Die Zeit der Weimarer Republik brachte eine Literatur von großer Buntheit, Kühnheit, thematischer Vielfalt und formaler Differenziertheit hervor. Charakteristisch für sie ist aber nicht nur die Fülle und Unterschiedlichkeit, sondern auch eine Reihe von stark ausgeprägten Antagonismen, etwa in der Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Politik, Nation, sozialen Verhältnissen, Krieg und Frieden, ebenso in der Frage nach dem zeitgenössischen Literaturbegriff, die sich um die Unterscheidung von emphatischer Dichtung und gebrauchsorientierter Schriftstellerei drehte und in der 1926 einberufenen Berliner „Dichterakademie“ über Jahre hinweg verhandelt wurde. Zu diesen Antagonismen gehört auch der von Provinz oder Landschaft und Metropole, ein Gegensatz, der in einigen profilierten Köpfen der damaligen literarischen Szene beredte Repräsentanten fand.
Die Weimarer Republik lag gleichsam noch in den Geburtswehen, als ein kultureller Richtungsstreit ausgerufen wurde, der das kulturelle Klima der nächsten Dekade mit bestimmte. Am 10. Januar 1919 erschien im „Schwäbischen Merkur“, einer angesehenen Stuttgarter Tageszeitung, ein Artikel von Ludwig Finckh, einem in Gaienhofen am Bodensee lebenden und damals angesehenen Verfasser heimatverbundener Romane. Unter der Überschrift Der Geist von Berlin skizzierte Finckh die (post)revolutionären Berliner Machtkämpfe zwischen radikalsozialistischen Aufständischen und der sozialdemokratisch geführten Regierung, die in diesen Tagen ihren Höhepunkt erreichten, und verlangte eine Abwendung des „Reichs“ von Berlin, das als Hauptstadt der Revolution nicht mehr das Recht habe, die „Reichshauptstadt“ darzustellen und Deutschland zu repräsentieren. Der letzte Satz des Artikels lautet: „Dem Geist von Berlin muß ein anderer entgegengestellt werden, der Geist von Deutschland!“ Was damit gemeint war, blieb unbestimmt, aber man konnte aus dem Artikel herauslesen, dass es der Geist der ‚Provinz‘ war, der Geist der deutschen Landschaften mit ihren alten kleinen Städten. Damit begann die Mobilisierung der ‚Provinz‘ oder ‚Landschaft‘ gegen die großstädtische Metropole, ein Vorgang, der gerade auch auf dem literarischen Feld zu vielerlei Zerwürfnissen und zunehmend sich verhärtenden Frontbildungen führte. Ähnliches war auch in Österreich zu beobachten, wo sich die agrarisch dominierten Länder der stark geschrumpften Republik gegen die „wasserköpfige“ Hauptstadt des einstigen Großreichs stellten. Hier wie dort wäre der Gegensatz zwischen Metropole und Provinz nicht so rasch und so deutlich aufgetreten, wenn er nicht auch die Fortführung und Verschärfung einer älteren Stadt-Land-Debatte gewesen wäre.
Die soziologische Kontroverse um die Großstadt
Zwischen 1871 und 1910 stieg die Zahl der deutschen Großstädte (mit mehr als 100.000 Einwohnern) von acht auf achtundvierzig. Dieser Vorgang, der auf die Industrialisierung zurückzuführen ist, wurde von einem anhaltenden Diskurs über die soziale und kulturelle Bedeutung der Großstädte begleitet. Er artikulierte sich in soziologischen, volkskundlichen und gesellschaftspolitischen Schriften aller Art, ebenso in allen Gattungen der schönen Literatur, und gestaltete sich vorwiegend großstadtkritisch. Grundlegend und langfristig wirkungsvoll waren die zwischen 1848 und 1894 erschienenen Schriften des Kulturwissenschaftlers, Publizisten und Sozialpolitikers Heinrich Wilhelm (von) Riehl. Für ihn waren die „monströsen“ Großstädte Quellen und Symbole der modernen sozialen Übel: der ungesunden sozialen Dynamik und des unorganischen Lebens, der nivellierenden und uniformierenden Vermassung, des Verlusts von deutscher Originalität und Individualität, der Herabwürdigung der Kunst zur „Magd der Luxusindustrie“, der negativen biologischen Auslese und progressiven Dekadenz. Die weitere Großstadtkritik – über Heinrich Sohnrey, Julius Langbehn und Friedrich Lienhard bis Oswald Spengler – basierte auf Riehls Kritik, variierte und akzentuierte sie. Ihre Trägerschaft beschränkte sich keineswegs auf großstadtfeindliche Ideologen und großstadtferne Bevölkerungsgruppen; auch im städtischen Bürgertum waren Aversionen gegen die Großstadt zu beobachten, ebenso in der städtisch-bürgerlichen Jugendbewegung. Die Motive lagen zum einen in den massiven sozialen Verunsicherungen und Problemen, die sich aus dem Prozess der Industrialisierung und Urbanisierung ergaben, zum andern aber auch im Fortwirken romantisch-biedermeierlicher Vorstellungen von einem behaglichen Leben in einem überschaubaren kleinstädtisch-ländlichen Raum.
