Hanns Zischler

Autoren zu Gast bei Albert von Schirnding

Im Rahmen der Veranstaltung "Hanns Zischler. Autoren zu Gast bei Albert von Schirnding", 25.06.2018

© FabrikaCr / iStock

„Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.“ Das Dictum des Novalis wird gern zitiert. Wirklich jeder? Ich weiß es nicht. Aber das weiß ich: Auf meinen Gast des heutigen Abends trifft dieses Wort in hohem Maße zu. Hanns Zischler hat, wie Sie alle wissen, in und an unzähligen Filmen und Fernsehspielen mitgewirkt – unter Regisseuren wie Wim Wenders, Jean-Luc Godard, Claude Chabrol, Charlotte Link. Er hat in der glorreichen Peter-Stein-Ära an der Berliner Schaubühne als Dramaturg und Regie­assistent gearbeitet. Für das Fernsehen hat er Literaturfilme gemacht: über Kafka, Puschkin, Diderot, Rolf Dieter Brinkmann. Er ist ein wunderbarer Vermittler großer Literatur via Hörbuch. Und dieser Mann nennt die Fotografie „das einzige Medium, das ich wirklich beherrsche“. Heute Abend aber soll primär vom Autor Zischler die Rede sein, das heißt – versteht sich – vom Autorenteam Zischler, in dem wir einen Übersetzer aus dem Französischen, einen Anthologisten von Naturgedichten, einen Verfasser von Zeitungsartikeln und Rezensionen, einen Autor von sogenannten Sachbüchern, einen Essayisten und Erzähler namhaft machen können. Da erhebt sich die Frage nach dem einigenden Band, das alle diese Personen zusammenhält. Es ist, glaube ich, das Phänomen des Zusammenfalls, der coincidenza einer enormen geistigen Neugier mit der Fähigkeit, diese Neugier in Kreativität zu verwandeln. Vielleicht ist Neugier nicht ganz das richtige Wort, weil es den aktiven Anteil zu sehr betont. Genauso wichtig scheint mir das rezeptorische Element zu sein: die Beeindruckbarkeit durch geistige und künstlerische Erfahrungen, eine im Grunde jugendliche Eigenschaft, die sich bei begnadeten Menschen auch im Älterwerden nicht verliert. Im Titel eines Zischler-Buchs findet sie die bündige Bezeichnung: „Nase für Neuigkeiten“. Entscheidend ist freilich, dass dieser Nase ein kongenialer Mund entspricht.

Die Themen und Gegenstände von Zischlers Büchern könnten nicht unterschiedlicher sein. Ich greife nur einiges heraus. In dem berühmtesten, in mehrere Sprachen übersetzten, ist der Kinogeher Kafka der Held. Angesichts einer uferlosen Kafka-Literatur würde man einer solchen Monografie 1999 keine Erfolgschance gegeben haben – aber Zischler wusste tatsächlich einen bisher unbeachteten Aspekt in die unendliche Reflexion der Kafka-Deutung einzuführen. „Kafka geht ins Kino“: Wir erleben bei der Lektüre – inzwischen existiert eine stark erweiterte Ausgabe von 2017 – nicht weniger als die Geburt der modernen Literatur aus dem Geiste des Stummfilms. Eine wesentliche Ergänzung dieser Geburtsgeschichte bietet das Buch über Joyce von 2008: Aus dem Blick des am 30. Oktober 1904 in der Hafenstadt Pola gestrandeten, völlig unbekannten Iren auf die vermischten Nachrichten der lokalen Zeitung geht nach achtzehn Jahren der „Ulysses“ hervor: Anfangspunkt und Resultat eines überaus spannend erzählten Prozesses. Ein im Berliner Naturkundemuseum seit Jahrzehnten unbeachteter Koffer, den der immer wache Spürsinn des Städtewanderers Zischler, eines Flaneurs von Benjaminschen Graden, entdeckt, enthält und enthüllt Tausende von präparierten Schmetterlingen, und mit ihnen tritt ein grandioses Forscher­leben aus dem Dunkel tiefster Vergessenheit ins Licht eines einzigartigen Buches: „Der Schmetterlingskoffer. Die tropischen Expeditionen von Arnold Schultze“ (2010). Schließlich fügte der besagte Flaneur aus unzähligen Beobachtungen, Eindrücken, literarischen Recherchen ein Mosaik aus Traum- und Alptraummomenten der Berliner Architekturgeschichte zusammen: „Berlin ist zu groß für Berlin“, 2013.

Trotz der enormen Bandbreite der Inhalte finden sich für die Handschrift des Verfassers charakteristische Eigenschaften. Man muss diese Bände nur aufschlagen, um ihrer Komposition aus Wort und Bild zu begegnen: den Fotografien, Zeichnungen, Karten, Zeitungsseiten, die keineswegs den Text nur illustrieren. Die Symbiose führt zu einem Dritten, das mehr ist als die Summe aus beiden Elementen. Dann der Reichtum an Zitaten. So ist zum Beispiel der „Schmetterlingskoffer“ angefüllt nicht nur mit ausgiebigen Auszügen aus dem kolumbianischen Reisetagebuch Arnold Schultzes, einer leider sehr aktuellen, gegen die Waldverwüstung gerichteten Streitschrift des auch als Prosaisten genialen Lepidopterologen, sondern versammelt zugleich eine ganze Anthologie allerschönster Huldigungen dieser subtilen Jäger an ihr Objekt: Sie reichen von 1738 bis zu Exzerpten aus Büchern von Vladimir Nabokov und Frederic Prokosch. Im Kafkabuch kommen Kafka und Max Brod ebenso zu Wort wie Rezensenten von Stummfilmen oder anonyme Verfasser von Kinoprogrammen.

