I.
Gustav Stresemanns Bild schwankt in der Geschichte, nicht allein bei Zeitgenossen, sondern auch bei Nachlebenden. Doch finden Sie im Titel meines Vortrags über den kurzzeitigen Reichskanzler und langjährigen Außenminister der Weimarer Republik keinen Hinweis, warum er selbst bei Historikern umstritten war oder noch ist. Und noch weniger können Sie sich vorstellen, weshalb in der AfD überlegt wird, ihre geplante Parteistiftung nach Stresemann zu benennen. Legt man den Akzent auf den ‚Vernunftrepublikaner‘ und ‚Verständigungspolitiker‘, handelt es sich bei der AfD-Initiative zweifellos um eine Provokation. Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Dafür gibt es vor allem zwei Gründe:
Erstens die Neigung, vergangene Epochen und historische Persönlichkeiten unter dem Blickwinkel und Wertmaßstäben unserer eigenen, also einer späteren Epoche zu beurteilen. Genau diese gegenwartsbezogene Egozentrik widerspricht jedoch der Tugend des Historikers, nicht die eigene Zeit als Maßstab zu nehmen, sondern eine Persönlichkeit unter den spezifischen Charakteristika ihrer, uns oft fremden Zeit zu beurteilen. Das schließt keineswegs aus, die Wirkungsgeschichte historischen Handelns ebenfalls zu analysieren.
Zweitens haben wir bei Stresemann tatsächlich ein Problem, nämlich seine Widersprüchlichkeit. Sie lässt sich freilich zum wesentlichen Teil entwicklungsgeschichtlich auflösen, kurz gesagt: Meine im Titel zum Ausdruck kommende Bewertung legt den Akzent eindeutig auf das letzte Jahrzehnt seines Wirkens, also die Jahre 1919 bis 1929.
Trotzdem muss man den ‚ganzen‘ Stresemann im Blick haben, und das wirft Fragen auf: Wie ist es zu erklären, dass der Nationalist und Annexionist des 1. Weltkriegs in den 1920er Jahren zum wichtigsten europäischen Verständigungspolitiker wurde? Wie ist es zu erklären, dass der Monarchist Gustav Stresemann neben dem ersten Reichspräsidenten, dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert, zur stärksten Stütze der Weimarer Republik und des Weimarer Parlamentarismus wurde? Ist das ‚Rätsel‘ Stresemann wirklich so unlösbar?
Tatsächlich gibt es historische Erklärungen für den Wandel Stresemanns, der – wie später Franz Josef Strauß – sich selbst mit einem Wort Conrad Ferdinand Meyers charakterisiert hat: Ich bin „kein ausgeklügelt Buch, sondern ein Mensch mit seinem Widerspruch“. Die Gründe liegen in seiner individuellen Entwicklungsgeschichte, im Doppelcharakter des Nationalliberalismus und vor allem in den Brüchen und Diskontinuitäten der deutschen Geschichte, auf die der Politiker Stresemann reagieren musste. Und nicht zu vergessen: Bei jedem Spitzenpolitiker kommt es immer wieder zu taktischen Wendungen, nicht jedes Wort kann auf die Goldwaage gelegt werden, vielmehr kommt es auf das langfristige Handeln an.
II.
Beginnen wir mit einer knappen Skizze von Gustav Stresemanns Werdegang, hat er doch selbst in seinen Fragment gebliebenen autobiographischen Bemerkungen von 1923 auf den Einfluss der Jugendjahre hingewiesen: Gustav Stresemann wurde am 10. Mai 1878 in Berlin als jüngstes von sieben überlebenden Kindern eines Großhändlers für Flaschenbier geboren. Im überwiegend kleinbürgerlichen und proletarischen Berliner Stadtteil Friedrichshain hatte es der Vater, der auch Wohnungen vermietete und eine Gaststätte betrieb, zu einem relativen Wohlstand gebracht, man siedelt die Familie in der Regel im unteren wirtschaftsbürgerlichen protestantischen Mittelstand an. Trotz vieler Geschwister fühlte er sich einsam, vergrub sich in seiner eher illiteraten Familie, der einige Tragödien nicht erspart blieben, in eine intensive Lektüre historischer und literarischer Werke. Er wurde zu einem zeitweilig von Lenau und der Romantik beeinflussten etwas melancholischen, gebildeten Einzelgänger. Hohe Begabung und sehr gute Zensuren ermöglichten ihm als erstem in seiner Familie ein akademisches Studium. Doch handelte es sich nicht um das eigentlich angestrebte Studium der Literatur und Geschichte, da er ein sog. Realgymnasium ohne klassische Sprachen besucht hatte. Schließlich studierte er in Berlin und Leipzig Nationalökonomie und wurde dort als 22jähriger mit einer Dissertation über den Berliner Flaschenbierhandel promoviert. Darüber ist oft gespottet worden, doch hatte nicht er selbst, sondern sein Doktorvater das Thema ausgesucht. Stresemann wollte ursprünglich eine Arbeit zur theoretischen Nationalökonomie schreiben. Doch handelte es sich bei seiner Doktorarbeit um eine interessante Studie, die auf der Grundlage vielfältiger Quellen langfristige Trends erklärt und Prognosen eines wirtschaftlichen Strukturwandels entwickelt.
Diese Vorgeschichte erklärt zu einem Gutteil seine nun folgende berufliche Laufbahn: Stresemann wurde in Sachsen zum Lobbyisten mittelständischer Wirtschaftsverbände, die er in kürzester Zeit mit großem organisatorischen und publizistischen Talent erst schuf, weil er die wirtschaftspolitischen Zeichen der Zeit erkannt hatte. Aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage geriet Stresemann bald mit den Verbänden der Großindustrie in Konflikt, was auch Folgen für seine spätere politische Laufbahn hatte. Schon in einem Alter von kaum 25 Jahren hatte er erhebliches Ansehen als versierter und öffentlichkeitswirksamer Verbandssyndikus gewonnen, was ihn schnell in die Politik führte.