Es gab freilich auch Gegenstimmen. Die bedeutendste moderne- und emanzipationsgeschichtliche Würdigung der Großstadt hat der Berliner Philosoph Georg Simmel 1903 mit seinem Essay Die Großstadt und das Geistesleben vorgelegt. Für Simmel bildete die Großstadt den Rahmen der vorläufig letzten Stufe der Befreiung des Individuums von den historischen Bindungen der Religion, der Moral und der politischen Einstellungen, die im kleinstädtischen Bereich einer dauernden sozialen Kontrolle unterlagen. Zwar konstatiert Simmel, dass die Freiheit in der Großstadt auch zu Anonymität und Reserviertheit zwischen den Individuen führe, doch er formuliert dies nicht als Klage, sondern als nüchterne und zugleich affirmative Beschreibung von Gegebenheiten, die unwiderrufbar sind und zudem ihre Vorteile haben; ja, gelegentlich wird der Ton fast rühmend, etwa wenn von dem „vielgliedrigen Organismus“ die Rede ist, zu dem sich die unzähligen Beziehungen und Betätigungen der Großstädter aufgrund ihrer „Pünktlichkeit, Berechenbarkeit und Exaktheit“ zusammenschließen. Aber es sollte nicht übersehen werden, dass dieser affirmativen Charakterisierung des großstädtischen Lebens fast alle Momente eingeschrieben sind, die von den Kritikern der Großstadt gegen diese vorgebracht wurden: „Geldwirtschaft“, „Intellektualität“, „Anonymität“, „Reserviertheit“, Verlust „gefühlsmäßiger Beziehungen“, „rücksichtslose Härte“, „Berechenbarkeit“, „Ausschluss jener irrationalen, instinktiven und souveränen Wesenszüge und Impulse“, die Menschen zu unverwechselbaren Persönlichkeiten werden lassen.
Simmels Großstadt-Essay fand in einem publizistischen Werk ein breit aufgefächertes und materialreiches journalistisches Pendant. Von 1904 bis 1908 erschienen die Großstadt-Dokumente des Journalisten Hans Ostwald und seiner Mitarbeiter: einundfünfzig Bände mit rund 5.000 Seiten, die sich vorzugsweise mit Berlin, aber auch mit anderen Großstädten befassten. 1924 legte Ostwald noch eine voluminöse Kultur- und Sittengeschichte Berlins vor, die aber ausschließlich vom früheren Berlin handelt und nur einleitend einmal die gegenwärtige „Lichtstadt“ rühmt, die, so hoffte Ostwald, auch „Freunde draußen im Reich“ gewinnen und als „Lichtbringerin geliebt werden“ möge. Die neuere Entwicklung reflektierte dann der renommierte Kulturhistoriker und Publizist Max Osborn in einem repräsentativ aufgemachten Text-Bild-Band, der vom Verein Berliner Kaufleute und Industrieller in Auftrag gegeben worden war und 1929 unter dem Titel Berlin 1870-1929. Der Aufstieg zur Weltstadt erschien und einen einzigen Erfolgsbericht darstellt. Der Text handelt von Firmengründungen und -erweiterungen, technischen Innovationen und organisatorischen Leistungen. Die Bilder zeigen erfolgreiche Unternehmer und moderne Fabrikanlagen. Bilder von Werkstätten, in denen harte körperliche Arbeit zu leisten war, oder von dunklen und überfüllten Arbeiterwohnungen, finden sich in diesem Band nicht.
