Grundlegendes zur Pflegebedürftigkeit im Alter

Das Alter hat angesichts der Ausdehnung des Lebens an Zeitraum und Bedeutung gewonnen. Rein zeitlich betrachtet kann dieser letzte Lebensabschnitt vor dem Hintergrund der gestiegenen Lebenserwartung durchaus zu einer dominanten Lebensphase werden. Das Alter ist aber auch charakterisiert durch die Zunahme alterskorrelierter chronischer Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ 2, Krebserkrankungen und durch Funktionsverluste, resultierend aus den altersabhängigen physiologischen Veränderungsprozessen von Organen und Organsystemen. Zu den altersabhängigen, mit kognitiven Funktionsverlusten einhergehenden Veränderungsprozessen gehört beispielsweise die Demenz.

Ob das Alter eher in Gesundheit oder in Krankheit verbracht wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die Kompressionstheorie geht davon aus, dass ältere Menschen trotz steigender Lebenserwartung von funktionalen Einschränkungen verschont bleiben und Krankheit und Einschränkungen erst in den letzten Lebensjahren auftreten. Die Expansionstheorie dagegen geht davon aus, dass die zusätzlichen Lebensjahre nicht in Gesundheit, sondern eher im kranken Zustand verbracht werden aufgrund innovativer Behandlungsmethoden, die die Lebenserwartung der Menschen verlängern, aber nur selten zur Wiederherstellung der Gesundheit beitragen. Anzumerken bleibt, dass sowohl die Kompressions- als auch die Expansionstheorie zu komplex sind, um sie für allgemeingültige Aussagen wie die Vorhersage von Erkrankungszeitpunkten nutzen zu können.

Im Alter kann jeder Mensch beispielsweise durch Unfall oder Krankheit auf Hilfe im Alltag angewiesen sein. In der Regel stellt eine plötzlich eintretende Pflegebedürftigkeit alle Beteiligten vor große Herausforderungen und ist mit vielen Fragen verbunden.

 

Pflegebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch

 

Der Begriff der „Pflegebedürftigkeit“ wurde erstmals im Jahr 1995 mit der Einführung der sozialen Pflegeversicherung definiert. Laut dem elften Sozialgesetzbuch (SGB XI) gelten diejenigen Menschen als pflegebedürftig, „die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen“.

Maßgeblich für das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit sind gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeit in den folgenden sechs Lebensbereichen:

  1. Mobilität, wie beispielsweise die Fortbewegung innerhalb der eigenen Wohnung, Positionswechsel im Bett, das Halten einer stabilen Position im Sitzen
  2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten, wie beispielsweise zeitliche und örtliche Orientierung, das Erkennen von Personen aus dem eigenen Umfeld, die Erinnerung an wesentliche Ereignisse, das Mitteilen von Bedürfnissen, die Beteiligung an Gesprächen
  3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen wie beispielsweise nächtliche Unruhe, selbstschädigendes Verhalten, Aggression anderen Personen gegenüber, Abwehr pflegerischer Maßnahmen, Ängste
  4. Selbstversorgung wie beispielsweise Körperpflege, Zubereitung der Nahrung, Nahrungsaufnahme
  5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen wie beispielsweise Medikamenteneinnahme, Wundversorgung, Arztbesuche, Einhalten von Diäten
  6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte wie beispielsweise die Strukturierung des Tagesablaufs, Eigenbeschäftigung, Zukunftsplanung, Interaktion mit Angehörigen und Bekannten

Bei der Ermittlung des Schweregrades der Pflegebedürftigkeit fallen die einzelnen Bereiche prozentual unterschiedlich ins Gewicht. Die Lebensbereiche werden durch die Begutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) betrachtet und unterschiedlich gewichtet. Der Lebensbereich Selbstversorgung erfährt mit 40 Prozent die höchste Gewichtung, gefolgt vom Bereich Umgang mit krankheitsspezifischen/therapiebedingten Anforderungen mit 20 Prozent und den Bereichen Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte, kognitive und kommunikative Fähigkeiten beziehungsweise Verhaltensweisen und deren Problemlagen mit jeweils 15 Prozent und zuletzt der Lebensbereich Mobilität mit 10 Prozent.

Der Begutachter wird das Ausmaß der Einschränkung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten anschauen und eine Gesamtbewertung vornehmen. Dann erfolgt die Einstufung in einem der fünf Pflegegrade. Zum 1. Januar 2017 wurden die Pflegestufen durch die Pflegegrade abgelöst.

