Grüne Auen und verdorrtes Gras: Die Psalmen

Der Schöpfungspsalm 104

Im Rahmen der Veranstaltung "Biblische Tage 2017", 10.04.2017

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Strukturübersicht

 

Ps 104 ist ein Loblied auf den Schöpfer, der alles wunderbar geordnet hat. Er beginnt mit einem Lobaufruf mitבָּרֲכִי נַפְשִׁי אֶת־יְהוָה . Das ist ein Imperativ der Wurzel BRK pi., was eigentlich „segnen“ bedeutet. Im Lateinischen heißt das „benedic anima mea“. Das lateinische „benedicere“ bedeutet „Gutes sagen (über)“ – oder eben „preisen“. Der Lobaufruf kehrt in V. 35 wieder, sodass eine Rahmung um den gesamten Psalm entsteht. Der Vorgängerpsalm 103 weist eine ganz ähnliche Rahmung auf (Ps 103,1.2.22).

Der Psalm erzählt von der Gestaltung der Elemente durch Gott: Licht, Himmel, Himmelsozean, Wind, Feuer, Erde, Bändigung der Urflut, Berge und Täler. Er fährt fort mit der harmonischen Schöpfung. Heute nennt man das das ökologische Gleichgewicht der Lebensbereiche: Wasserkreislauf, Tiere, Menschen – alle sind gut versorgt.

Ab V. 19 geht die poetische Darstellung über in die Harmonie der Zeit: Mond und Sonne sind zuverlässige Zeitgeber. Tag und Nacht entsprechen unterschiedlichen Lebensbereichen: Die Nacht gehört den wilden Tieren; der Tag ist das Betätigungsfeld des Menschen.

Der Abschnitt V. 24–26 spricht über die wunderbaren Werke Gottes, vor allem im Blick auf das Meer. Im letzten Abschnitt wird betont: Alles Leben ist in Gottes Hand.

Strukturierende Elemente: Ps 104 wird durch Metatexte und gliedernde Sentenzen mit verallgemeinernder Formulierung strukturiert. Metatexte sind die Reflexionen des Beters über sein Tun: die Selbstaufforderung zum Lobpreis (Preise JHWH, meine Seele); das dauernde Lobversprechen (V. 33); der Wunsch, JHWH möge das Dichten des Beters gefallen (V. 34).

Mehrere Sätze mit allgemein-gültiger Formulierung fassen das Gesagte (eher abstrakt) zusammen. Am Anfang (V. 1) steht eine allgemeine Reflexion über die Größe Gottes, über seine Hoheit und Pracht. Dann wird dies näher ausgefaltet, indem von JHWH mehr und mehr auf seine Schöpfung übergeleitet wird. V. 24 fasst dann das Staunen über die Werke JHWHs zusammen. Dann wird nochmals angesetzt und die lebenserhaltende Fürsorge Gottes betont (wohl aber auch die Sterblichkeit). V. 31 wiederum setzt der Vergänglichkeit der Welt die Ewigkeit von Gottes Herrlichkeit entgegen.

V. 35 kontrastiert der geschilderten Schöpfungsharmonie die Existenz der Sünder und Frevler, die diese Harmonie stören – sie müssen verschwinden. Ihr Tun passt nicht in die von Gott geordnete Welt.

Feinstrukturen: Bei der Gestaltung der Elemente durch Gott (V. 2-9) ist zu beachten, dass die Naturphänomene (Himmel, Wind/Sturm, Feuer) in Israels Umwelt durchweg göttlichen Charakter haben. Die Erwähnung des Lichtes am Anfang der Schöpfungsschilderung entspricht dem Konzept von Gen 1: das erste Schöpfungswerk überhaupt ist das Licht. Bei der Gründung der Erde wird das feste Fundament betont, ebenso auch die Bändigung der Urflut (תְּהוֹם). Hier wird an die Sintflutgeschichte (Gen 6-9) angespielt.