Literarische Positionen
Weder Simmels emanzipationsgeschichtliche Würdigung der Großstadt noch die zeitgenössischen publizistischen Rühmungen der Metropole Berlin verfingen bei den Gegnern. Sie hielten sich weiterhin an die Devise „Los von Berlin“, die der Wortführer der Heimatkunstbewegung, Friedrich Lienhard, bereits 1900 in seiner „Kampfschrift“ Die Vorherrschaft Berlins ausgegeben hatte. Diese Devise wurde in den zwanziger Jahren erneuert und verschärft; am Ende von Adolf Bartels’ „Wegweiser“ Der völkische Gedanke lautete sie 1923 „Los von dem verjudeten Berlin!“. Zeitromane wie Hans Heycks Außenseiter (1928) und Strudel (1930) führten vor Augen, dass ein besonnenes künstlerisches Leben nur auf dem Land möglich sei. Und unter dem Eindruck der schleswig-holsteinischen ‚Landvolkbewegung‘ von 1929, die auch ein Protest einer agrarischen Provinz gegen die Berliner Wirtschafts- und Finanzpolitik war, schrieb Wilhelm Stapel, der Herausgeber der Zeitschrift Deutsches Volkstum, am Ende eines Artikels, der im Januar 1930 unter dem Titel Der Geistige und sein Volk. Eine Parole erschien: „Der Geist des deutschen Volkes erhebt sich gegen den Geist von Berlin. Die Forderung des Tages lautet: Aufstand der Landschaft gegen Berlin.“ Ein Jahr später vertrat Stapel mit einem Vortrag unter dem Titel Die Situation der deutschen Dichtung der Gegenwart die These, vollgültige und zukunftweisende, „echte“ und „vitale“ Literatur könne nur in der „Landschaft“ entstehen. Dort, in der Provinz, werde jene „erlesene“ Literatur geschrieben, welche die „echten und großen Werte“ vermittle, während die Großstadt nur den deprimierenden Naturalismus und die nachfolgenden Formen jener „defaitistischen“ Literatur hervorgebracht habe, die aufgrund ihrer entmutigenden Wirkung eine Gefahr für den Bestand eines Volkes darstelle.
Die Großstadt- und speziell Berlinfeindlichkeit der von Stapel repräsentierten ‚völkischen‘ Autoren darf indessen nicht allen konservativen oder ‚rechten‘ oder nationalistischen Autoren unterstellt werden. Die ‚Lager‘ waren nicht monolithisch. Für manche Autoren des ‚Neuen Nationalismus‘ oder jener Denkhaltung, die man mit dem Namen der ‚Konservativen Revolution‘ bedacht hat, war die Großstadt nicht ein Ort, den es zu meiden, sondern zu gewinnen galt. Der Wortführer des ‚Neuen Nationalismus‘, Ernst Jünger, hatte bereits 1926 eine ganz andere Position vertreten, und dies ausgerechnet in Stapels ‚Deutschem Volkstum‘. Unter der Überschrift Großstadt und Land skizzierte Jünger die Entwicklung der modernen Stadtfeindlichkeit, die sich nun als Gegensatz von „Großstadt und Land“ zeigte, um sie als gegenwarts- und zukunftsfeindlichen Glauben an einen untergehenden Bestand abzutun. Anstatt vom Land zu träumen, gelte es, im Interesse eines nationalen Aufschwungs in „diese Zeit, die ihre verborgenen Schönheiten besitzt“ und „in die Kräfte der Großstadt“ einzudringen, „in die Kräfte unserer Zeit, die Maschine, die Masse, den Arbeiter“. Ein Ansatz zur dichterischen Realisierung eines entsprechenden Stadtbildes findet sich in Jüngers Abenteuerlichem Herzen von 1929, speziell in einer gegen Ende stehen Passage über einen nächtlichen Spaziergang durch ein östliches, industriell geprägtes Viertel Berlins: Ein Kellerfenster, aus dem ein „warmer, öliger Dunst“ strömt, gewährt Einblick in einen Maschinenraum, in dem „ohne jede menschliche Wartung ein ungeheures Schwungrad um die Achse“ pfeift und „das Ohr durch den prachtvollen Gang einer sicheren, gesteuerten Energie fasziniert“. Hier sieht der Beobachter die Wegbereiterin der Zukunft am Werk; hier begrüßt er die „Zerstörerin der Idylle, der Landschaften alten Stils, der Gemütlichkeit und der historischen Biedermeierei“.