Während dieser Jahre heiratete Stresemann die wohlhabende, ebenso elegante wie charmante Berliner Industriellentochter Käthe Kleefeld, mit der er eine glückliche Ehe führte. Sie war Mittelpunkt Berliner Salons, wie er auch selbst alle möglichen Netzwerke knüpfte. In diesen Verbindungen ging es keineswegs nur um wirtschaftliche Interessen, war doch darunter die angesehene Mittwochsgesellschaft in Berlin, in der neben Politikern auch Intellektuelle und Wissenschaftler verkehrten. Nicht nur daran zeigte sich, dass Stresemann zu denjenigen gehörte, die bewusst Politik und Kultur verbanden. Im Übrigen bestärkte ihn die jüdische Herkunft seiner Frau in seiner schon von jeher geübten Kritik am Antisemitismus.
III.
Mitbegründer und Mitglied einer Reformburschenschaft, die sich dezidiert gegen den Antisemitismus anderer Burschenschaften wendete, blieb Stresemann bildungsbeflissen und liberal im Sinne der Revolution von 1848/49. Dieses politische Engagement und seine Neigungen zur Publizistik zeigten sich auch in seiner frühen, immer wieder aufgenommenen nebenberuflichen journalistischen Tätigkeit. Der ursprünglich eher schüchterne Einzelgänger entwickelte kommunikative Fähigkeiten, konnte schriftlich und mündlich immer besser mit dem Wort umgehen und wurde schließlich einer der besten Redner des Deutschen Reichstags. In diesen gelangte er, unterstützt von seiner wirtschaftspolitischen Klientel, nachdem er in seinem sächsischen Wahlkreis einen fulminanten, geradezu modern anmutenden Wahlkampf geführt hatte. Mit kaum 29 Jahren wurde er bereits 1907 Reichstagsabgeordneter – das war zumal für die damaligen Usancen sehr früh.
Für ihn als Bildungs- und Wirtschaftsbürger, als Protestant und Liberaler kamen nur die beiden liberalen Parteien in Frage. Ursprünglich tendierte Stresemann zur Fortschrittspartei, vertrat er doch in Bezug auf Verfassungsordnung und Wahlrecht sowie sozialpolitisch als Anhänger von Friedrich Naumanns Nationalsozialem Verein eher linksliberale Positionen. Die Klientel seiner Wirtschafts- und Verbandstätigkeit tendierte indes zu den Nationalliberalen. Die Entscheidung für diese vergleichsweise konservativere liberale Partei ist zwar auch auf seinen politischen Ehrgeiz zurückführen, doch bleibt für seine spätere Laufbahn charakteristisch, dass seine politischen Positionen oftmals zwischen beiden Parteien changierten. Dafür bestanden zwar auch Opportunitätserwägungen. Doch lag der tiefere Grund darin, dass er in keiner der beiden Parteien ganz und in beiden partiell zuhause war. Diese Ambivalenz wird uns noch an verschiedenen Kreuzungspunkten seiner Laufbahn beschäftigen. Sie bewirkte indes eine Paradoxie: Stresemann war während seines gesamten politischen Wirkens im Prinzip nach beiden Seiten, nach links und nach rechts, koalitionsfähig und wurde deswegen nicht selten des Opportunismus bezichtigt. Andererseits machte gerade diese ‚Anschlussfähigkeit‘ in den 1920er Jahren viele seiner großen Erfolge überhaupt erst möglich, weil er sich immer wieder auf unterschiedliche Parteien stützen musste. Und hiermit verband sich der Vorwurf des Karrierismus eines aus dem Kleinbürgertum stammenden ehrgeizigen Aufsteigers.
Seine nationalliberale Option führt zum ersten zentralen Problem: Stresemann war Nationalliberaler und die häufig anzutreffende spätere Kritik an seinem Nationalismus im ersten Weltkrieg greift deshalb zu kurz, weil der Liberalismus sich im 19. Jahrhundert von Beginn an als liberale Verfassungsbewegung und nationale Einigungsbewegung entwickelt hatte – und zwar auch beim linken Flügel der Liberalen. Nach erfolgter Reichseinigung 1871 hat sich diese nationale Tendenz keineswegs abgeschwächt, insofern blieb der nationale Patriotismus Gustav Stresemanns vollkommen in der sich über Generationen entwickelnden Tradition. Und da die europäischen Nationen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert überwiegend einem Kolonialismus huldigten und die Großmächte damit immer stärker imperiale Ziele verbanden, verstärkte sich unter Kriegsbedingungen dieser aggressive Imperialismus, der sich aber keineswegs auf das Deutsche Reich beschränkte. Deutschland fühlte sich als Kolonialmacht zu kurz gekommen, litt aufgrund seiner Mittellage zwischen den Großmächten Russland, Frankreich und Großbritannien unter Einkreisungsängsten und sah sich überdies vom britischen Imperialismus und seiner Seemacht bedroht.
Uns Heutigen erscheinen solche Ängste und vor allem die sich auf dieser Basis entwickelnden weitreichenden Kriegsziele völlig inakzeptabel und gefährlich. Vor und im I. Weltkrieg aber waren nicht nur Politiker, sondern weite Teile der Gesellschaft davon geradezu besessen. Wie Stresemann selbst wähnte sich der größte Teil der Deutschen in einem Verteidigungskrieg, was – wie wir seit mehr als einem halben Jahrhundert definitiv wissen – falsch war. Stresemann teilte nicht alle besonders vom rabiat nationalistischen Alldeutschen Verband verfochtenen Ziele, doch gingen auch seine Eroberungspläne sehr weit: Er begründete sie vor allem wirtschaftspolitisch und sicherheitspolitisch – sicherheitspolitisch gegen Großbritannien gerichtet, das er – im Gegensatz zur späteren Forschungslage – als hauptverantwortlich für den Weltkrieg ansah. Bis zum Frühherbst 1918 hatte Stresemann kriegspolitisch gesehen an allen fatalen Irrtümern Anteil. Er zählte sogar zu den Befürwortern des unbeschränkten U-Boot-Krieges 1916, eine der verhängnisvollen deutschen Entscheidungen, durch die die USA zum Kriegseintritt bewegt wurden.