Der verschwenderische Umgang mit Zitaten darf nicht etwa so verstanden werden, als ob der Verfasser damit seinen eigenen Text zum Buch aufblasen wollte. Es drückt sich darin vielmehr eine ihm eigentümliche Auffassung von Autorschaft aus: Der Autor tritt hinter die Protagonisten des dargestellten Geschehens zurück, aus Objekten werden Subjekte, der Dirigent bleibt zugunsten der erklingenden Musik nicht unsichtbar, aber im Hintergrund. Dieser Verzicht auf die auktoriale Alleinherrschaft zeigt sich auch darin, dass im Fall des „Schmetterlings­koffers“ und des Joyce-Buchs Hanns Zischler gemeinsam mit einem zweiten Verfassernamen firmiert: mit der wunderbaren Malerin der Schmetterlinge Hanna Zeckau und der schwedischen Literaturwissen­schaftlerin Sara Danius. Im Gestus des Sich-Zurücknehmens sehe ich ein Spezificum des Künstlers Hanns Zischler: auch des sich nicht in den Vordergrund drängenden Schauspielers und eines Sprechers, der den Text nicht zum Medium seiner Darstellungskunst macht, sondern die eigene Stimme zum Medium des Sprachkunstwerks. Distanz aus Respekt ist sein Prinzip, heißt es in Uwe Pörksens Laudatio auf den Heinrich Mann-Preisträger der Berliner Akademie der Künste von 2009. Und in der von Dieter Dom und Hans-Joachim Ruckhäberle Unterzeichneten Begründung des Wahlvorschlags für Zischlers Aufnahme in die Bayerische Akademie der Schönen Künste liest man: „ … er spricht so, daß man immer hinsieht, immer dabei ist und immer einen Menschen vor sich hat, aber auch immer Hanns Zischler, wie er diesen Menschen spricht.“ Unaufdringlichkeit, meisterhaft sparsamer Einsatz der sprachlichen Mittel, eine präzise ins Zentrum des jeweils gegebenen Weltausschnitts treffende Andeutungskunst: das sind sehr rar gewordene Züge, Vorzüge auch des Erzählers Hanns Zischler: der Gespräche zwischen dem Bibliotheksbesitzer Russla und Lady Earl Grey, einer aus altem Geschlecht stammenden, sehr vornehmen Maus (2012), der sommerlichen Großstadt-Begegnungen mit einem Singvogel wie der Grasmücke (2013) und der nicht hoch genug zu preisenden, Ende der fünfziger Jahre in Oberbayem spielenden Kindheitsgeschichte „Das Mädchen mit den Orangenpapieren“ von 2014. Das Mädchen, das die seidigen, buntbedruckten Umhüllungen der aus dem Süden importierten Früchte sammelt, steht oder besser gesagt: schwebt im Mittelpunkt. (Einer Ballonfahrt über dem Chiemsee ist ein Kapitel gewidmet.) Aber Elsa findet in dem Bauerndorf, in das sie aus Dresden verschlagen wurde, einen einheimischen Freund, den Pauli. Das Ende der männlichen Kindheit markiert bekanntlich der Stimmbruch. Bei der Probe eines vielstimmigen Weihnachtsliedes kratzt Paulis Stimme ein wenig, als er den höchsten Ton erklimmt. Der Musiklehrer bleibt bei Pauli stehen, horcht und bedeutet ihm, die Gruppe zu wechseln. Pauli errötet und gesellt sich zu den tieferen Stimmen. So schnörkellos ist vom Ereignis die Rede, das filmschnitthaft die Grenze des Erzählrahmens bezeichnet.

Kindheit, frühe Jugend, Schulzeit: Ein Zufall hat mich mit dem fünfzehnjährigen Hanns Zischler zusammengebracht. Er war Schüler am neusprachlichen, ich Lehrer am altsprachlichen Gymnasium in Ingolstadt. Er wollte zu den Humanisten wechseln, und so geriet er an mich. Obwohl ich eigentlich immer auf Jagd nach Griechischschülern war, riet ich ihm von dem mit Nachholpensum verbundenen Schulwechsel ab. Diese Warnung habe, wie mir Zischler Jahrzehnte später bestätigt hat, ihn vor einer zu frühen Stillung seines Wissensdurstes bewahrt und seine geistige Neugier als unersättlich am Leben erhalten. So durfte ich einen winzigen Beitrag zum Zustandekommen der gar nicht so kleinen mit dem Namen Hanns Zischler etikettierten Gesellschaft leisten.

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