Meinungsfreiheit in Zeiten von Hassrede und „Fake News“

Einleitung

 

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit gilt als einer der wichtigsten Maßstäbe für den Zustand eines demokratischen Rechtsstaates. Die Meinungsfreiheit oder Meinungsäußerungsfreiheit ist das gewährleistete individuelle Recht auf freies Sprechen und (öffentliche) Verbreitung einer Meinung in allen Übertragungsmitteln. Englische Ausdrücke sind „Freedom of Expression“ oder „Freedom of Speech“. Es handelt sich um ein individuelles Grundrecht gegen die Staatsgewalt. Oft ist damit das Ziel verbunden zu verhindern, dass die öffentliche Meinungsbildung und damit auch die öffentliche Auseinandersetzung mit Regierung und Gesetzgebung beeinträchtigt werden.

Dieses Grundrecht steht unter Druck oder wenigstens in dauernder Diskussion. Totalitäre Staaten oder Staaten, die auf dem Weg dahin sind, schränken für gewöhnlich dieses Recht als erstes ein. Andersdenkende und Publizisten einzusperren widerspricht unserem Verständnis von Demokratie massiv. Ein Beispiel für die dennoch stattfindenden Diskussionen wäre die „Affäre“ Jan Böhmermann: Dieser hatte ein als „Schmähkritik“ tituliertes Gedicht in seiner Sendung vorgetragen und darin den türkischen Präsidenten massiv beleidigt. Diese Performance war eine Antwort auf die Reaktion Erdogans zu einem Beitrag in der Sendung „extra3“: Der türkische Präsident war über den recht harmlosen Beitrag so verärgert, dass er den deutschen Botschafter zweimal ins türkische Außenministerium in Ankara einbestellte. Böhmermann hat in seiner Performance deutlich gemacht, dass es Grenzen für Satire gibt, aber die extra3-Sendung eben diese Grenzen nicht überschritten hatte. Böhmermann zeigte mit seiner Aktion, was nicht erlaubt ist, also was nicht gedeckt ist durch Grundrechte. In genialer Weise trieb er die Satire damit künstlerisch auf die Spitze und brachte damit – wie beabsichtigt – die Situation mit Erdogan zur Eskalation. Interessant war zu beobachten, wie Politik, Medien und Öffentlichkeit damit ziemlich überfordert waren. Kurz: Satire ist immer ein schwieriger Fall für die Meinungsfreiheit; das Ausreizen des Grundrechtes irritiert, ist aber vielleicht als Kritikform notwendig.

Wenn wir über das Gewähren von Sprachrechten, aber auch das fallweise Einschränken und Regulieren von Sprechen und Meinen nachdenken, fällt uns die aktuelle, sehr sensible öffentliche Diskussion darüber auf: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ ist ein vielgesagter Satz heutzutage. Und in Foren und auf Social-Media-Plattformen erleben wir an einigen wenigen Orten eine hasserfüllte, aggressive Sprache, die dem unbedarften Leser wiederum die Sprache verschlägt. Und im Hinblick auf die grassierenden „Fake News“ müssen wir uns die Frage stellen: Haben Menschen ein Recht, Unwahrheiten zu verbreiten? Oder ist das gedeckt durch die Meinungsfreiheit?

Im Folgenden möchte ich zuerst über diese Phänomene sprechen, um dann kurz zu schildern, in welche Varianten das Recht auf freie Meinungsäußerung kodifiziert ist. In einem weiteren Schritt möchte ich dann mit ein paar Argumenten der britischen Philosophin Onora O’Neill überlegen, ob wir nicht besser über Toleranz sprechen sollten als über das Recht auf freie Meinungsäußerung. Zuletzt leite ich ein paar Überlegungen daraus ab für Politik, Medien und uns Nutzerinnen und Nutzer, die wir immer auch zugleich Produzenten sind.