So wenig, wie man auf Seiten konservativer und nationalistischer Autoren nur Großstadtfeindlichkeit vermuten sollte, so wenig darf man auf Seiten anderer Autoren nur reine Großstadtbegeisterung erwarten. Brechts Großstadtgedichte, die teils in die Hauspostille (1927), teils in das Lesebuch für Städtebewohner (1930) eingingen, zeigen, dass die Großstadt selbstverständlich auch von Autoren, welche die Großstadt als Lebensraum bejahten und links standen, kritisch gesehen, als unwirtlich und feindselig empfunden wurde. Dasselbe ergibt sich aus der 1931 erschienenen Gedichtsammlung Um uns die Stadt. Eine Anthologie neuer Großstadtdichtung; ihr „vorherrschende[s] Thema“ ist, wie gleich im Vorwort gesagt wird, „soziale Not“, und Gedichte mit kritischer Tendenz und negativem Klang überwiegen. Vollends verrucht und abstoßend erscheint die Metropole in den Bildern von George Grosz, Otto Dix und Max Beckmann. Aber im Unterschied zu den ‚Völkischen‘ gibt es hier keine Flucht in die Provinz und keine Verherrlichung der Landschaft, sondern nur den Versuch, sich der Großstadt zu stellen und ihr künstlerisch gerecht zu werden. Brecht hatte sich dies zur Aufgabe gemacht und am 4. September 1921 in seinem Tagebuch festgehalten:
„Als ich mir überlegte, was Kipling für die Nation machte, die die Welt ‹zivilisiert›, kam ich zu der epochalen Entdeckung, daß eigentlich noch kein Mensch die große Stadt als Dschungel beschrieben hat. Wo sind ihre Helden, ihre Kolonisatoren, ihre Opfer? Die Feindseligkeit der großen Stadt, ihre bösartige, steinerne Konsistenz, ihre babylonische Sprachverwirrung, kurz: ihre Poesie ist noch nicht geschaffen.“
Der Streit in der ‚Dichterakademie‘
In Deutschland wurde, um die Literatur als nationale Angelegenheit zu würdigen und zu stärken, 1925/26 eine ‚Dichterakademie‘ ins Leben gerufen. Sie war Teil der 1696 gegründeten ‚Preußischen Akademie der Künste zu Berlin‘ und firmierte offiziell als deren ‚Sektion für Dichtkunst‘. Federführend bei der Gründung waren der Preußische Kultusminister und der Präsident der Akademie. Mit der ungewöhnlichen Bezeichnung ‚Sektion für Dichtkunst‘, über die lange verhandelt worden war, sollte der Charakter der neuen Sektion verdeutlicht und die Zugehörigkeit zu einer Akademie für Künste legitimiert werden: ‚Dichtung‘ sollte in der Akademie repräsentiert und verhandelt werden, nicht ‚Literatur‘; ‚Kunst‘ war gefordert, nicht ‚Literatentum‘ oder ‚Schriftstellerei‘. Diese Festlegung auf ‚Dichtkunst‘ führte aber alsbald zu einem Richtungsstreit, der die ‚Dichterakademie‘ nicht nur schwer belastete, sondern am Ende spaltete, und der insgesamt Ausdruck der tiefen kulturellen Spaltung Deutschlands in zwei große Richtungen oder Lager ist. Drei Komplexe, die mit den Gegensatzpaaren ‚Dichtung oder Literatur‘, ‚Landschaft oder Großstadt‘ und ‚Deutschtum‘ oder ‚Judentum‘ benannt werden können, überlagern sich in diesem jahrelang sich hinziehenden Streit, der von Inge Jens (1971 bzw. 1994) und Werner Mittenzwei (1992) genau rekonstruiert und dargestellt wurde.
In einer ersten Phase drehte sich die Debatte um die Frage, ob die ‚Sektion für Dichtkunst‘ wirklich eine Sektion für Dichtung und Dichter sein und bleiben oder nicht doch eine Sektion für Literatur und Schriftsteller werden solle. Das ging auf eine alte, seit der Aufklärungszeit immer wieder geführte Debatte zurück, die Thomas Mann im Juli 1924 in einem Artikel Zum sechzigsten Geburtstag Ricarda Huchs als überholt erklärte, damit aber gerade das Gegenteil bewirkte. Mann wandte sich in diesem Artikel – gewissermaßen im Namen der ‚Romanschriftsteller‘ – gegen „die heillose Abgeschmacktheit der Antithese von Dichtertum und Schriftstellertum“ sowie „das tote Gewäsch vom deutschen Dichter und vom unvölkischen Schriftsteller“. Das wollten freilich nicht alle Schriftsteller- oder Dichterkollegen akzeptieren, und der mit Thomas Mann befreundete Josef Ponten publizierte im Herbst 1924 in der ‚Deutschen Rundschau‘ einen Offenen Brief an Thomas Mann, in dem er den – prätendierten – Unterschied zwischen dem „Schriftstellerischen“ und dem „Dichterischen“ durch eine lange Reihe von Antinomien profilierte. Diese werden in einundzwanzig kleinen Abschnitten stichwortartig benannt und zum Teil knapp erläutert. Schriftstellerisch hieß für Ponten: Form, Klarheit, Freiheit, Individualität, Geschmack, Belesenheit, Belehrung; Dichtung hingegen: Inhalt, Substanz, Dunkles und Verborgenes, Zwang, Not und Qual, Wunder und Offenbarung.
