu Gott immer auch radikale Liebe zur Welt, Einstehen für die Schwachen und einstehen dafür, dass der Mensch und seine Würde auch wirklich im Zentrum steht und wir uns alle auch dafür einsetzen.
Sabine Rauh: Und da Sie sich immer die öffentliche Theologie auf die Fahne geschrieben haben, sagen Sie das auch bei vielen Gelegenheiten außerhalb der Kirche.
Heinrich Bedford-Strohm: So ist es, das ist eben aus meiner Sicht etwas, was zusammengehört, wenn man öffentlich über den Glauben redet. Ich glaube, dass es falsch ist, wenn die Kirche sich einfach an die Welt anpasst, dem Zeitgeist hinterherrennt. Es gibt aber auch Zeitgeisterscheinungen, auf die wir glücklicherweise gehört haben. Nämlich die Menschenrechte. Da hat man auch gesagt: Die Kirche folgt dem Zeitgeist. Zum Glück haben die Kirchen ihren Widerstand gegen die Menschenrechte irgendwann endlich aufgegeben, weil sie kapiert haben, das, was damals aufklärerische Traditionen ins Zentrum gerückt haben, eigentlich eine Erinnerung an unsere ureigenen Sachen sind.
Manchmal kann es richtig sein, das auch wahrzunehmen. Wir brauchen ein klares Profil, sonst kann man auf uns verzichten. Aber dieses klare Profil kann natürlich umgekehrt auch nicht heißen, dass wir uns als Kontrastgesellschaft verstehen, die der Gesellschaft gegenübersteht, die ihre fromme Innerlichkeit pflegt und untereinander das letztendlich alles zu leben versucht, aber letztlich die Welt allein lässt. Nochmal: Gott hat in Christus die Welt, ton cosmon, mit sich versöhnt. Deswegen gehört klares Profil und ein radikales Sicheinlassen auf die Welt zusammen.
Reinhard Marx: Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Formulierung geprägt, schon Papst Johannes XXIII. sagte es, „die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums“ zu deuten, als eine wichtige theologische Erkenntnisquelle. Die Offenbarung ist uns geschenkt in Christus. Aber sie anzuwenden auf die jeweiligen Zeitumstände und die Zeichen der Zeit zu verstehen – da kann man nicht einfach sagen: Die Mehrheit hat Recht oder die Minderheit hat Recht, sondern man muss sie lesen, diese Zeichen, im Licht des Evangeliums und man muss schauen, was ist vom Evangelium her zu sagen, im Blick auf das, was geschieht. Dazu gehört theologische Anstrengung und vieles mehr. Was mich ein wenig stört: In der Öffentlichkeit werden wir natürlich oft nur dann als Kirche wahrgenommen, wenn wir sehr konkret etwas Politisches sagen. Dann ärgern sich manche, manche finden das toll. Wenn ich Liturgie feiere und predige, was ja eine Haupttätigkeit ist, gebe ich ja nicht hauptsächlich politische Stellungnahmen ab.
Heinrich Bedford-Strohm: Auch das verbindet uns, mir geht’s genauso. Man redet über Christus, 90 Prozent der Predigt geht über den Kern der Frömmigkeit und dann gibt es fünf Sätze über etwas Politisches und die sind dann diejenigen, die zitiert werden. Und die Leute denken, die reden ja wie die Politiker. Damit müssen wir irgendwie umgehen.
Reinhard Marx: Weihnachten werden wir es wieder sehen und uns bemühen.
Sabine Rauh: An so einem Tag ist es ja besonders schön, nicht immer von dem zu reden, was noch nicht ist. Sonst, im Alltag, wenn es um Ökumene geht – jedenfalls normalerweise in Gesprächen außerhalb der Kirchen, dann ist immer die Rede von dem, was noch nicht geht, was noch sein soll, vom Imperativ. Heute können wir die Ökumene der Herzen, die geistliche Freundschaft feiern, trotzdem frage ich, ob es nicht manchmal auch eine Ökumene aus Not geben müsste? Wegen des Mitgliederschwunds, wegen des Priestermangels, wegen der Unterversorgung in der Fläche, nicht nur in Ostdeutschland. Gehen Sie auch – notgedrungen – auf eine Ökumene der Not zu?