 

Verstöße und der Kampf um Sprachnormen: Hassrede, Fake News und der Kampfbegriff „Political Correctness“

 

Die Normen, die unser Sprechen regeln, sind vielgestaltig. Man soll andere nicht beleidigen, man soll die Wahrheit sagen, und unliebsame Kommentare sollen nicht unterdrückt werden. Alle diese Regeln aber stehen zur Debatte, bzw. gegen diese Regeln wird verstoßen, bewusst oder unbewusst, oder es gibt Klagen, dass sich keiner an diese Regeln hält. In den heutigen Diskussionen fallen drei Themenbereiche auf, an denen deutlich wird, wie das öffentliche Sprechen reguliert wird und wie die Regeln dafür zur Debatte stehen: Hate Speech, Fake News und die sogenannte „Political Correctness“.

 

Hate Speech

Im Zuge des starken Flüchtlingszuzugs konnte man in Deutschland ab ungefähr April 2015 eine steigende Aggressivität in den Debatten beobachten. Besonders in den populären Sozialen Medien, also vor allem bei Facebook und zum Teil bei Twitter, fiel eine Häufung von aggressiven, hasserfüllten und rassistischen Kommentaren auf. Oft ist von „Hassreden“ (Hate Speech), „Hassbotschaften“ oder „Hasskommentaren“ die Rede, auch der Begriff Cyberhate wird benutzt. Hate Speech bedeutet ursprünglich eine menschenfeindliche und rassistische Äußerung (Hate Speech) gegenüber religiösen und ethnischen Gruppen. Heute ist Hate Speech die Chiffre für aggressive und hasserfüllte Sprache und Kommunikation mit den Mitteln digitaler Kommunikation. Hate Speech muss sich nicht immer gegen Minderheiten richten; oft ist das Ziel des Hasses eine Politikerin, ein Autor, ein Sportler usw.

Seit 2009 ist es zu einer geschätzten Verdreifachung von Hate Speech-Aktivitäten im Internet gekommen (Hafez 2017). Bei der Durchsicht der Berichte und Untersuchungen ergibt sich durchaus das Bild, dass Hasskommentare in den letzten Jahren zugenommen haben. „An einigen Stellen“ ist dabei wichtig: Laute und aggressive Kommunikation rückt in den Vordergrund und tendiert dazu, moderate und sachliche Beiträge, selbst wenn sie kritisch sind, unsichtbar werden zu lassen. Ines Brodnig (2016) untersucht Dynamiken der onlinebasierten Hassreden, analysiert den Hass als Instrument in diesen Diskursräumen und betont die toxische Wirkung von Schimpfworten und verbalen Attacken. Sie glaubt nicht, dass die Digitalisierung und das Internet die Auslöser für den neuen Hass und die massive Aggressivität der Sprache sind. Sie zeigt aber, dass das Internet eine gesellschaftliche „Dissonanz“ verstärken kann.

Hate Speech ist ein weit verbreitetes Phänomen, das zeigt, wie sehr eine Enttabuisierung öffentlicher Kommunikation fortgeschritten ist.

 

Fake News

Wir leben in Zeiten, in denen die Lüge in ganz neuer Form salonfähig ist und in denen sich die Täuschung in der öffentlichen Kommunikation breit etabliert hat. Auf diesen Zustand macht der Begriff des „post-faktischen Zeitalters“ aufmerksam. Dabei ist es ein Missverständnis, dass dieser Begriff zugleich meint, wir lebten einst in einem reinen „faktischen Zeitalter“. Denn natürlich gab es Lüge und Täuschung schon immer. Neu ist also nicht, dass Unwahrheiten publiziert werden; neu ist, mit welcher Unverfrorenheit sich Lügnerinnen und Lügner zur Wehr setzen. Die Erfindung des Ausruckes „Alternative Fakten“ durch Kellyanne Conway, der Beraterin von US-Präsident Trump, in einem Interview mit Chuck Todd ist ein sprechender Beleg dafür.