Entscheidend für die Einstufung in einem Pflegegrad sind der Grad der Selbstständigkeit, die Fähigkeiten des jeweiligen Pflegebedürftigen sowie die benötigte personelle Unterstützung. Im Fokus der Begutachtung stehen damit die Selbstständigkeit und die Fähigkeiten pflegebedürftiger Menschen. Die Kernfragen sind dabei: Was kann ein Mensch noch alleine? Wobei benötigt er personelle Unterstützung?

 

Die Leistungen der Pflegeversicherung

 

Die Leistungen der Pflegeversicherung können die Versicherten auf Antrag erhalten. Dazu wendet sich der Versicherte an seine Pflegekasse. Die Leistungen werden ab Antragstellung gewährt, frühestens jedoch von dem Zeitpunkt an, in dem die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen.

Das Recht auf Selbstbestimmung spiegelt sich beispielsweise in der Möglichkeit, über die Art der Pflege zu entscheiden. So hat ein pflegebedürftiger Mensch die Wahl, ob er sich von einem Angehörigen oder einem Pflegedienst zu Hause pflegen lassen oder lieber in einem Heim untergebracht werden möchte. Auch wenn die Unterbringung in einem Heim als Wahlmöglichkeit besteht, so unterstützt die Pflegeversicherung mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege.

Pflegebedürftige, die zu Hause durch einen ambulanten Pflegedienst versorgt werden, können Sachleistungen entsprechend ihres Pflegegrades beanspruchen. Der Pflegedienst rechnet erbrachte Sachleistungen zur Vergütung seiner Dienstleistungen direkt mit der Pflegeversicherung ab. Eine weitere Möglichkeit stellt die Inanspruchnahme von Kombinationsleistungen dar. Pflegebedürftige, die sich sowohl von einem Angehörigen als auch von einem Pflegedienst versorgen lassen, können Pflegegeld und Sachleistungen kombinieren. Pflegebedürftige, die zu Hause gepflegt werden, können zusätzlich einen zweckgebundenen Entlastungsbeitrag in Anspruch nehmen. Mit dieser Leistung kann der Pflegebedürftige beispielsweise seine Betreuung im Alltag sicherstellen.

 

Pflegesachleistungen

 

Die Pflegesachleistungen können differenziert werden in körperbezogene Pflegemaßnahmen wie Waschen, Kämmen, Rasieren oder Aufnahme der Nahrung, in pflegerische Betreuungsmaßnahmen wie Entwicklung und Aufrechterhaltung einer Tagesstruktur und Hilfe bei der Haushaltsführung wie Kochen, Spülen, Reinigung der Wohnung.

Neben Leistungen aus dem SGB XI können Leistungen der Behandlungspflege nach SGB V erforderlich sein. Darunter werden ausschließlich medizinische Leistungen verstanden. Diese Leistungen erfolgen auf Grundlage einer ärztlichen Verordnung durch Pflegefachkräfte bei einem Pflegebedürftigen im häuslichen Umfeld, aber auch in stationären Altenpflegeeinrichtungen.

Leistungen der teilstationären und stationären Pflege umfassen Tagespflege, Nachtpflege und Pflegeheime. In Einrichtungen der Tagespflege werden pflegebedürftige Menschen versorgt, die abends und nachts in ihre eigene Wohnung zurückkehren. Das Angebot der Nachtpflegeeinrichtungen ähnelt dem Programm der Tagespflege. Dort werden die Pflegebedürftigen von den Abendstunden bis zum Aufstehen versorgt. Interessant ist dieses Angebot vor allem für Pflegebedürftige, die einen veränderten Tag-Nacht-Rhythmus haben.

 

Der Ort der Versorgung

 

Die Versorgung pflegebedürftiger Menschen erfolgt in Deutschland im ambulanten und stationären Bereich. Im Jahr 2015 lebten in Deutschland 2,9 pflegebedürftige Menschen mit Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XI. Von den 2,9 Millionen Menschen werden 73 Prozent zu Hause versorgt, entweder alleine durch Angehörige, zusammen mit einem ambulanten Pflegedienst oder alleine durch einen ambulanten Pflegedienst. In Heimen vollstationär werden lediglich 27 Prozent der Pflegebedürftigen versorgt. Diese Entwicklung entspricht Studienergebnissen, die zeigen dass lediglich rund 11 Prozent der Befragten in einem Heim leben möchten, wenn der Lebensalltag nicht mehr allein zu bewältigen ist. Der Großteil der Menschen möchte im häuslichen Umfeld bleiben und entweder auf familiäre und/oder professionelle Unterstützung zugreifen, um den Lebensalltag zu bewältigen.