Mit diesen Vorstellungen, die er auch andernorts vertrat, wurde Ponten, der 1926 in die Akademie gewählt wurde, mehr oder minder willig zum „Stichwortgeber“ (Mittenzwei) für eine als ‚nationalkonservativ‘ zu bezeichnende Gruppe von Autoren, die in die Akademie drängten und in Erwin Guido Kolbenheyer, der Mitglied der Akademie war und dank seiner großen Paracelsus-Trilogie (1917–26) in hohem Ansehen stand, ihren Protektor und Wortführer fanden. Bei der Vorbereitung einer weiteren Zuwahl neuer Mitglieder trat Kolbenheyer, unterstützt von Ponten, dafür ein, die „spezifisch deutsch“ empfundene Kunst, die angeblich in der „Landschaft“ ihren Ursprung und Sitz hatte, in der Akademie zu stärken und schlug unter anderem Hans Grimm und Hans Friedrich Blunck für die Aufnahme vor. Er scheiterte damit, und statt dessen wurde im Herbst 1928 auf Vorschlag Georg Kaisers neben anderen Alfred Döblin in die Akademie gewählt, der in der weiter sich hinziehenden und sich verschärfenden Debatte zum Hauptkontrahenten Kolbenheyers und der anderen Herren „des total platten Landes“ wurde.
Alfred Döblins Berlin-Begeisterung
Dass Döblin diese Rolle – oder Aufgabe – annahm, lag sozusagen in der Natur der Sache. Döblin, 1878 in Stettin geboren und 1888 nach Berlin übergesiedelt, war ein emphatischer Berliner und rühmte die Metropole immer wieder als Ort freiheitlichen Lebens und Quelle künstlerischer Inspirationen. Als die ‚Vossische Zeitung‘ im April 1922 Künstlern die Frage stellte, ob Berlin das künstlerische Schaffen wirklich beeinträchtige oder hemme, antwortete Döblin mit einer langen und geradezu bewegenden Lobrede auf die inspirierende Kraft der facettenreichen und aufgewühlten Metropole mit ihrem bunten „Volksgemisch“, ihrem modernen Verkehr, ihren Zeitungen und ihren politischen Demonstrationen:
„Ich schwindle nicht: diese Erregung der Straßen, Läden, Wagen ist die Hitze, die ich in mich schlagen lassen muß, wenn ich arbeite, das heißt: eigentlich immer. Das ist das Benzin, mit dem mein Motor läuft.