Wir leben im Zeitalter der Desinformation und erleben eine fundamentale Wahrheitskrise. Verantwortlich dafür sind eine Reihe von Faktoren, ein ökonomisch kriselnder Journalismus, grassierender Vertrauensverlust in die klassischen demokratischen Institutionen (einschließlich der Massenmedien). Wir leben, wie es Stephan Ruß-Mohl (2017) ausgedrückt hat, in einem Zeitalter der Desinformationsökonomie. Ruß-Mohl geht dabei von dem Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie aus, den der Österreicher Georg Franck (1998) geprägt hat. Franck versucht mit dem Begriff zu zeigen, dass unsere Gesellschaft durch den Austausch und den Handel mit der knappen Ressource Aufmerksamkeit geprägt ist – nach Franck eine typisch spätmoderne Entwicklung. Ruß-Mohl nun sieht nicht mehr Aufmerksamkeit, sondern Desinformation als Handelselement: Gesellschaft ist also geprägt durch den „Handel“ mit Desinformation. Das ist sicherlich eine treffende Diagnose, die zeigt, wie tief die Täuschung etabliert ist, wie sehr die Lüge öffentlich salonfähig ist und dass dies nicht zufällig geschieht, sondern verbunden ist mit politischen, ideologischen und anderen Interessen.

 

Political Correctness

Auch Ihnen wird der folgende Satz in letzter Zeit öfter begegnet sein: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen…“ Viele Menschen haben den Eindruck, dass man einige Dinge eben nicht sagen darf, dass bestimmte Aussagen nicht getroffen werden dürfen. Das Phänomen, dass bestimmte Aussagen in der Öffentlichkeit nicht gemacht werden dürfen, ist allerdings kein neues Phänomen. Man stelle sich vor, dass jemand 1950 öffentlich gefordert hätte, homosexuelle Lebensformen heterosexuellen gleichzustellen. Das hätte man 1950 eben nicht sagen „dürfen“ und Verstöße dagegen wären mit Achtungsentzug bestraft worden. Eine solche Meinung verstieß gegen den moralischen Konsens der Gesellschaft dieser Zeit.

Diese Erläuterungen steuern auf ein Thema zu, das ich mich scheue, mit dem Ausdruck „Political Correctness“ zu bezeichnen. Die politische Korrektheit ist nämlich ein höchst missverständlicher Ausdruck mit einer interessanten Bedeutungsverschiebung in den letzten Jahrzehnten. Heute ist die Kritik an der „politischen Korrektheit“ vor allem in den extremen Lagern zu Hause und dort vor allem in rechtspopulistischen Parteien. Alice Weidel, Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, fordert im April 2017: Die „politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte“ – und die ganze Halle tobt.

Meistens haben wir es, wenn jemand eine „political correctness“ kritisiert, mit einem Strohmann-Argument zu tun. In diesem Beispiel behauptet Weidel, in unserem politischen Klima dürfe man nicht mehr sagen, was man denkt. Und „alle“ (also „Mainstream-Medien“ und „die Altparteien“) wären Sprachpolizisten, die über Sprachverbote Denkmöglichkeiten kontrollieren und so das Recht auf freie Meinungsäußerung und eine ehrliche Politik unterdrücken. Da klatscht man gerne, denn wer ist schon gegen freie Meinungsäußerung? Aber natürlich ist das eine Verzerrung der Position eines politischen Gegners. Die AfD ist nun sicherlich nicht die einzige politische Kraft, die für freie Meinungsäußerung ist.

Der Punkt ist nun, dass es selbstverständlich Sprachkritik gibt, also Kritik an der Sprache des politischen Gegners. Die gibt es aber nun von linker wie von rechter Seite als normalen Teil des politischen Diskurses. Die einseitige Diffamierung einer Sprachkritik, die von einer linken politischen Richtung kommt, als „politische Korrektheit“, ist ein unlauteres Kampfmittel vor allem der Neuen Rechten, die damit verschleiert, dass selbstverständlich auch sie „Neusprech“ produziert („Altparteien“, „Meinungskartell“, „Frühsexualisierung“, „Bahnhofsklatscher“ ); und die sich damit als einzige Hüterin der Wahrheitsperspektive geriert.