Zwar lehnte Stresemann die Friedensresolution der Mehrheitsfraktionen des Deutschen Reichstags ab, die 1917 einen Frieden ohne Annexionen auf der Basis des territorialen Status quo ante forderten. Doch sah auch er schließlich ein, dass Deutschland einen Verhandlungsfrieden erreichen müsse, wollte aber nicht alle vermeintlichen Trümpfe aus der Hand geben, bevor die militärische Entwicklung nicht eindeutig war. Durch dieses Taktieren geriet er in einen unüberwindlichen Gegensatz zur Reichstagsmehrheit aus Sozialdemokraten, katholischer Zentrumspartei und der eher linksliberalen Fortschrittspartei, mit denen er im Interfraktionellen Ausschuss und beim Sturz des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg partiell zusammengearbeitet hatte. In seinen Aufzeichnungen von 1923, die als Grundlage einer späteren Biografie dienen sollten, leugnete er seine annexionistische Haltung im Weltkrieg nicht.
IV.
Nun aber kompliziert sich das Problem erneut, war doch der Annexionist des I. Weltkriegs, der seit 1917 nach dem Tod des Parteivorsitzenden Ernst Bassermann Fraktionsvorsitzender der Nationalliberalen Reichstagsfraktion geworden war, verfassungspolitisch und gesellschaftspolitisch ein dezidierter Reformer – ein Reformer, der die Verfassungsordnung des Kaiserreichs viel entschiedener modernisieren wollte als die Mehrheit seiner Partei. Verfassungspolitisch stand er den Fortschrittlichen und der Sozialdemokratie näher als den eigenen nationalliberalen Parteifreunden. Und hinzu kam: Anders als die Konservativen und ein großer Teil der Nationalliberalen hielt er es für notwendig, die Sozialdemokraten nicht länger als Außenseiter zu betrachten, sondern politisch und gesellschaftlich zu integrieren und ggf. mit ihnen zu koalieren. Spätestens seit die SPD im August 1914 im Reichstag für die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt hatte, zweifelte er nicht mehr an ihrem Patriotismus. Und als Nationalökonom und erfahrener Wirtschaftspolitiker sah er schon seit seinen politischen Anfängen den sozialökonomischen Strukturwandel, der es erforderte, der Arbeiterschaft eine Perspektive zu geben.
Das preußische Dreiklassenwahlrecht lehnte er ab, wenngleich seine Vorschläge zur Demokratisierung des Wahlrechts im Hegemonialstaat Preußen nicht immer einheitlich waren, so blieb diese Forderung doch konstant. Und zentral war die von ihm schon Jahre vor Kriegsende vertretene Forderung der Parlamentarisierung des Deutschen Reiches: Er forderte, die Reichsregierung müsse künftig dem Deutschen Reichstag verantwortlich sein und nicht dem Kaiser. Freilich bedeutete dies für ihn keine Republik, sondern eine parlamentarische Monarchie, deren britische Variante er bewunderte und deren deutsche Variante mit den Oktoberreformen 1918 bereits ohne Revolution realisiert worden war.
Die langjährigen und hartnäckigen Forderungen Stresemanns nach einem parlamentarischen Systems erlauben einen unbefangeneren Blick auf die anderen Brüche und Diskontinuitäten, die nicht einfach als Opportunismus zu bewerten sind. Vielmehr handelt es sich um Reaktionen auf tiefgreifende objektive Erschütterungen und Strukturwandlungen infolge der Kriegsniederlage, der Revolution und des Vertrags von Versailles. Seitdem konnte es nicht mehr um Annexionismus gehen, sondern nur noch um Revisionismus. Und in dieser Frage stimmten alle deutschen Parteien, selbst die KPD, überein, weil sie den Friedensvertrag mit guten Gründen als „Diktatfrieden“ ansahen.
V.
Im Mittelpunkt des Nachkriegsjahrzehnts, in dem Gustav Stresemann zum überragenden Staatsmann reifte, stehen die doppelte liberale Parteigründung 1918, die Haltung Stresemanns und seiner Partei zum Kapp-Putsch 1920, die Politik des Reichskanzlers Stresemann in der schweren Krise der Weimarer Republik 1923, schließlich das Wirken des beständigen Außenministers Stresemann in wechselnden Kabinetten 1923 bis zu seinem Tod 1929. Ist die Rolle Stresemanns in den beiden ersten Fragen umstritten und wirft die Frage nach seinem Vernunftrepublikanismus auf, so sind seine Leistungen als Reichskanzler und Außenminister allgemein anerkannt, wenngleich sogar letztere eine historiographische Kontroverse provoziert haben, die Frage nämlich: Stand hinter seiner europäischen Verständigungspolitik ein unveränderter, nur taktisch kaschierter Nationalismus?
Die Transformation des deutschen Parteiwesens in der revolutionären Epoche 1918/19 kennt zum einen Kontinuität, zum anderen Diskontinuität. Anders als im Falle der fortbestehenden Parteien SPD und Zentrum oder Neugründungen wie KPD und NSDAP sind die beiden liberalen Parteien von vor 1918 jeweils mit neuen Akzenten umgegründet worden. Die Fortschrittspartei wurde zur Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und die Nationalliberale zur Deutschen Volkspartei (DVP). Die DDP rückte stärker nach links als ihre Vorgängerpartei und verfolgte einen dezidierten Linksliberalismus. Die DDP hatte fast als einzige Partei keine Vorbehalte gegen die aus der Revolution und der Nationalversammlung hervorgehende neue republikanische und parlamentarische Verfassungsordnung. Sie galt in den Anfangsjahren als die Weimarer Partei schlechthin, ihr Profil wurde weitgehend durch bedeutende Wissenschaftler, Publizisten und höhere Beamte geprägt. Ihre soziale Basis gehobener (bildungs-)bürgerlicher Mittelschichten, darunter viele Freiberufler, ähnelte dem der DVP, bei der allerdings der Anteil des Wirtschaftsbürgertums, darunter der Großindustriellen, deutlich stärker war.
