Laudatio auf Veronika Weidner

Kardinal Wetter Preis 2017

Im Rahmen der Veranstaltung "Verleihung des Kardinal Wetter Preises an der LMU München", 22.11.2017

shutterstock

I.

 

Veronika Weidner hat sich in ihrer Dissertation mit einem Argument auseinandergesetzt, das die Religionsphilosophie seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt. Sie hat dies auf eine Weise getan, die die Katholisch-Theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität dazu bewogen hat, ihre Dissertation für den Kardinal Wetter Preis vorzuschlagen, den sie heute in Empfang nimmt. Ich darf Ihnen die Gründe für diese Entscheidung erläutern.

Das Argument stammt von dem kanadischen Religionsphilosophen John Schellenberg und dreht sich um die Verborgenheit Gottes, daher „hiddenness argument“. Wie das berühmte Theodizee-Argument soll auch dieses Argument aufzeigen, dass Gott – genauer gesagt der theistische Gott – nicht existiert. Das Theodizee-Argument besagt: Würde Gott tatsächlich existieren, gäbe es nicht so viel Übel und Leid in der Welt. Das „hiddenness argument“ besagt: Würde Gott tatsächlich existieren, bliebe er nicht so vielen Menschen verborgen.

Das klingt auf den ersten Blick erstaunlich, ja fast schon irgendwie paradox. Es klingt erstaunlich, weil in allen theistischen Traditionen betont wurde, Gott sei verborgen. Andernfalls wäre er gar nicht Gott, und andernfalls würde auch die Rede von einer Offenbarung Gottes keinen Sinn ergeben. Und es klingt paradox, weil ein verborgener Gott doch existieren muss, weil er andernfalls gar nicht verborgen sein könnte. Warum also soll die Verborgenheit Gottes gegen seine Existenz sprechen?

Um diese Frage zu beantworten, musste Weidner zunächst klären, was es mit der traditionellen Rede von der göttlichen Verborgenheit auf sich hat. Das ist im Wesentlichen eine ideen- oder theologiegeschichtliche Aufgabe. Wenn systematische Theologen historisch arbeiten, kann einiges schief gehen. Umgekehrt gilt natürlich Gleiches! Es besteht immer die Gefahr, sich in den historischen Details zu verzetteln und den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Dann wird die Sache in der Regel verwirrend statt erhellend. Vermeiden lässt sich das durch ein Gespür für das Wesentliche und durch den Mut, Unwesentliches auszublenden. Frau Weidner hat beides bewiesen.

 

II.

 

Die traditionelle Rede von der göttlichen Verborgenheit ist ein verschlungenes Knäuel. Im ersten Teil ihrer Arbeit hat Weidner die systematisch relevanten Fäden dieses Knäuels mit souveränem Überblick und großer Klarheit entwirrt.

Dadurch hat sie die Voraussetzungen geschaffen, um Schellenbergs Argument richtig einordnen zu können. Wenn in der Tradition von der Verborgenheit Gottes die Rede war, war damit primär Gottes Wesen oder seine Gegenwart gemeint; bei Schellenberg geht es dagegen um die Verborgenheit der Existenz Gottes. Ausgangspunkt seines Arguments ist nicht die Behauptung, dass viele nicht mehr an Gott glauben wollen, obwohl sie dies durchaus könnten, sondern die Behauptung, dass sie nicht mehr an ihn glauben können, auch wenn sie dies wollten. Der Grund, warum sie nicht glauben können, hängt mit den fehlenden Evidenzen zusammen. Im Englischen gibt es den Spruch: Absence of evidence is not evidence of absence. Schellenberg will zeigen, dass dies für die Existenz Gottes nicht gilt. Die Tatsache, dass die Evidenzen für die Existenz Gottes alles in allem unzureichend sind, ist seines Erachtens ein überwältigendes Indiz gegen seine Existenz. Der Grund ist folgender: Wer nicht an Gott glauben kann, kann auch in keine Beziehung zu ihm treten. Genau das würde Gott, wenn er denn existieren würde, nicht zulassen – und zwar per definitionem.

Schellenberg ist ein Vertreter der analytischen Philosophie. „Analytisch“ bezeichnet einen Stil des Philosophierens mit spezifischen Methoden und Standards. Ein Kennzeichen analytischen Philosophierens besteht darin, zu fragen, was Begriffe wie „glauben“ genau bedeuten. Ein weiteres Kennzeichen besteht darin, die Prämissen eines Arguments so klar wie nur möglich herauszuarbeiten und zu begründen, was natürlich nur funktioniert, wenn die Begrifflichkeiten geklärt sind.