Und nun Berlin. Das Chaos von Städten. Im Begriff, ein London von Internationalität zu werden; Volksgemisch erst, jetzt ein Völkergemisch. Vierunddreißig Jahre laufe ich hier herum, immer neugierig, beobachtend, wie sich das bewegt und wie es sich ruckartig entwickelte. Das zuckte durch alle, man konnte nicht still dabei bleiben, man mußte daran teilnehmen. […] Berlin ist wundervoll. Die Pferdebahnen gingen ein, über die Straßen wurden elektrische Drähte gezogen, die Stadt lag unter einem schwingenden, geladenen Netz. Dann bohrte man sich in die Erde ein; am Spittelmarkt versoff eine Grube; unter die Spree ging man durch bei Treptow, der Alexanderplatz veränderte sich, der Wittenbergplatz wurde anders: das wuchs, wuchs! […] Und das rebelliert, konspiriert, brütet rechts, brütet links, demonstriert, Mieter, Hausbesitzer, Juden, Antisemiten, Arme, Proletarier, Klassenkämpfer, Schieber, abgerissene Intellektuelle, kleine Mädchen, Demimonde, Oberlehrer, Elternbeiräte, Gewerkschaften, zweitausend Organisationen, zehntausend Zeitungen, zwanzigtausend Berichte, fünf Wahrheiten. Es glänzt und spritzt. Ich müßte ein Lügner sein, wenn ich verhehlte: öfter möchte ich auskneifen, das Geld fehlt; aber ebenso oft würde ich zurückkehren, Simson, der nach seinen Haaren verlangt.“
In der Akademie konnte Döblin sich gegen die von Kolbenheyer und Ponten ausgehenden Bestrebungen durchsetzen; die Stärkung der „Landschaft“ wurde verhindert, und zugleich wurde die Diskussion darüber eröffnet, ob die ‚Sektion für Dichtkunst‘ nicht doch in „Sektion für Literatur“ umbenannt und etwa durch Essayisten erweitert werden sollte. Dies und organisatorische Streitigkeiten führten dazu, dass Kolbenheyer und einige andere Anfang 1931 aus der Akademie austraten und versuchten, einen ‚nationalkonservativen‘ Dichterkreis zu etablieren. Die Kontroverse wurde aber in der Publizistik intensiv weitergeführt und verschränkte sich mit der Debatte über Alfred Döblins sensationellen Großstadtroman Berlin Alexanderplatz.
Der Streit um „Berlin Alexanderplatz“
Bevor Berlin Alexanderplatz 1929 als Buch ausgeliefert wurde, gab es – vom 8. September bis zum 11. Oktober 1929 – einen stark gekürzten Vorabdruck in der bürgerlichen ‚Frankfurter Zeitung‘. Die Leserschaft reagierte intensiv und gespalten. Viele Leser begrüßten den Vorabdruck dieses Romans, der einen neuen Blick in ein bisher nicht dargestelltes Milieu eröffnete; andere aber verwahrten sich dagegen, „durch diesen Dreck zu waten“ und „in die niedrigsten Niederungen der menschlichen Gesellschaft zu steigen“. Der Herausgeber der Zeitschrift ‚Deutsches Volkstum‘, Wilhelm Stapel, wertete diesen Vorgang in dem schon erwähnten Artikel Der Geistige und sein Volk als Symptom einer neuen Situation:
„Ein neuer Großangriff auf die deutsche Landschaft beginnt eben jetzt: der ‹Berliner Roman›. Zwar hat die Frankfurter Zeitung mit Döblins ‹Alexanderplatz› eine blutige Niederlage erlitten, aber mit Aufdringlichkeit und ‹geistiger Überlegenheit› wird man schließlich zum Ziel gelangen. Die republikanisierenden Geistigen arbeiten nach dem Schema Frankreich. Berlin will und muß für Deutschland werden, was Paris für Frankreich ist. Darum ist die Glorifizierung und Mystisierung [!] der Berliner Atmosphäre vom Alexanderplatz bis zum Kurfürstendamm […] ein Unternehmen von kulturgeschichtlicher Bedeutung. ‹Kulturwende›: Deutschland wird Berlin hörig. Das Deutschtum wird zum Berlinertum. Wir gehen einer kessen Zukunft entgegen.“
Mit dem Erscheinen von Berlin Alexanderplatz stellte sich nicht nur für Stapel, sondern für die deutsche Literaturkritik überhaupt die Frage, ob der Großstadt- und speziell auch der Berlinroman eine eigene und ästhetisch überzeugende Form gefunden habe. Bislang schien dies noch nicht der Fall zu sein. 1924 hatte der Literaturhistoriker Philipp Witkop in seiner Abhandlung Deutsche Dichtung der Gegenwart die These vertreten, der deutsche Großstadtroman habe seit seinen Anfängen mit Max Kretzers Berlin-Romanen und Michael Georg Conrads Münchener Romanen keine neuere und angemessenere Form gefunden. Erst das Erscheinen von Berlin Alexanderplatz veränderte das Bild. Ein guter Teil der Kritiker sah in ihm eine gelungene oder zumindest bedenkenswerte neue Realisation des Großstadt- und Berlinromans. Julius Bab schrieb im Mai 1929 in der Zeitschrift Der Morgen:
„[Berlin] wird dargestellt, nicht beschrieben! Es spricht uns an, es ergreift uns, reißt uns mit, so wie es auf hundertfältige Weise in die Nerven der Passanten, in den Kopf des Aufmerkenden, in die Seele des Mitlebenden eindringt: da schreit die Straße mit Ausrufern, Straßenbahnklingeln, Gesprächsfetzen, mit Bruchstücken der Litfaßsäule und mit Lichtreklamen auf uns ein. […] Da ist die ingrimmige, ironische Sachlichkeit, die – oft genug verkannt – bei diesem Menschenschlag aus einer scheu gehüteten Ehrfurcht vor der Wirklichkeit des Lebens kommt.“