Der auffälligste politische Unterschied lag darin, dass die DVP und ihr Vorsitzender Stresemann die Republik ablehnten, als Monarchisten stimmten sie in der Nationalversammlung gegen die Weimarer Verfassung. Doch für die künftige Politik Stresemanns blieb diese Ablehnung bedeutungslos. In der Stresemann-Kritik wurde sie weit überschätzt. Da er die ersten vier Jahrzehnte in einer Monarchie gelebt hatte, war es kaum verwunderlich, dass er diese Haltung nicht schlagartig änderte. Entscheidend für seine Beurteilung ist vielmehr, dass er über Jahrzehnte hinweg für die parlamentarische Demokratie kämpfte.
Die wechselseitige Konkurrenz von DDP und DVP sowie die spätere Auszehrung des Weimarer Liberalismus provoziert die Frage, ob die parteipolitische Spaltung des Liberalismus 1918/19 nicht hätte vermieden werden können. Als Ursache der doppelten Umgründung im November 1918 gilt Stresemanns politischer Ehrgeiz. Tatsächlich scheiterte die Gründung einer einheitlichen liberalen Partei nicht an seinem Ehrgeiz, sondern an der Ablehnung seiner Person durch seine linksliberalen Gegner. Wesentlich dafür war Stresemanns Annexionismus und Nationalismus im 1. Weltkrieg. Dabei vergaßen viele seiner Kritiker, welche Position sie selbst in den ersten drei Kriegsjahren eingenommen hatten. Und indem sie Stresemann ungebremsten Ehrgeiz vorwarfen, kaschierten sie ihren eigenen. Denn selbst seine Gegner wussten: Mit Stresemann in der eigenen Partei hätten sie es mit einem politischen Schwergewicht zu tun bekommen.
Unabhängig davon zog er viele Antipathien auf sich, Konrad Adenauer misstraute ihm stets und Theodor Heuss bekannte in seinen späteren „Erinnerungen“ freimütig, er habe Stresemann menschlich nicht leiden können. Heuss‘ Animositäten gingen so weit, dass er es noch Jahrzehnte nach Stresemanns Tod ablehnte, ihn in das Sammelwerk „Die großen Deutschen“ aufzunehmen – Stresemann, einen der beiden bedeutendsten Staatsmänner der Weimarer Republik. Diese Abneigung kann man natürlich auch biographisch erklären, war doch Heuss nicht wie Stresemann über den Flaschenbierhandel in Berlin, sondern den Weinbau im nördlichen Schwaben promoviert worden. Lassen wir es dabei: Wie der große Stresemann hatte auch der große Heuss kleine Schwächen.
Entscheidend in der Frage der Parteigründung wurde, in welchem Maße die Linksliberalen Stresemann brüskierten. Er selbst war zeitweilig für eine gemeinsame liberale Partei eingetreten und hatte erklärt, die Nationalliberalen wollten, „unbeschadet der persönlichen Meinung des einzelnen auf dem Boden der republikanischen Staatsform“ mitarbeiten. Der Heidelberger Soziologe Alfred Weber bezeichnete Stresemann als ‚kompromittierte‘ Persönlichkeit und attackierte ihn in einer internen Besprechung linksliberaler Intellektueller so heftig, dass einige Teilnehmer dies als „maßlos“ und „unverschämt“ bezeichneten. Trotzdem blieb Stresemann zunächst bei seiner Bereitschaft zu einer gemeinsamen liberalen Parteigründung und war sogar zum Verzicht auf eine Führungsposition in der neu zu gründenden Partei bereit. Aufgrund des Widerstands gegen ihn und wegen der Gründung der DDP am 15. November 1918 blieb Stresemann kaum etwas anderes übrig, als die noch nicht aufgelöste nationalliberale Parteiorganisation dann selbst in eine neue Partei, die DVP, zu überführen.
Die nun unausweichliche Konkurrenz zweier liberaler Parteien, die um das gleiche Wählerpotential konkurrierten sowie der anfänglich überwältigende Erfolg der DDP bei der Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919, zwangen Stresemann zu einer anderen Profilierung, die sich naturgemäß stärker nach rechts orientierte. Allerdings übertrieb Stresemann vermutlich aus taktischen Gründen, warf er doch kurzzeitig seine eigenen kritischen und wohlbegründeten Einsichten vom Herbst 1918 über Bord.
Am 13. Oktober 1918, als das Ausmaß des militärischen Desasters sich abzeichnete und mehr als drei Wochen vor der Revolution, zog er gegenüber Delegierten der Nationalliberalen Partei das Resümee, „daß das alte System absolut abgewirtschaftet habe, nicht mehr zu halten sei und auch nicht mehr verdient habe, länger zu bestehen“. Er kritisierte den „Zickzackkurs des Kaisers, seine persönliche Politik vor dem Kriege“, das persönliche Verhalten des Kronprinzen sowie die verfehlte Politik und die Versäumnisse der Obersten Heeresleitung. Und schließlich lobte er die „musterhafte … Haltung der Sozialdemokratie“ insbesondere Friedrich Eberts. Am Vorabend der Revolution, am 8. November, unterstützte Stresemann sogar die Forderung der SPD nach Abdankung des Kaisers und Thronverzicht des Kronprinzen, zudem bekräftigte er die Forderung nach der Abschaffung des Dreiklassen-Wahlrechts in Preußen.
Nur wenige Wochen später aber, nachdem auch SPD und der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, mit dem er sich früher verschiedentlich verbündet hatte, ihn heftig attackiert hatten, verteidigte der fast zum Aussätzigen erklärte und tief verletzte Stresemann sogar wieder den Kaiser und die Oberste Heeresleitung. Dies geschah nicht nur wider bessere Einsicht, sondern war vor allem deshalb ein politischer Fehler, weil die spätere von Hindenburg und Ludendorff tatkräftig geförderte Dolchstoßlegende dazu beitrug, das innenpolitische Klima der Weimarer Republik zu vergiften.