Reinhard Marx: Ich glaube, es ist ein bisschen schwierig, das so zu formulieren. Natürlich müssen wir auch da die Zeichen der Zeit interpretieren. Eine schwierige Sicht ist es für mich, zu sagen: Früher war alles besser, heute ist es schwieriger und negativer. So einfach kann ich nicht leben. Ich muss die jeweilige Zeit nehmen, sie deuten im Licht des Evangeliums und dann können wir uns auf den Weg machen. Aber dabei könnten wir die ökumenischen Potentiale noch weiter entfalten. Wir haben gesprochen über Krankenhausseelsorge, wir haben gesprochen über Notfallseelsorge, die weitgehend ökumenisch stattfindet, nicht aus der Not heraus, sondern weil man auch weiß, wir bekommen eine gute Zusammenarbeit zustande. Es ist aber kein Zusammenlegen, keine Fusion von zwei schwachen Unternehmen: die können nicht gesunden, wenn sie fusionieren. Sie müssen im Kern gesund sein, gut drauf sein, Motivation haben, Ziele haben und auch wirklich engagiert arbeiten. Dann kann man über Kooperation nachdenken, aber nicht wenn man sagt, wir sind so schwach, dann gehen wir lieber mit zwei Schwachen zusammen. Das geht nicht. Dann schon eher im Hinblick auf die Zeichen. Was sagen uns die Zeichen der Zeit heute? Was können wir gemeinsam sogar noch besser tun? In eine solche Richtung würde ich eher denken. Das ist für mich in diesem Jahr ein Impuls.
Heinrich Bedford-Strohm: Dieses Jahr hat gezeigt, dass es eben mehr gibt, als irgendwelche Noterfordernisse, die uns dazu bringen, dass wir uns in diese Richtung bewegen wollen. Es ist der Inhalt, über den wir jetzt schon die ganze Zeit zu Recht, mit guten Gründen geredet haben. Christus selbst, das ist der Inhalt, der uns zu alledem bringt und der öffnet überhaupt erst mal die Tür, lässt uns schauen, wie wir viel mehr erreichen können. Und zwar im Sinne dieses Inhalts. Es gibt es viele Beispiele, wo das gut gelingt, aber es gibt auch noch vieles, worin wir noch viel mehr gemeinsam machen können. Wir haben in Hildesheim auch bei den Selbstverpflichtungen erklärt, dass wir gemeinsam diakonisch viel stärker zusammenarbeiten wollen. Die diakonischen Werke, Caritas, Brot für die Welt, Misereor arbeiten auch sehr gut zusammen. Aber auf dieser Ebene geht noch mehr und wir haben uns auch vorgenommen, dass wir das Preisgeld dieses Ökumenischen Preises auch genau dafür einsetzen wollen. Wir wollen kleine ökumenische, diakonische Projekte stärken – wenn Menschen sich um Obdachlose, Menschen ohne Wohnung kümmern. Vielleicht braucht es nur einen Anschubbetrag, damit man zusammenkommen kann. Das ist das, was wir gerne mit dem Geld machen wollen.
Reinhard Marx: Das sehe ich genauso. Das hatten wir im Prinzip so abgesprochen. Vielleicht gibt es neben den diakonischen noch andere ökumenische Projekte, die jetzt in das Blickfeld rücken. Da müssen wir vielleicht noch einmal intensiver nachdenken. Es muss ja auch nicht bei dem Preisgeld bleiben, vielleicht gibt es auch noch andere, die etwas dazu geben, aber man braucht eine gute Idee: Wie können wir diesen Gedanken, also nicht Ökumene der Not, sondern Ökumene der gemeinsamen Perspektiven, an den Projekten sichtbar machen. Das wäre eine tolle Idee und dann loben wir vielleicht einen Preis aus.