Für die ambulante Versorgung ergibt sich hieraus ein zunehmender Bedarf an Versorgungsleistung. Prognosen gehen davon aus, dass sich bis zum Jahr 2050 die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland im Vergleich zum Jahr 2012 um 72 Prozent erhöhen wird. Die steigende Anzahl an Pflegebedürftigen lässt für das gesamte Gesundheitssystem und nahezu alle medizinischen, therapeutischen und pflegerischen Fachberufe die Frage aufkommen, wie, wo und durch wen die Pflegebedürftigen in Zukunft versorgt werden sollen.

 

Veränderungen durch das neue Verständnis von Pflegebedürftigkeit

 

Seit der Einführung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs wird kritisiert, dass die Zuordnung zu einer der Pflegestufen auf körperlichen und organischen Einschränkungen basiert, psychische und kognitive Einschränkungen werden nicht mit berücksichtigt. Aspekte, wie die der Kommunikation und die der sozialen Teilhabe bleiben damit im Leistungsrecht der Pflegeversicherung unberücksichtigt.

Der Gesetzgeber hat auf diese Kritik in mehreren Schritten reagiert. Im Rahmen des zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II) wurde zum 1. Januar 2017 ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt. Mit diesem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff wird die Zielsetzung der Gleichbehandlung von körperlich, kognitiv und psychisch beeinträchtigten Menschen verfolgt. Seitdem ersetzen fünf Pflegegrade die bisherigen drei Pflegestufen.

Mit den fünf Pflegegraden kann die Art und der Umfang der Leistungen unabhängig von körperlichen, geistigen oder psychischen auf die jeweiligen individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse abgestimmt werden. Der Bewertungsmaßstab für die Zuordnung zu einem der Pflegegrade ist der Grad der Selbstständigkeit und nicht mehr der Zeitaufwand des Hilfebedarfs. Die Potenziale eines Menschen werden damit stärker in den Blick genommen, die Bewertung orientiert sich an Ressourcen. Zur Erfassung der Pflegebedürftigkeit wurde ein neues wissenschaftlich fundiertes Assessment zur Begutachtung entwickelt. Mit diesem Assessment wird der Grad der Selbstständigkeit bei Aktivitäten in sechs pflegerelevanten Modulen erfasst. Das neue Verständnis von Pflegebedürftigkeit bietet zudem eine größere Grundlage für die Ableitung von Präventions- und Rehabilitationspotenzial.

In der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen und Multimorbidität wird seit längerem die Orientierung an Defiziten kritisiert. Ein ganzheitliches Versorgungsverständnis im Sinne des bio-psycho-sozialen Modells erfordert neben der körperlichen Ebene den Einbezug der psychischen und der sozialen Ebene chronisch erkrankter Menschen. Mit einer ganzheitlichen Sichtweise lassen sich Implikationen für die Versorgung chronisch Erkrankter wie Prävention, Gesundheitsförderung, Selbstmanagement ableiten. Vor allem bei chronischen Erkrankungen können die davon betroffenen Menschen, selbst einen Teil im Umgang mit ihren Erkrankungen beitragen.

Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff wird ein Perspektivenwechsel angestrebt. Allerdings erfordert dieser Perspektivenwechsel ein anderes fachliches Verständnis seitens der Pflege und der anderen Gesundheitsberufen, sie werden damit vor neue Aufgaben gestellt.

Für ältere Menschen ist es die Regel, an einer oder mehreren chronischen Erkrankungen zu leiden. In der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen kommt neben der Stabilisierung der Erkrankung das Selbstmanagement hinzu. Die Betroffenen möchten und müssen trotz chronischer Erkrankung ihren Alltag bewältigen. An dieser Stelle kommt den Ressourcen eine hohe Bedeutung zu. Von daher ist es der richtige Weg, wenn sich die Bewertung der Pflegebedürftigkeit an Potenzialen des Menschen orientiert und nicht nur ausschließlich an deren Defiziten. Die Betreuung eines Pflegebedürftigen steht somit als gleichberechtigte Leistung neben den körperbezogenen pflegerischen Maßnahmen und den Hilfen bei der Haushaltsführung.

Die Gesundheitspolitik hat mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz auf die langjährige Kritik reagiert und dem Begriff der Pflegebedürftigkeit ein anderes Verständnis zugrunde gelegt. Für die Gruppe der Pflegebedürftigen ist dies ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung.

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