Im Kontext einer gegenseitigen Abschottung politischer Lager allerdings gibt es durchaus dogmatisch werdende Sprachregeln, die repressiv sind und Diskurse behindern können. Das ist zu kritisieren. Ebenso die Auswüchse, die eine panische Angst vor Diskriminierung etwa in den USA produziert, wo Texte des traditionellen Literaturkanons zensiert werden sollen, weil sich Minderheiten von diesen Texten irritiert fühlen, was dann im Effekt, so muss man das verstehen, eine Diskriminierung ist, weil Studentinnen und Studenten das laut Lehrplan lesen müssen.

Meist kämpfen diejenigen, die gegen die „political correctness“ wettern, um eine weitere Ent-Tabuisierung öffentlicher Kommunikation, um damit eigentlich tabuisierte Aussagen und Themen in der öffentlichen Kommunikation unterzubringen. Dies ist natürlich hoch relevant für unser Thema, dem Menschenrecht auf freie Rede. Denn: „Der anti-tabuistische Gestus, der allerorten sichtbar wird, wendet sich am Ende gegen sich selbst. Wer ethnische und religiöse Demarkationen wieder zur Grundlage der politischen Ordnung machen will, der zerstört das Fundament der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit. Die Betreiber von Hassportalen berufen sich auf die Legalität ihres Handelns, da auch Vorurteile gegen Gruppen, solange diese nicht gegen lebende Individuen gerichtet seien, unter dem Schutz der Meinungsfreiheit stünden.“ (Hafez 2017)

 

Meinungsfreiheit als Menschenrecht

 

Nach dieser Zeitdiagnose halten wir kurz inne und besinnen uns für das weitere Vorgehen auf die menschenrechtliche Tradition der Meinungsfreiheit. Begrifflich sind wir zunächst damit konfrontiert, dass im Englischen differenziert wird zwischen freedom of expression, freedom of speech und freedom of opinion. Freedom of expression (Ausdrucksfreiheit) scheint im Verhältnis zu freedom of speech (Redefreiheit) weitergehender zu sein und umfasst auch umfassende mediale Äußerungen ebenso wie Informationsfreiheit. Wo sich freedom of opinion (Meinungsfreiheit bzw. präziser: Meinungsäußerungsfreiheit) im Englischen eher wie ein Sonderfall der Ausdrucksfreiheit anhört, ist die Meinungsfreiheit im Deutschen der Sammelbegriff für das Menschenrecht.

Im Bereich der Kodifizierung des Rechts auf freie Meinungsäußerung werden wir historisch zunächst auf die Bill of Rights von 1689 verwiesen, die ein konstitutionelles Recht auf freie Rede vor dem Parlament kennt. Sicher haben sich im antiken Athen oder Rom politische Formen etabliert, die freies öffentliches Reden unter Schutz stellten. Aber erst die französische Menschenrechtsdeklaration formuliert 1789 in Artikel 11 ein umfassendes Menschen- und Bürgerrecht auf freie Kommunikation der Gedanken und Meinungen: „Die freie Äußerung von Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Menschenrechte: Jeder Bürger kann also frei reden, schreiben und drucken, vorbehaltlich seiner Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz bestimmten Fällen.“

Berühmt ist der Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten (englisch First Amendment) als Bestandteil des Grundrechtekatalogs der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1791, der die besondere Rolle der Redefreiheit für die Gesellschaft der USA begründet hat: „Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen.“

Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) formuliert dann schließlich: „Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“

Auf der Ebene der Verfassung wird am Beispiel des deutschen Grundgesetzes (Artikel 5) die Bedeutung der Pressefreiheit im Kontext der freien Meinungsäußerung deutlich: „(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

Die Freiheit der Presse ist in Deutschland nach den Erfahrungen der sogenannten Gleichschaltung von Presse und Rundfunk in der Zeit des Nationalsozialismus ein hohes Gut. Das Zensurverbot im Grundgesetz bleibt die oberste Norm für jede öffentliche Kommunikation.