Doch währte dieser Sündenfall Stresemanns nicht lange, zu sehr war er Realpolitiker. Und als die nächste Bewährungsprobe rechtsnationalistischer Versuchung kam, bestand er sie zweifelsfrei. Obwohl Stresemann lange vorgeworfen wurde, er habe während des sog. rechtsextremen Kapp-Putsches gegen die Weimarer Republik im März 1920 mit den Putschisten geliebäugelt oder sie gar unterstützt, trifft dies keineswegs zu. Die Quellen zeigen eindeutig: Stresemann ließ sich nichts zu Schulden kommen. Schon vorher hatte er in einer Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses der DVP am 4. März 1920 die Deutschnationale Partei (DNVP) bezichtigt, eine „verantwortungslose Opposition“ gegen die Weimarer Republik und die Reichsregierung zu betreiben. Und am Tage des Kapp-Putsches, am 13. März 1920, erklärte die Parteileitung der DVP nach einem Bericht Stresemanns: Die DVP verurteile den gewaltsamen Umsturz, von dem sie völlig überrascht worden sei, auf das schärfste. „Die Deutsche Volkspartei habe diese Regierung zwar als Oppositionspartei bekämpft, ihre Beseitigung aber nachdrücklichst nur auf verfassungsmäßigem Wege durch Neuwahlen angestrebt, niemals aber an einen gewaltsamen Umsturz gedacht.“ In einer anderen Äußerung Stresemanns hieß es, „dass wir niemals die Hand bieten zu irgendwelchen reaktionären Maßnahmen. Unter allen Umständen fordern wir die sofortige Zurückführung des ungesetzlichen Zustands auf eine gesetzmäßige Grundlage.“ Das bedeutete im März 1920 faktisch ein Bekenntnis zur Weimarer Verfassungsordnung. Stresemann wurde nicht erst 1923, wie oft zu lesen, sondern bereits im Frühjahr 1920 zum ‚Vernunftrepublikaner‘ par excellence.
VI.
Die erste Meisterleistung als Regierungsmitglied der Weimarer Republik vollbrachte er in nur dreimonatiger Amtszeit als Reichskanzler einer Großen Koalition aus DVP, DDP, SPD und Zentrum zwischen dem 13. August und dem 30. November 1923. Schon dieses Beispiel belegt, dass die Weimarer Republik zeit ihres Bestehens von einer intensiven Dialektik zwischen Innen- und Außenpolitik charakterisiert war. Die Reduktion der späteren positiven Stresemann-Erinnerung an den großen Außenpolitiker verkennt, dass Stresemann unter den damaligen Umständen kein erfolgreicher Außenminister hätte sein können, wäre er nicht auch ein Innen- und Parteipolitiker von hohem Rang gewesen. Und dazu gehörte, und das muss immer wieder betont werden, seine Leidenschaft als Parlamentarier. Sie verband sich mit seiner großen Rednergabe, mit deren Hilfe er viele Skeptiker von vernünftigen Inhalten überzeugte und öfters mitriss. Selbst Theodor Heuss leugnete dies in einem Stresemann-Porträt von 1924 nicht: „Doktor Gustav Stresemann ist heute, wenn nicht der stärkste, so doch der flüssigste Redner des politischen Deutschland; die wunderbare Sicherheit seiner breit strömenden Diktion, das unterstrichene Pathos kräftiger Stellen, da und dort eine heitere Anmerkung gewinnen ihm hallenden Eindruck.“
Als Gustav Stresemanns 1923 Reichskanzler wurde, stand das Deutsche Reich am Abgrund, die Krisen verschärften sich wechselseitig, sie bedrohten sogar die staatliche Einheit. Die galoppierende Inflation belastete die Gesellschaft extrem und machte die Regierung nahezu handlungsunfähig. Da auf der Pariser Reparationskonferenz keine Einigung zu erzielen war, besetzten französische und belgische Truppen als Faustpfand am 11. Januar 1923 Teile des Rheinlands und das Ruhrgebiet. An Rhein und Ruhr wurde der passive Widerstand gegen die Besetzung ausgerufen, was die gewerbliche und industrielle Produktion blockierte und damit die französische Politik ins Leere laufen ließ. Doch handelte es sich zugleich um ein Eigentor, weil große Teile der Bevölkerung keine Einkommen mehr hatten und sie nur durch Hilfe des ohnehin fast bankrotten Reiches über Wasser gehalten werden konnten. In Westdeutschland entwickelten sich separatistische Strömungen, die Autorität der Reichsregierung wurde durch den Hitler-Putsch in München am 9. November sowie linksgerichtete Regierungen in Sachsen und Thüringen in Frage gestellt, die sich nicht an die reichsrechtlich verbindlichen Vorgaben hielten. In nur viereinhalb Jahren ’verbrauchte‘ die Weimarer Republik bis zum Sturz Stresemanns am 23. November 1923 neun Regierungen. Die Aufgabe bestand also darin, die Autorität der Reichsregierung wieder herzustellen, eine Währungsreform durchzuführen, mit der französischen Besatzungsmacht eine Lösung zu finden und die für die Bevölkerung an Rhein und Ruhr desaströsen Folgen einer in Teilen brutalen Besatzung und vor allem der fortschreitenden Verarmung infolge des Produktionsausfalls in den Griff zu bekommen. Jede deutsch-französische Vereinbarung wurde durch den wechselseitigen Hass erschwert und war in beiden Staaten unpopulär.
Stresemann durchschlug diesen gordischen Knoten und brach am 26. September den nicht mehr finanzierbaren Ruhrkampf ab. Damit ermöglichte er eine Lösung des Konflikts. Obwohl die Nationalisten und Putschisten daraus Honig saugen wollten, zählte dies zu den mutigsten und konstruktivsten Leistungen Stresemanns, der ja Regierungschef einer höchst fragilen Regierung war. Mit der ihn persönlich außerordentliche Selbstüberwindung kostenden, höchst unpopulären Entscheidung rettete Stresemann das Reich aus einer komplett verfahrenen Situation. Indem er Verhandlungen Wirtschaftsdelegationen überließ, schob er sie aus der politisch emotional aufgeheizten Atmosphäre in den Sektor ökonomisch kühl Vor- und Nachteile abwägender Wirtschaftsführer, die schnell erkannten, dass Ruhrbesetzung und Widerstand nur beiden Seiten Verluste gebracht hatten. Der Ruhrkampf hatte 132 Todesopfer, viele Verletzte und etliche harsche Bestrafungen durch die Besatzungsmächte verursacht, darunter Todesstrafen. 150.000 Personen waren ausgewiesen worden, die wirtschaftlichen Kosten für das Reich werden auf 3,5 bis 4 Milliarden Goldmark geschätzt. In dieser Situation erwies sich Stresemann erneut als durchsetzungsstarker politischer Realist, er erwies sich als Staatsmann.