Die Untergliederung von 10-18 ist nicht leicht, denn die Harmonie der Schöpfung im Sinne eines ökologischen Gleichgewichts, bei dem alles mit allem zusammenhängt, wird auch sprachlich dadurch ausgedrückt, dass ein Bereich in den anderen übergeht: Gras für das Vieh, Pflanzen für den Menschen, die er anbaut; die Zedern des Libanon, in denen die Vögel nisten; eine wichtige Beobachtung besteht darin, dass der Mensch als Geschöpf Gottes inmitten dieser Harmonie als ein Teil ohne besondere Privilegien wirkt.

Bei V. 19 ist wieder zu beachten, dass Mond und Sonne in der Umwelt Israels immer göttliche Wesen sind (Ägypten: Der Mond verkörpert die Götter Chons, Thot und Jach, die Sonne Re und Aton; Babylon: Mondgott Sin und Sonnengott Schamasch). Aber schon in Gen 1 werden Mond, Sonne und Sterne nur als Lichter apostrophiert – sie sind Geschöpfe, keine Götter.

Die Nacht (V. 20-21) ist ein Teil der Natur, kein Reich der Dämonen oder des Todes (wie im Aton-Hymnus). Als Lebensraum der wilden Tiere ist die Nacht der Verfügungsgewalt des Menschen entzogen, nicht aber der Verfügung Gottes, der in der Nacht Nahrung für die jungen Löwen besorgt. Das Reich des Menschen ist der Tag. An ihm geht er seiner ureigenen Aufgabe nach, der Arbeit.

V. 24 ist ein zusammenfassender Lobpreis allgemeiner Art. Aus dem Staunen heraus ergibt sich der Blick auf ein weiteres Beispiel: Nach der Erde (Land) wird nun das Meer in den Blick genommen. Auch hier gibt es eine Tierwelt und einen Bereich des Menschen (Schiffe). Unverfügbar ist für den Menschen der Leviatán, das mythische Meermonster, der aber für Gott ein Spielzeug ist. Der Leviatán ist ein schlangenartiges Meerungeheuer. Im Hintergrund steht der ugaritische Mythos über das Seeungeheuer „ltn“, „lītānu“, das von Ba‘al und Anat getötet wird. Im AT (Ps 74,12-17; Ijob 40,15-41,26) ist der Leviatán Repräsentant des Chaos, das von JHWH besiegt wird (uranfänglich und immer wieder). Die Schlange als widergöttliche Macht und Bedrohung für die Weltordnung findet sich in Ägypten in der Gestalt der Apophis-Schlange.

Die V. 27-28 einerseits und der V. 29 andererseits kontrastieren Lebendigkeit und Sterblichkeit in der Schöpfung: Lebendigkeit ist überall, aber nur möglich aufgrund der Fürsorge Gottes, der alles Lebendige mit Speise versorgt. Die Gegenwart Gottes erhält am Leben. Wenn Gott sich abwendet, tritt der Tod ein, der aber letztlich auch ein unverfügbares Tun Gottes („nimmst du ihnen den Atem“) ist. V. 30 stellt – gleichsam als Folgerung daraus – den Geist Gottes heraus, der immer wieder neues Leben schafft und so permanent die Erde umgestaltet („Creatio continua“). Bemerkenswert dabei ist, dass im Hebräischen das gleiche Wort „rūaḥ“ sowohl für den Atem des Menschen als auch für den Geist Gottes verwendet wird. Angesichts der permanenten Umgestaltung der Erde durch Werden und Vergehen sehnt sich der Mensch nach Beständigkeit und Ewigkeit – sie gehört aber allein Gott. V. 32 illustriert die Allmacht Gottes durch Verweis auf Naturerscheinungen wie Erdbeben und Vulkane.

 

II. Besonderheiten

Es gibt zahlreiche Bezüge von Ps 104 sowohl zum Alten Orient und Alten Ägypten als auch zu anderen Schöpfungsaussagen innerhalb der Bibel – und dennoch hat der Text sein eigenes Gepräge.