Wie jede Kunst muss auch die Kunst des analytischen Philosophierens erlernt werden. Frau Weidner hat es in verblüffend kurzer Zeit geschafft, sich diesen Stil anzueignen und formvollendet zu beherrschen. Ganz offensichtlich besitzt sie ein Naturtalent für analytisches Philosophieren. Aufgrund dieses Talents ist ihre Exposition des Arguments sehr detailliert und außergewöhnlich präzise.

Eine theologische Arbeit kann durchaus einräumen, dass Schellenbergs Argument bedenkenswert ist. Aus begreiflichen Gründen kann eine theologische Arbeit aber nicht mit dem Eingeständnis enden, dass das Argument zwingend ist. Das lässt sich einzig und allein durch den Nachweis vermeiden, dass mit einer der Prämissen etwas nicht stimmt. Damit setzt sich der dritte Teil der Arbeit auseinander.

 

III.

 

Die bisherigen theologischen Repliken schlagen unterschiedliche Wege ein. Der einfachste Weg besteht darin, Schellenbergs Gottesbegriff zu hinterfragen. Der von ihm kritisierte Theismus, so behaupten einige, sei zu anthropomorph. Andere behaupten, Gottes Existenz sei gar nicht verborgen. Wiederum andere behaupten, Gott sei zwar verborgen. Dies ermögliche aber gewisse wertvolle Dinge, die andernfalls unmöglich wären.

Weidner schlägt einen anderen Weg ein, und zwar einen, der mir der denkerisch anspruchsvollste und originellste zu sein scheint. Sie fragt sich, ob man tatsächlich von der Existenz Gottes überzeugt sein muss, um in eine Beziehung zu ihm treten zu können. Die spontane Antwort dürfte lauten: Selbstverständlich! Weidner ist anderer Meinung. Damit steuert sie einen innovativen Beitrag zur Debatte um das „hiddenness argument“ bei. Ihre These begründet sie unter anderem mit originellen Gedankenexperimenten, die darauf hinauslaufen, das Verständnis von „Glauben“ neu zu überdenken. Konkret bedeutet das eine Unterscheidung zwischen „belief“ und „assumption“. Wenn dies zutrifft, ist eine der Prämissen von Schellenbergs Argument nicht zutreffend und seine abschließende Konklusion daher nicht zwingend. Ob sich das Argument angesichts dieser Kritik reformulieren lässt, steht auf einem anderen Blatt.

Weidner hat ihre Dissertation in Englisch verfasst. Das hat unter anderem den Vorteil, das Problem der teilweise unübersetzbaren Termini zu umgehen. Ich wüsste nicht, wie man zum Beispiel den Ausdruck „nonresistant non-belief“ ins Deutsche übersetzen sollte. Das hat aber vor allem den Vorteil, dass die Arbeit für einen viel weiteren Kreis zugänglich wird. Ich schätze, auch in der Theologie wird der Trend in Zukunft wohl dahin gehen, Dissertationen in Englisch zu schreiben – wenn man es kann. Weidner hat es riskiert und gezeigt, dass sie es kann. Ihr unprätentiöser Stil macht die Arbeit trotz des hohen Reflexions- und Abstraktionsniveaus sehr gut lesbar.

Das waren die Gründe, die unsere Fakultät dazu bewogen haben, die Dissertation von Veronika Weidner für den Kardinal Wetter Preis vorzuschlagen. Ich möchte hinzufügen, dass mehrere nicht minder preiswürdige Vorschläge zur Auswahl standen. Dass in diesem Jahr eine systematische, analytische, englischsprachige Arbeit das Rennen gemacht hat, freut nicht nur die Preisträgerin, sondern auch mich sehr. Ihr Mut hat sich ausbezahlt, und ihr Können wurde belohnt. Mein herzlicher Glückwunsch!

Weitere Medien vom Autor / Thema: Theologie | Kirche | Spiritualität

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema: Theologie | Kirche | Spiritualität

Reinhardhauke
Das Buch Hiob I
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 12.01.2026
Shutterstock/Jose HERNANDEZ Camera 51
Ein russischer Aufruf gegen den Krieg in der Ukraine
Akademiegespräch am Mittag mit Prof. Dr. Kristina Stoeckl und Dr. Johannes Oeldemann
Mittwoch, 14.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob II
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 19.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob III
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 26.01.2026
Ordo-socialis-Preis 2025 an Sylvie Goulard
Dienstag, 27.01.2026
Akademiegespräch am Mittag mit Abt Dr. Johannes Eckert OSB und Sr. Dr. Katharina Ganz OSF
Mittwoch, 28.01.2026
Ministerie van Buitenlandse Zaken/Wikimedia Commons
Menschenrechte verteidigen
… nach dem Seitenwechsel der USA
Mittwoch, 28.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob IV
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 02.02.2026