Doch damit nicht genug: Der Regierung Stresemann leitete unter führender Beteiligung von Hans Luther und Hjalmar Schacht mit Einführung der sog. Rentenmark eine Währungsreform ein, die die Inflation beendete und stellte durch eine Reichsexekution gegen die Länder Sachsen und Thüringen die Autorität des Reiches wieder her. Daraufhin verlor Stresemann am 23. November 1923 im Reichstag die Mehrheit, weil die SPD nicht akzeptierte, dass es nur Reichsexekutionen gegen die beiden linken Länder Sachsen und Thüringen, nicht aber das rechte Bayern gegeben hatte. Doch auch hierin war er Realist: Das Reich hätte eine dreifache Reichsexekution schon wegen der unklaren Haltung der Reichswehr nicht durchhalten können. Der Hitler-Putsch scheiterte schnell und nach dem rechtsradikalen Zwischenspiel des Generalstaatskommissars von Kahr stabilisierte sich unter der gemäßigten Regierung Heinrich Held (Bayerische Volkspartei) auch Bayern ab 1924. Im Chaos der drei Monate vom August bis November 1923 wurden die Fundamente für die Stabilisierung und das kommende beste Jahrfünft der Republik gelegt. Und das war nicht allein, aber in erster Linie Stresemanns Verdienst.
VII.
Stresemann stürzte zwar als Reichskanzler, doch blieb er sechs Jahre lang Außenminister in höchst unterschiedlichen Kabinetten; die Partner wussten, dass sie auf ihn nicht verzichten konnten. Stresemann konnte Außenpolitik aber nur in ständiger Rückkoppelung auf die deutsche Innenpolitik und die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse gestalten. Und selbst Kritiker wie Heuss erkannten an, wie schwer es ihm fiel, die eigene Partei immer wieder auf einen innen- und außenpolitischen Verständigungskurs zu bringen, ja zu zwingen. Von 1924 bis 1929 wurden er und sein französischer Kollege Aristide Briand die Hauptakteure europäischer Verständigungspolitik, als deren Ergebnis das Deutsche Reich wieder in den Kreis der europäischen Großmächte zurückkehrte, ohne je Aggression zum Mittel der Politik zu machen.
Die nächste Etappe der Stabilisierung des Deutschen Reiches ergab sich aus der Ursache der Ruhrkrise, also der offenen Reparationsproblematik. Stresemann erklärte am 6. März 1924 im Reichstag, für den deutschen Außenminister könne es nur den Versuch geben, „innerhalb dieses ganzen Bundes der Entente ein Verständnis dafür zu finden, daß die bisher gegen Deutschland geübte Politik nicht nur Deutschland zugrunde richtet, sondern Europa und die ganze Weltwirtschaft, vielleicht die ganze Weltpolitik. Ich bin viel zu viel Realpolitiker, als daß ich annehme, daß irgend jemand aus Liebe zu uns oder aus Sympathie für Deutschland irgend etwas täte. Nein, dieser Anruf der Sachverständigen ist etwas ganz anderes, das ist ein Appell an die reale Vernunft der Wirtschaftler der Welt, sich nicht selbst zugrunde zu richten dadurch, daß sie Deutschland zugrunde gehen lassen“.
Bei der folgenden Londoner Reparationskonferenz 1924 erreichten Außenminister Stresemann und Reichsfinanzminister Hans Luther mit den Sachverständigen die Regelungen des nach einem amerikanischen Finanzexperten benannten Dawes-Plan. Er legte vorläufig Dauer und Umfang der Reparationszahlungen fest und wurde mit außergewöhnlich hohen amerikanischen Kreditzusagen verbunden. Auf dieser Grundlage erfolgte die wirtschaftliche Stabilisierung und eine zeitweilige innenpolitische Entschärfung der immer wieder aufwallenden, vor allem von den Deutschnationalen zum Teil agitatorisch aufgeladenen Debatte über die Reparationen. Da diese aber ein dauernder Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich bildeten, erlaubte die einstweilige Lösung auch neue Initiativen gegenüber dem Nachbarland, zumal damit im Juli 1925 die Räumung des Ruhrgebiets durch die französischen Truppen und anschließend im August deren Abzug aus Düsseldorf und Duisburg einherging. Aber auch im Reichstag musste Stresemann die Annahme des Dawes-Plans erst durchsetzen, was ihm in mühsamen Aktionen am 29. August 1924 gelang, wobei er fast die Hälfte der deutschnationalen Reichstagsfraktion auf seine Linie zog.
Nach diesen Erfolgen trieb Stresemann seine planvoll konzipierte, klar durchdachte Außenpolitik weiter voran und verfolgte seine Ziele unbeirrt vom ständigen Störfeuer der nationalistischen deutschen Rechten mit außergewöhnlicher Hartnäckigkeit. Im Februar 1925 warf er einen Stein ins Wasser, dessen Wellenbewegungen die europäische Politik in Bewegung brachte: Er schlug einen Sicherheitspakt zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien vor, also denjenigen westlichen Staaten, mit denen es seit dem Vertrag von Versailles strittige territoriale Probleme gab. Briand nahm diese Initiative sogleich auf.