Sabine Rauh: Es wurde vorher das gemeinsame Dokument von 2013 zitiert, „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“. Nun lebe ich auch in Gemeinschaften verschiedenster Art und da haben wir Konflikte. Insofern finde ich diesen Titel ein bisschen unglücklich. Geht es nicht auch, dass Sie Gemeinschaft leben, vielleicht sogar institutionalisieren, mit allen Konflikten?
Heinrich Bedford-Strohm: Ich glaube, dass das in der Tat zu jeder Gemeinschaft gehört, wenn sie ehrlich ist. In der Gemeinschaft sind nicht nur völlig gleichgesinnte Menschen zusammen, sondern da sind unterschiedliche Menschen beisammen, bei denen es natürlich dann auch Konflikte gibt, sodass die einzige Frage ist: Wie geht man um mit diesen Konflikten? Und vor allem auch: Wie viel Vertrauen ist da? Das ist, glaube ich, auch der entscheidende Punkt. Hast du Vertrauen zu dem anderen? Wenn ich jetzt irgendwas in der Zeitung lesen würde, wo ich sage: Huh? Warum hat er denn das gesagt? Oder umgekehrt, dann kann es sein, dass er an dieser Stelle eine Meinung vertritt, bei der wir nicht einig sind, an der wir uns zusammenraufen müssen. Im Moment sehr unwahrscheinlich, weil im Moment, wenn er ein Interview gibt, denke ich immer: Das hätte ich genauso gesagt.
Aber es kann auch einfach sein, dass es falsch wiedergegeben worden ist. Früher hätte sich dann etwas aufgebaut. Da hätte man dann Misstrauen empfunden. Das ist für mich kein Thema. Ich weiß ganz genau, dass es eine starke Vertrauensbasis gibt und das gilt nicht nur für uns beide als Personen, sondern das weitet sich immer weiter aus und man kann es an bestimmten Dokumenten sehen. Als die EKD die Schrift „Rechtfertigung und Freiheit“ veröffentlicht hat, gab es erst mal eine mich überraschende gereizte Reaktion, gerade von den Ökumenikern auf der katholischen Seite.
Das war eine Schrift, in der wir die theologischen Inhalte versucht haben deutlich zu machen, mit denen wir ins Reformationsjubiläum gehen wollen. Und das wurde dann manchmal so missverstanden, als ob die Intention Abgrenzung gewesen wäre. Wir haben viel geredet und ich habe dann ein Vorwort für die vierte Auflage geschrieben, in dem ich diese Missverständnisse zu überwinden versucht habe. Wenn diese Schrift heute erscheinen würde, – dann würden wir uns zuerst einmal verständigen, würden nicht gleich denken, der andere grenzt sich jetzt ab, sondern da wäre diese Vertrauensbasis vorhanden. Das ist ein Beispiel dafür, wie konkret ein solches Grundvertrauen sein kann, das manchen jetzt vielleicht zu wenig konkret ist. Dieses Nichtanfassbare ist sehr anfassbar.
Reinhard Marx: Man muss davon ausgehen, dass es vielstimmig bleibt. Wir können nicht für alle, die ihre Stimme erheben an irgendeiner Stelle die Hand ins Feuer legen. Es gibt auch eine gewisse Freiheit der Kinder Gottes, sich zu äußern: die Theologen, die Bischöfe. Da können wir nicht sagen: Nur wenn wir sprechen, spricht die Kirche. So einfach ist das nicht. Der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz sind keine konfliktfreien Zonen. Das möchte ich einmal vermuten und insofern gehen wir jetzt damit um, auch mit der Vielstimmigkeit. Natürlich, jeder hat eine Verantwortung. Wir haben jetzt auf Zeit eine Verantwortung für die beiden Kirchen, in besonderer Weise Stellung zu nehmen und da nehmen wir uns vor, das in diesem Stil zu tun und ich hoffe, dass andere diesen Stil dann auch positiv bewerten.
Sabine Rauh: Herr Kardinal, haben Sie sich jemals gewünscht evangelisch zu sein? Außer bei der netten Bauernhoferbin?
Reinhard Marx: Erstens hatte ich nie eine Heirat im Sinn, insofern fällt das schon mal aus. Nein, der Gedanke ist mir eigentlich nie gekommen. Ich bin froh wie es ist.