– Der Mensch hat nicht wie in Gen 1 einen herausragenden Schöpfungsauftrag oder eine besonders markierte Stellung in der Schöpfung.

– Die Systematik ist nicht chronologisch angelegt wie in Gen 1 (6+1-Tage-Schema), sondern eher zyklisch: das Leben ist ein fortwährender Prozess, Tag und Nacht wechseln sich ab, ebenso Werden und Vergehen.

– „Schöpfung“ ist nicht nur einmaliges Handeln Gottes – auch der Mensch hat Anteil daran, indem er die Natur kultiviert (Ackerbau, Weinbau).

– Ps 104 konstatiert keine erhebliche Differenz zwischen den heutigen realen Abläufen und dem Schöpfungsplan Gottes – anders als in der Urgeschichte (Gen 2–3).

– Anders als Aton, die Sonnenscheibe, ist JHWH nicht Teil der Schöpfung – trotz allen immanenten Wirkens geht JHWH nicht in der Schöpfung auf, sondern steht ihr immer noch gegenüber. JHWH ist personaler Schöpfer einer Harmonie, die dann aber auch ohne sein permanentes Eingreifen segensreich ablaufen kann (anders als in Ägypten, wo der Sonnenkreislauf eine permanente Kosmogonie, Tag für Tag, darstellt).

Datierungsversuch: Die Nicht-Erwähnung eines Königs könnte darauf hindeuten, dass der Text in einer Zeit entstanden ist, in der es keinen König in Israel mehr gab. Stattdessen ist der Einzelne als Partner Gottes gefragt, ein schöpfungsgemäßes Leben zu führen. Die freie Verwendung und kreative Umgestaltung überlieferter Formen und Traditionen lässt ebenfalls auf eine literaturgeschichtlich spätere Epoche schließen. Die Nähe zu Gen 1, die aber nicht für die Annahme einer literarischen Abhängigkeit ausreicht, spricht auch für eine nachexilische Entstehungszeit.

Die Nähe zum Großen Aton-Hymnus: „Insbesondere der sog. ‚Große Sonnenhymnus’ spielt in der religions- und bibelwissenschaftlichen Forschung seit einem Jahrhundert eine bedeutende Rolle als angebliche Vorlage für Ps 104. Art und Umfang der formalen und inhaltlichen Parallelen in beiden Texten sind dutzendfach diskutiert und widerlegt worden. Eindeutige Hinweise auf eine aktive Rezeption einer ägyptischen Vorlage durch kanaanäische, israelitische oder judäische Dichter oder Theologen existieren nicht. Die Phraseologie der Hymnen des 14. Jh.s v. Chr. wurde jedoch noch ein Jahrtausend später in Ägypten produktiv verwendet, so dass von einer breiten und kontinuierlichen innerägyptischen Hymnentradition gesprochen werden kann. Sollte Ps 104 wirklich das Ergebnis eines literarischen Austauschs gewesen sein, wird es sich bei der ägyptischen Vorlage um eine zeitgenössische Quelle gehandelt haben“ (Carsten Knigge Salis).

Mit anderen Worten: Der Dichter von Ps 104 hat nicht den „Großen Aton-Hymnus“ in Hieroglyphenschrift im Grab des Eje gelesen und dann seinen Psalm gedichtet. Aber: Wortschatz, Motive, Formulierungen aus dem Großen Aton-Hymnus waren offenbar jahrhundertelang in Ägypten aktiv („in aller Munde“) – von daher, vielleicht sogar aus einem schriftlichen Text, der inzwischen verloren ist, hat der Dichter von Ps 104 seine Anleihen bezogen. Die Berührungspunkte sind eindrucksvoll. Abschließend gebe ich vier Beispiele:

  1. Die Bewunderung für die Sonne, die Nacht als Zeit der Gefährdung (wilde Tiere), der Tag als Zeit des Menschen (Arbeit)
 

3 Gehst du unter am westlichen Horizont,

ist die Erde in Finsternis,

in der Verfassung des Todes. …

4 Jedes Raubtier ist aus seiner Höhle herausgekommen, alles Gewürm sticht.

Die Finsternis ist ein Grab,

die Erde liegt in Schweigen:

ihr Schöpfer ist untergegangen an seinem Horizont.