Das nächste, nun bereits umfassendere Ergebnis dieser Verhandlungsdiplomatie von großer gesamteuropäischer Bedeutung waren die sog. Locarno–Verträge – ein kompliziertes Geflecht in den Dimensionen Bismarckscher Außenpolitik, in dessen Tradition sich Gustav Stresemann sah. Grundlage bildete der Vertrag, den Frankreich, Großbritannien, Belgien, Italien, Polen und die Tschechoslowakei am 16. Oktober 1925 mit dem Deutschen Reich schlossen. In diesem Vertrag wurde die Unverletzlichkeit der deutschen Westgrenze gegenüber Frankreich und Belgien garantiert, eine friedliche Revision der deutschen Ostgrenze aber offen gehalten. Gegenüber Polen wollte er sich Verhandlungen vorbehalten, die die Rückgabe Danzigs, des Korridors zwischen dem Reich und Ostpreußen sowie Oberschlesien im Zuge vertraglicher Vereinbarungen ermöglichten. Gegenüber dem Osten blieb der Weimarer Revisionismus zwar erhalten, aber zweifelsfrei nur auf friedlichem Wege. Und schließlich schloss Stresemann entgegen französischen Wünschen mit der Sowjetunion am 24. April 1926 einen Freundschaftsvertrag, der eine künftige Einkreisung des Deutschen Reiches – das Urtrauma deutscher Außenpolitik – ebenso ausschloss wie die Westverträge. Im ganzen Vertragssystem setzte Stresemann im Wesentlichen seine Ziele durch, ohne realisierbare deutsche Interessen aufzugeben.
Aus diesem Grund wurde er immer wieder bezichtigt, Nationalist geblieben zu sein. Dies ist einigermaßen unsinnig: So enthielten die Verträge keinerlei Möglichkeit für Deutschland, wie es die Kriegszielpolitik des Weltkriegs vorsah, fremdes Territorium zu annektieren. Das ganze Vertragswerk diente nicht der Kriegführung, sondern der Kriegsverhinderung, es wurzelte in der realistischen Analyse der europäischen Konstellation. Die Locarno-Verträge zeigen, dass Gustav Stresemann tatsächlich in einem Punkt traditionell dachte, nämlich in den Kategorien des europäischen Staatensystems des 19. Jahrhunderts, das er auf die die politische Struktur Europas nach dem Weltkrieg zuschneiden wollte. Ihm die dezidierte Vertretung deutscher Interessen zu attestieren ist richtig, ihn dafür zu tadeln, ist absurd. Alle verantwortlichen Staatsmänner, auch Briand, haben die nationalen Interessen ihrer Staaten vertreten und sie mussten sie pflichtgemäß vertreten. Dass Stresemann, der für seine Friedenspolitik kaum je eine Mehrheit in seiner eigenen Partei hatte, ständig jonglieren musste, zwang ihn, wie er es ausdrückte, zu „finassieren“ – zwang ihn, wenigstens einige nationale Trümpfe in der Hand zu behalten, zumal außer dem definitiven Verzicht auf Elsass-Lothringen Deutschland noch andere Kröten schlucken musste, beispielsweise die Entmilitarisierung des Rheinlands, die der Vertrag von Versailles erzwungen hatte, und die nun freiwillig anerkannt wurde. Alle beteiligten Staaten schlossen überdies mehrere Schiedsverträge.
Gekrönt wurde das Vertragswerk durch die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund mit Sitz und Stimme im Jahr 1926 – auch das war nicht allein ein Prestigegewinn und die offizielle Wiedereingliederung Deutschlands in die europäischen Staatengemeinschaft, sondern bot praktische Möglichkeiten, die strittigen Grenzfragen mit Polen sowie den Schutz der im Ausland lebenden deutschen Minderheiten (8 Millionen Menschen!) im Völkerbund zu thematisieren. Für ihre Friedenspolitik erhielten Briand, Stresemann und Austen Chamberlain 1926 den Friedensnobelpreis. Ein weiterer, zumindest programmatischer Höhepunkt wurde der Briand-Kellogg-Pakt der Kriegsächtung 1928, dem Deutschland beitrat.
VIII.
Gab es weitere europäische Perspektiven, wie sie im zunächst geheimen Treffen von Briand und Stresemann in Thoiry am 17. September 1925 in der Euphorie der großen Erfolge zur Sprache kamen? Und wie beurteilte Stresemann in seiner letzten großen Rede am 9. September 1929 vor dem Völkerbund die Zukunft des europäischen Systems? War Stresemann ein Europäer im Sinne der zunehmenden europäischen Integration seit den 1950er Jahren? Diese Frage ist tatsächlich falsch gestellt: Stresemann war in den Möglichkeiten der 1920er Jahre sicher ein europäischer Friedenspolitiker, ein europäischer Integrationist war er nicht und hielt an der einzelstaatlichen Souveränität fest. Aber das taten in der Zwischenkriegszeit die Staatsmänner aller Nationen und selbst noch nach dem Zweiten Weltkrieg fast alle, etwa Charles de Gaulle. Wie weit wollte also Stresemann europapolitisch gehen?
In dem im französischen Jura gelegenen Dorf Thoiry schlug Briand Stresemann vor, alle zwischen beiden Staaten noch offenen Streitpunkte gemeinsam in einem Zugriff zu beseitigen. Er ging so weit, die französischen Truppen bis Ende September 1927 abzuziehen, das Saarland vorzeitig an das Deutsche Reich zurückzugeben und die alliierte Militärkontrolle zu beenden. Stresemann bot eine Abfindung für die saarländischen Kohlengruben sowie beträchtliche Kredite in Goldmark zur Stützung der französischen Währung an.
Stresemann schätzte die Perspektiven außerordentlich positiv ein, doch die politische Realität erwies sich als zählebig, Briand konnte seine Vorschläge in der französischen Regierung nicht durchsetzen. Und auch alle anderen Verhandlungen erwiesen sich nach den Höhenflügen von Locarno und Thoiry als schwierig, darunter die geplante endgültige Reparationslösung, gegen die deutschnationale und extremistische Rechte in Deutschland mit einem agitatorisch aufgeheizten Volksbegehren vorgingen, das die Verantwortlichen sogar mit Gefängnis bedrohte. Doch gelang es mit dem Young-Plan 1929, auch diese Hürde einer erneut angepassten Reparationsregelung noch zu nehmen.
Doch war der zwar bullig wirkende, aber seit seiner Jugend an der Basedowschen Krankheit leidende, immer wieder kränkelnde, mehrfach schwer erkrankte Gustav Stresemann am Ende seiner Kräfte. Schon sein 50. Geburtstag konnte wegen einer ernsthaften Erkrankung nicht mehr gefeiert werden. Auch wenn er sich zunächst wieder erholte, erlitt er doch bereits eineinhalb Jahre später bei einer Tagung des Völkerbundes zwei schwere Herzanfälle. Zwar hielt er am 9. September 1929 mit letzter Kraft verspätet doch noch die geplante Rede, war aber ganz offensichtlich vom Tode gezeichnet, so dass Beobachter über seine aschfahlen Gesichtszüge und seinen eingefallen wirkenden Körper entsetzt waren.