Heinrich Bedford-Strohm: Bei mir ist es auch nicht so gewesen. Aber ich glaube, das ist auch gar nicht notwendig, denn der entscheidende Punkt ist ja, dass wir uns gegenseitig entdecken, in der jeweiligen Konfession, in der wir sind. Es geht auch nicht darum, eine Einheitssoße zu rühren, sondern es geht darum, auch sich freuen zu können an gewachsenen Traditionen anderer. Ich könnte jetzt gleich nochmal eine ganze Menge an Dingen nennen: Das hat sich in der katholischen Tradition entwickelt, davon können wir etwas lernen. Und das ist der richtige Modus, dass wir uns freuen an unseren Traditionen. Bei uns natürlich die Frauenordination. Das ist für uns ein Riesengeschenk und wir könnten nie darauf verzichten. Wir haben damit beste Erfahrungen gemacht. Insofern würde ich natürlich nie sagen: Das geben wir jetzt auf für die Einheit. Sondern es darum, dass wir uns an unseren Traditionen freuen und jetzt ausloten, an welchen Punkten sind diese Unterschiede noch kirchentrennend und an welchen Punkten sind sie es nicht mehr? Das ist die Hauptherausforderung, nicht dass wir die Unterschiede jetzt einfach einebnen.
Reinhard Marx: Wir müssen als katholische Kirche, so habe ich das in der Bischofskonferenz gesagt, miteinander darüber sprechen, das gilt natürlich besonders auch auf der Weltebene, da sind wir als Bischofskonferenz natürlich nicht alleine gefordert. Aber, vielleicht besonders weil wir in Deutschland sind, sind wir gefordert, einmal zu sagen: Wie definieren wir diese Unterschiede, die dann nicht mehr kirchentrennend sind? Also nicht zu sagen, alle müssen genauso werden wie wir als katholische Kirche – erst dann ist die Einheit da. Einheit ist vielleicht ein Wort, das sofort mit Einheitlichkeit verbunden wird.
Wir müssen schauen, ob man einen gemeinsamen Weg gehen kann. Oder wir können entdecken: Ja, wir bleiben an diesem Punkt unterschiedlich, aber diese Unterschiede nehmen wir nicht mehr als wirklich kirchentrennend wahr. Dieser Weg hat noch einmal Schub bekommen durch das Jahr 2017.
Sabine Rauh: In ein paar Tagen ist Weihnachten. Wünschen Sie sich was!
Reinhard Marx: Ich wünsche mir immer wieder, dass viele Menschen den Zauber dieses Festes spüren. Manche denken ja, Weihnachten ist völlig vom Konsum überlagert. Ich sage immer: Weihnachten kann man eigentlich nicht zerstören. Das ist ein Gesamtkunstwerk und ich hoffe, dass viele Menschen einfach im Blick auf diesen Menschen, Jesus von Nazareth, Hoffnung schöpfen, dass sie getröstet sind, dass sie besser von Weihnachten weggehen, als sie reingegangen sind; das wäre schon schön.
Heinrich Bedford-Strohm: Ich kann eigentlich nur daran anschließen. Glaube, Liebe, Hoffnung. Diese drei haben ganz viel mit Weihnachten zu tun. Die Kraft von Weihnachten, von seinem Inhalt her, dass Gott Mensch wird, dass der Heiland der Welt geboren wird, dass dieses Kind in der Krippe hat die Welt verändert. Er hat als Erwachsener die Liebe ausgestrahlt, in einer Radikalität, die wir so nie gekannt haben und die Menschen in aller Welt inspiriert, im Sinne dieser Liebe auch in die Welt hinein zu wirken. Und das aus einem tiefen Vertrauen heraus, dass Gott diese Welt nicht allein lässt, dass diese Welt nicht im Dunkeln landet, sondern sich öffnet ins Licht und ein neuer Himmel und eine neue Erde uns vor Augen steht. Wenn wir diese Hoffnung an Weihnachten wieder neu gewinnen, dann wäre Weihnachten einmal mehr ins Ziel gekommen.