Wenn man die Forderung nach einem freien und unabhängigen Mediensystem und die Bedeutung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung zusammen betrachtet, sehen wir sehr klar, wie die individuellen Freiheitsrechte mit einer ihnen entsprechenden Ordnung der Gesellschaft zusammenhängen: Das Recht auf freie Meinungsäußerung stellt „nur“ eine Chance dar, für deren Verwirklichung es aber konkrete Kommunikationsmöglichkeiten geben muss. Diese konkreten Kommunikationsmöglichkeiten, also Internet, Fernsehen, Radio und Presse haben wiederum eine wichtige Bedeutung für das Funktionieren von demokratischer Politik. Die rechtlich verbürgte Freiheit, seine Meinung frei äußern zu dürfen, hängt wechselseitig mit der Freiheit und Unabhängigkeit der Medien zusammen.

An dieser Stelle hat sich der Zusammenhang von individueller Freiheit und öffentlicher Kommunikation schon in entscheidender Hinsicht gezeigt. Die Argumentation lässt sich aber noch weiterführen: Meinungsfreiheit ist ein negatives Freiheitsrecht, das heißt, dass vor allem staatliche Beschränkungen dieses Rechtes abgewehrt werden sollen. Für die Demokratie ist aber dieses Recht auf freie Meinungsäußerung vor allem dann wichtig, wenn nicht nur alle Einzelnen unabhängig voneinander ihre Meinung äußern, sondern wenn es eine Kommunikation gibt, also wenn Meinungen zu einem Thema öffentlich und allseits erreichbar geäußert werden, die Meinung dann wiederum andere Beiträge auslöst und sich dadurch schließlich eine Medienöffentlichkeit, eine öffentliche Kommunikation über Presse, Rundfunk und Internet formiert. – Oft kommen wir also mit dem Verweis auf die bloßen Rechte nicht weiter und müssen uns über Kontexte und Verwirklichungsbedingungen unterhalten. Mit den Themen Hate Speech, Fake News und dem Kampfbegriff „political correctness“ im Hinterkopf müssen wir uns gar die Frage stellen, ob wir wirklich mit dem Verweis auf Rechte in digitalen Zeiten weiterkommen.

 

Toleranz statt Recht auf freie Meinungsäußerung?

 

Die Meinungsfreiheit ist die oberste Norm öffentlichen Sprechens und Schreibens. Wir haben es dabei mit allen Phänomenen öffentlichen Sprechens zu tun: Fake News wollen Nachrichten sein, Menschen schotten sich kommunikativ in Teilöffentlichkeiten ab, die Debatten um die „political correctness“ beziehen sich ausdrücklich auf die Meinungsfreiheit.

Meine These nun ist, dass wir in der geschilderten Situation zwar unbedingt weiterhin an der Norm der Redefreiheit festhalten müssen, aber dabei nach einem Weg suchen müssen, wie wir unwahre und aggressive Äußerungen moralisch kritisieren können, oder positiv ausgedrückt: Wie wir die Werte der Wahrheit und der Humanität in den menschenrechtlichen Diskurs um Redefreiheit und freie Meinungsäußerung einbauen können. Das ist nicht so einfach, denn vielfach wird für die Äußerung von unwahren und hasserfüllten Aussagen die Redefreiheit in Anspruch genommen. Deutlich wird die Schwierigkeit auch da, wo öffentliche Rede rechtlich eingeschränkt wird, etwa bei Versuchen, Hassrede rechtlich einzuschränken bzw. zu verbieten und zu löschen (NetzDG). Darf man mit dem Argument, Unwahrheiten und Hass sind in moralischem Sinne schlecht, die Freiheit der Rede einschränken?

Auf der Suche nach einer Theorie der Meinungsfreiheit, die dem Wahrheitskriterium eine zentrale Stellung zuweist, werden wir bei Onora O’Neill fündig. Die britische Philosophin setzt in Bezug auf die Frage nach der Meinungsfreiheit kommunikationsethisch an. Ganz gemäß ihrer grundlegenden Perspektive auf praktisch-philosophische Fragen integriert sie dabei die moralphilosophischen Bereiche der Rechte und der Pflichten.