Unter anderem forderte Stresemann einen umfassenden und garantierten Minderheitenschutz, befürwortete nachdrücklich den Kriegsächtungs-Pakt und die Reaktivierung der Genfer Abrüstungsverhandlungen. Er forderte die „Neugestaltung der Staatenverhältnisse in Europa“ und wirtschaftspolitisch globale Lösungen. Ein zentrales Anliegen Stresemanns bildete die „Rationalisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Europa“, wozu er den Abbau der Zollschranken, die Einführung einer „europäischen Münze“ und eine „europäischen Briefmarke“ zählte. Zwar argumentierte der Nationalökonom Stresemann stets wirtschaftlich, aber er sah überdies die Symbolkraft solcher Vorschläge. Und vor allem forderte er, die noch bestehenden Ursachen für Spannungen in Europa zu beseitigen: „Wir haben die nüchterne Aufgabe, die Völker einander näherzubringen, ihre Gegensätze zu überbrücken“. Stresemann betonte, Verständigung sei im Interesse aller Staaten, deshalb gebe es in dieser Frage keinen Gegensatz zwischen nationalen und gemeinsamen Interessen.
Handelte es sich bei solchen Vorschlägen nun um einen Vorgriff auf die heutige EU? Sicher nicht, doch ging er politisch und ökonomisch so weit, wie ein Realpolitiker unter den extrem belastenden Umständen zehn Jahre nach dem I. Weltkrieg überhaupt gehen konnte. Und angesichts der politischen Entwicklung nach ihm, waren seine Ziele durchaus visionär.
Am 3. Oktober 1929 starb Gustav Stresemann in den frühen Morgenstunden nach zwei in der Nacht erlittenen Schlaganfällen im Alter von nur 51 Jahren. Noch am Vortag hatte er seine Dienstgeschäfte wahrgenommen. Wie Friedrich Ebert hat sich Gustav Stresemann im Dienste seines Landes aufgezehrt, beide starben wohl nicht zuletzt an einer jahrelangen Überforderung ihrer Kräfte. Stresemann musste selbst für seine großen internationalen Verhandlungserfolge, die für Deutschland das Optimale erreichten, in aufreibenden innenpolitischen Auseinandersetzungen sogar mit seiner eigenen Partei um Mehrheiten im Reichstag kämpfen. Die zahlenmäßig verhältnismäßig ‚Große‘ Koalition wurde vor allem durch seine überragende Persönlichkeit und sein Zusammenwirken mit dem ebenfalls kränklichen sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller zusammengehalten. Nur ein halbes Jahr nach Stresemanns Tod fiel diese Koalition im März 1930 auseinander: Das war der Anfang vom Ende der Weimarer Republik, die danach nur noch Minderheitsregierungen kannte.
Die nationale und internationale Anteilnahme an seinem Tod war überwältigend, hunderttausende folgten in Berlin seinem Sarg. Die internationale Presse würdigte Stresemann als überragenden europäischen Staatsmann. Harry Graf Kessler notierte am 4. Oktober 1929 in Paris in sein Tagebuch, die Trauer sei allgemein und echt: „Es ist fast so, als ob der grösste französische Staatsmann gestorben wäre. …. Stresemann ist durch seinen plötzlichen Tod eine fast mythische Figur geworden. Keiner von den grossen Staatsmännern des 19ten Jahrhunderts, weder Pitt, noch Talleyrand, noch Metternich, noch Palmerston, noch Napoleon III, noch Cavour, noch Bismarck, noch Gambetta, noch Disraeli hat eine so einstimmige Weltgeltung und Apotheose erreicht. Er ist der erste, der als wirklich europäischer Staatsmann in Walhalla eingeht.“
IX.
Hätte Stresemann den Weg in die nationalsozialistische Diktatur verhindern können? Wir wissen es nicht. Doch schon die Fortsetzung der Koalition bis zu den regulären Reichstagswahlen im Sommer 1932 hätte die Präsidialregierungen mit der Stärkung des Reichspräsidenten von Hindenburg ebenso vermieden wie das innenpolitische und parlamentarische Chaos. Es waren diese Voraussetzungen, die den Aufstieg des Nationalsozialismus zur Massenbewegung in drei kurz aufeinander folgenden überflüssigen Wahlen seit dem 14. September 1930 begünstigten, wenn nicht gar ermöglichten. 1933/1934 war – auch ohne Hitler – der Höhepunkt der verheerenden Wirtschaftskrise überschritten, sie hatte ganz entscheidend der NSDAP genutzt. Regulär hätten Neuwahlen erst im Sommer 1932 stattfinden müssen. Bis dahin hätte eine funktionsfähige Reichsregierung eine stabile Mehrheit haben können mit einer NSDAP-Opposition im Reichstag von nur 2,9% der Mandate. Die mit einer parlamentarischen Mehrheit ausgestattete Regierung hätte mehr als zwei Jahre Zeit gewonnen und den Verfassungswandel zur Präsidialregierung verhindert. Und ob die NSDAP in einem Anlauf sich von einer Splitterpartei zur Mehrheitspartei hätte aufschwingen können, ist zumindest fraglich.
Wir wissen nicht, ob es Gustav Stresemann einmal mehr gelungen wäre, die Große Koalition 1930 zu erhalten. Aber eine große Chance hätte in seinem längeren Wirken zweifellos gelegen. Seit 1923 war er der stärkste Aktivposten, den die parlamentarische Demokratie in Deutschland besaß, zugleich war er einer der Architekten eines erneuerten, auf Friedensicherung setzenden europäischen Staatensystems. Als Patriot, Vernunftrepublikaner und Verständigungspolitiker bildete er bis zu seinem Tod die Alternative zur 1930 in Deutschland einsetzenden Entwicklung. Kann man einem Staatsmann größere Anerkennung zollen?