In der Literarischen Welt rühmte Axel Eggebrecht die neuartige Sachgerechtigkeit der Darstellung:
„Im einzelnen bedient sich Döblin häufig der Assoziation. […] Nie ward sie souveräner behandelt, nie verfiel ihr einer weniger. […] Das Leben eines Stadtbewohners gliedert sich ja vorzüglich nach Assoziationen. Das wirbelnde Bild einer Riesenstadt ist wahrscheinlich überhaupt nur auf diese Art für den Einzelnen dauernd erträglich und aufnehmbar. […] An manchen Stellen bilden sich so grandiose Kompositionen, zu deren Entstehen einige Jahrzehnte unterschiedlicher literarischer Schulen mitgewirkt haben […]. Der Beflissene mag Meister Oelze [naturalistisches Drama von Johannes Schlaf], mag Dada, Expressionismus, Reportage und Sachlichkeit feststellen. Döblin benutzt jeglichen Stil […]. Zeitungsfetzen, Briefe, Reden, Träume, Bibelzitate wirken mit im großen Simultan-Epos der Weltstadt.“
Döblins Berlin ist aber nicht nur das reale Berlin; es steht in einer Reihe mit den historischen Metropolen Rom, Karthago, Ninive und nicht zuletzt auch Babylon. Auf Babylon und seine gewalttätigen Bewohner, die Kaldäer, wird am Ende des zweiten Kapitels des ersten Buchs verwiesen, und im vierten Kapitel des sechsten Buchs wird die „Hure Babylon“ durch ein einmontiertes (und abgewandeltes) Zitat aus der Geheimen Offenbarung (17,1-6) zum Sinnbild des bösen Treibens um und mit dem Helden Franz Biberkopf erhoben. Allerdings wird die Stadt von Döblin nicht darauf festgelegt, die verführerische Mitspielerin und zugleich mörderische Gegenspielerin des Helden zu sein. Was sie ihm ist, hängt wesentlich von ihm ab, und nach seiner Neugeburt als Franz Karl Biberkopf erscheint sie ihm als ein eher vertraulicher Lebensraum.
Der Held von Berlin Alexanderplatz wird vom Erzähler, der ihn mit großer Ironie, zugleich aber mit noch größerer Empathie behandelt, in der Vorrede als „ehemaliger Zement- und Transportarbeiter“ vorgestellt, später auch als „Möbeltransportör“ und „Mitglied eines Athletenklubs“. Er ist „stark wie eine Kobraschlange“ und von einfachem Gemüt und Verstand, zugleich aber mit den Pathologien der Moderne behaftet: Seine Sozialisierung ist in die Zeit des aggressiven Militarismus gefallen, und Kriegslieder bestimmen nach wie vor seinen Habitus. Der Krieg hat ihn traumatisiert zurückgelassen und nach dem Scheitern der anschließenden Revolution, an der er sich beteiligt hat, fühlt er sich verraten und rückt auch von den Kommunisten wieder ab. Weitere Jahre seiner Geschichte vor dem Einsetzen der Handlung bleiben im Dunkeln: erkennbar wird jedoch, dass er in dieser Zeit arbeitslos war und im Milieu der Ganoven und Zuhälter lebte, bis er seine „Partnerin“ Ida, die zu einem „neu aufgetauchten Breslauer“ tendierte, erschlug und dafür vier Jahre ins Gefängnis musste. Die Entlassung, mit der die „Geschichte vom Franz Biberkopf“ beginnt, fällt in den Spätsommer 1927, und das Geschehen erstreckt sich über etwa anderthalb Jahre; der Roman spiegelt also die gesellschaftliche Situation vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise und vor der Mobilmachung der politischen Extreme, mit deren Aufkommen der Roman schließt. Der Held, aus dem Gefängnis entlassen, unternimmt drei Versuche, in Berlin auf anständige Weise wieder Fuß zu fassen oder Berlin zu „erobern“, wie es seinem militaristischen Denken entsprechend heißt. Dreimal scheitert er, aber nicht nur an äußeren Umständen, sondern auch an seinem impulsiven Naturell und seinem Mangel an Selbstkontrolle, an seiner Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit, an seiner Unfähigkeit und Unwilligkeit, die eigene Situation richtig einzuschätzen. Seinen Schwur, „anständig“ zu bleiben, kann er nicht halten; er verfällt, von einem Freund betrogen, dem Alkohol, wird Zuhälter und Einbrecher, wird von seinesgleichen zum Krüppel gemacht und seiner engelhaften Helferin Mieze beraubt, erleidet mithin drei harte Schläge, deren letzter ihn niederwirft und in Wahnvorstellungen versetzt, aus denen er gebrochen, aber einsichtiger als zuvor wieder auftaucht. Er wird auf brutale Weise „zurechtgebogen“, wie der Erzähler im Vorwort sagt, um am Ende etwas bedächtiger auf das städtische Treiben und distanziert auf die konfrontativen Aufmärsche der Kommunisten und der Nationalsozialisten zu blicken. Wie sich Biberkopf ihnen gegenüber verhalten wird, bleibt völlig offen; vorerst nimmt er eine abwartende Haltung ein und unterstellt sich der Devise „Wach sein“. Grob entspricht dies dem, was Döblin 1930 unter dem Titel Wissen und Verändern allgemein empfahl: dass dem weiteren politischen Handeln eine gründliche Besinnung vorausgehen müsse.