Ps 104,19-23

19 Du machst den Mond zum Maß für die Zeiten,

die Sonne weiß, wann sie untergeht.

20 Du sendest Finsternis und es wird Nacht,

dann regen sich alle Tiere des Waldes.

21 Die jungen Löwen brüllen nach Beute,

sie verlangen von Gott ihre Nahrung.

Am Morgen bist du aufgegangen am Horizont

und bist strahlend als Sonne des Tages.

Du vertreibst die Finsternis, du gibst deine Strahlen,

die beiden Länder sind im Fest täglich.

Was auf Füßen steht, erwacht: du hast sie aufgerichtet, sie reinigen ihre Körper und ziehen 5 Leinengewänder an; ihre Arme sind in Lobgebärden bei deinem Erscheinen, das ganze Land tut seine Arbeit.

22 Strahlt die Sonne dann auf,

so schleichen sie heim

und lagern sich in ihren Verstecken.

23 Nun geht der Mensch hinaus an sein Tagwerk,

an seine Arbeit bis zum Abend.

 

 

  1. Gottes Schöpfung als Quelle der Nahrung für Tiere und Menschen
Alles Vieh befriedigt sich an seinen Kräutern,

Bäume und Pflanzen grünen.

Die Vögel fliegen auf aus ihren Nestern,

ihre Flügel in Lobgebärden für deinen Ka.

Alles Wild hüpft auf seinen Füßen,

alles, was auffliegt und niederschwebt,

6 sie leben, wenn du für sie aufgehst.

 

Ps 104,14-17

14 Du lässt Gras wachsen für das Vieh,

und Pflanzen für den Ackerbau des Menschen,

damit er Brot gewinnt von der Erde

15 und Wein, der das Herz des Menschen erfreut,

damit er das Angesicht erglänzen lässt mit Öl

und Brot das Herz des Menschen stärkt.

16 Die Bäume des Herrn trinken sich satt,

die Zedern des Libanon, die er gepflanzt hat.

17 Dort bauen die Vögel ihr Nest,

auf den Zypressen nistet der Storch.

 

  1. Die Bewunderung für die Gewässer
6 …

Die Schiffe fahren stromab

und stromauf in gleicher Weise.

Jeder Weg ist offen durch dein Erscheinen.

Die Fische im Fluß

springen vor deinem Angesicht;

deine Strahlen sind im Innern des Ozeans.

Ps 104,25-26

25 Da ist das Meer, so groß und weit,

darin ein Gewimmel, nicht zu zählen:

kleine und große Tiere.

26 Dort ziehen die Schiffe dahin,

auch der Leviatán, den du geformt,

um mit ihm zu spielen.

 

  1. Allgemeiner Lehrsatz: Wie zahlreich sind deine Werke
Wie zahlreich sind deine Werke

die dem Angesicht verborgen sind,

8 Du einer Gott, dessengleichen nicht ist!

Du hast die Erde erschaffen nach deinem Herzen, der du allein warst,

mit Menschen, Herden und jeglichem Wild,

allem, was auf Erden ist und auf (seinen) Füßen läuft,

(allem,) was in der Luft ist und mit seinen Flügeln auffliegt.

Ps 104,24

Wie zahlreich sind deine Werke, Herr,

sie alle hast du mit Weisheit gemacht,

die Erde ist voll von deinen Geschöpfen.

 

Ps 86,8

Mein Herr, unter den Göttern ist keiner wie du

und nichts gleicht deinen Werken.

 

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