O’Neills Überlegungen zur Redefreiheit starten mit einer kommunikationsethischen Weichenstellung: „Kommunikation hat“, so O’Neill, „unzählige Zwecke, wovon zwei immer Vorrang haben. Der eine ist theoretisch: Wir möchten (und müssen oft) beurteilen, ob die Ansprüche Anderer wahr oder falsch sind. Der andere ist praktisch: Wir möchten (und müssen oft) beurteilen, ob die Selbstverpflichtungen anderer vertrauenswürdig sind – oder nicht.“ (O’Neill 2014: 37) Wir wollen also erstens wissen, ob das, was jemand sagt, wahr ist. Das ist in gewissem Sinne ein theoretischer Grund, bei dem es um die Möglichkeit geht, etwas zu erkennen und eine Prüfung durchzuführen, ob etwas stimmt. Jemand trifft eine Aussage, ich wende mich ihm zu, antworte und frage nach seinen Quellen oder Beweggründen. Der andere, zweite Grund, ist praktisch: „Wir möchten beurteilen, ob der Andere/die Andere vertrauenswürdig ist – oder nicht.“ (O’Neill 2014: 37) Es geht darum, ob ich jemandem meine Stimme geben kann, ihm meine Kinder anvertrauen kann etc.

Der Zweck der Kommunikation, der Zweck der Antwort auf einen Ausspruch oder eine Handlung ist also Wahrheit und Vertrauen; deswegen kommunizieren wir miteinander. Unser Bedürfnis nach richtigen Informationen und vertrauenswürdigen Mitmenschen lässt uns das Wagnis der Kommunikation eingehen. Wenn wir jetzt fragen, in welcher Kommunikationskultur wir leben wollen, dann wohl in einer, die es uns ermöglicht, die Zwecke der Kommunikation zu erfüllen, also richtige Informationen zu bekommen und eine vertrauensvolle Interaktion einzugehen.

Die These von O’Neill ist nun: Heutige Diskussionen über Sprachrechte sind „ambivalent oder gleichgültig den Normen gegenüber, die für die Beurteilung von Wahrheit und Vertrauenswürdigkeit bedeutsam sind“ (O’Neill 2014: 37). Sie sagt also, dass wir über öffentliche Rede gar nicht mehr kommunikationsethisch im eigentlichen Sinne reden, sondern uns zu sehr auf das bloße „ein Recht haben, frei zu sprechen“ konzentrieren. Sie macht einen Vorschlag, wie man dies ändern kann. Sie schlägt vor, darüber nachzudenken, ob nicht Toleranz der bessere Begriff ist, mit freier Rede und dem öffentlichen Sprechen umzugehen. Thema ihrer kommunikationsethischen Analyse ist die Verbindung von Toleranz mit den verschiedenen Sprachrechten und -verboten. Zunächst nimmt sie die Kategorie der Wahrheit des öffentlichen Sprechens in den Blick. Wo aber liegt der Vorteil des Begriffes der Toleranz in Bezug auf die Wahrheit? Sie sagt: „Viele frühe Forderungen nach Toleranz behaupten nicht, dass alle ein Recht haben, alles zu sagen oder zu tun, wozu alle anderen zur Duldung verpflichtet worden sind. Sie erklären vielmehr auffällig, dass es eine Pflicht gibt, Sprechakte anderer zu tolerieren, auch wenn sie nicht wahr sind.“ (O’Neill 2014: 37).