Die Gegner der Metropole und der Metropolenliteratur fanden sich durch Berlin Alexanderplatz selbstverständlich nicht widerlegt, sondern in allen ihren Ressentiments bestätigt. Wilhelm Stapel, der Herausgeber der Monatsschrift Deutsches Volkstum, hielt in seinem schon erwähnten Parolen-Artikel Der Geistige und sein Volk an seiner Ablehnung fest und brachte sie mit Formulierungen zum Ausdruck, die sowohl auch auf eine Lektüre von Berlin Alexanderplatz als auch auf bewundernden Rezensionen von Bab, Eggebrecht und anderen zurückzuführen sind:
„Alle diese verschlissenen Ironien, alle diese neuen Sachlichkeiten, alle diese Reportage – dieser aufgeregte Cri de Berlin ist ja nichts als die Unfähigkeit, die Probleme unserer Zeit geistig zu bezwingen. Man sehe sich die Erzeugnisse dieser Geistigen an: ihre Logik ist ohne Spannweite, ihr Seelisches ist dürftig (darum macht man aus der Not die Tugend der Sachlichkeit), ihre Gestaltungskraft ist ohnmächtig: die Komposition fällt bröckelnd auseinander. Eindruck wird an Eindruck gereiht, Nervenreiz an Nervenreiz. Keine Größe, keine Tiefe, keine Gewalt des Geistes. Nur Wendigkeit, Unstete, Nervenhaftigkeit: Gehirntrümmer.“
Daran ist manches deskriptiv tendenziell zutreffend. Von einem „Zerbröckeln“ der strengen Komposition kann man durchaus reden; Döblin selbst hat dergleichen in seinen poetologischen Essays verlangt. Auch dass „Eindruck an Eindruck“ gereiht wird, „Nervenhaftigkeit“ dominiert und am Helden statt eines konsistenten Bewußtseins „Gehirntrümmer“ zu beobachten sind, ist nicht falsch. Nur war Stapel nicht willens und nicht fähig, zu erkennen und anzuerkennen, dass – zum einen – diese auf den ersten Anblick chaotisch wirkende Darstellungsweise dem turbulenten, unüberschaubaren und in seiner simultanen Vielfalt verstörenden Treiben der modernen Großstadt mehr entsprach als jede andere; und dass – zum zweiten – das Chaos durch eine Vielzahl von Leitmotiven und Exempelgeschichten auf zugrunde liegende Lebensmuster oder, wie Döblin sagt, „Elementarsituationen“ und Sinnerfahrungen oder Sinnangebote durchsichtig gemacht wird. Das Denken der „Landschaft“ hat sowohl vor der soziologischen und psychologischen Komplexität der Großstadt als auch vor der ästhetischen Komplexität des bedeutendsten deutschen Großstadtromans versagt. Die Chance, durch Anerkennung der dichterischen Leistung des dezidierten Großstadtautors Döblin Versöhnung zwischen „Landschaft“ und Metropole herbeizuführen, wurde vertan. Der Antagonismus „Landschaft vs. Metropole“ blieb bestehen und belastete das kulturelle Klima in Deutschland weiterhin.