Sie zeigt dies an dem Zusammenhang von Wahrheit und Zensur. Denn die Gründe, mit denen in der Frühaufklärung die Toleranz gegenüber auch falschen und irrigen Meinungsäußerungen gefordert wurde, beziehen sich auf die Wichtigkeit der Wahrheit. Auch der Zensur gehe es zwar um Wahrheit. Die Zensur wird gerechtfertigt mit dem Argument, dass es unerlaubt ist, falsche oder gefährliche Ideen zu verbreiten. Diese Argumentation hat natürlich etwas für sich, allerdings nur dann, wenn man davon ausgeht, „dass wir ein gesichertes Verständnis von Wahrheit haben können“ (O’Neill 2014: 37). Eben dies aber sei eine falsche Prämisse, weil „Wahrheit nicht immer sicher erkennbar ist“ (O’Neill 2014: 38). Die menschliche Fehlbarkeit sei daher ein guter Grund, das Sprechen Anderer zu tolerieren und zu schützen, anstatt sie zu regulieren. Denn wir können nicht wissen, ob der Sprecher nicht vielleicht doch Recht hat. Sie folgert: „Wenn wir Wahrheit ernst nehmen, aber nicht wissen, wo sie liegt, erfordert das Streben nach Wahrheit den Schutz und die Tolerierung von Äußerungen und Veröffentlichungen … die möglicherweise falsch sind.“ (O’Neill 2014: 38)

Neben diesem Rückgriff auf die Tradition des Toleranzgedankens bleibt für O’Neill die Kommunikationsethik zentral. Menschliche Fehlbarkeit bleibt ein wichtiger Gesichtspunkt, aber der Fokus auf das Kommunikationsgeschehen betont darüber hinaus, dass Wahrheitsansprüche und Selbstverpflichtungen von Äußerungen tatsächlich auch verstanden und bewertet werden können. „Denn Kommunikation kann schlicht fehlschlagen, wenn sie entweder unverständlich oder unbewertbar von den beabsichtigten Adressaten ist.“ (O’Neill 2014: 38) Eine Ethik der Kommunikation verweist daher auf weitere Normen, welche die Sprecher in die Pflicht nehmen und anhand derer das Sprechen dann auch kritisiert werden kann. Verständlichkeit, Überprüfbarkeit und Vertrauensmöglichkeiten „sind für alle Arten von Kommunikation grundlegend, werden aber ausgeklammert, wenn wir uns nur auf den Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung konzentrieren und die Bedürfnisse der Adressaten, für die die Beurteilung von Wahrheit und Vertrauenswürdigkeit von Belang sein kann, ignorieren“ (O’Neill 2014: 39).

In ihrem letzten Schritt geht O’Neill nun auf die Frage ein, wie denn das Streben nach Wahrheit angesichts unserer Fehlbarkeit aussehen kann. Woher wissen wir, ob jemand die Wahrheit sagt und ob wir ihm vertrauen können? O’Neill lokalisiert die dafür notwendigen Anstrengungen nicht nur bei den Rezipienten, sondern sieht dafür die Sprecher in die Pflicht genommen. Sie fordert, „dass die Sprecher bestimmte Normen in die Praktiken der Untersuchung und der Kommunikation einbauen und sich um den Nachweis bemühen, dass sie dem auch entsprechen … Wo immer uns Wahrheit und Vertrauenswürdigkeit wichtig sind, ist uns auch klar, dass die Normen, unter denen sie kommuniziert werden, tief in der Kommunikation selbst eingebettet sein müssen.“ (O’Neill 2014: 40)

 

Fazit

 

Angesichts von Hate Speech, Fake News und dem diffusen Gefühl der Menschen, nicht mehr sagen zu dürfen, was man sagen will, kommen wir mit dem bloßen Verweis auf das Menschenrecht der freien Meinungsäußerung nicht richtig weiter. Die Ausführungen O’Neills zur Toleranzpflicht gegenüber jeglichen Äußerungen und dem gebotenen Verbot der Vorzensur drehen den Diskurs um die Meinungsfreiheit in der Weise um, dass sie die Akteure in besonderer Weise in die Pflicht nehmen. Gezeigt werden kann damit beispielsweise eine Pflicht für Einzelne wie auch für Institutionen, bestimmte Dinge nicht zu tun: nämlich nicht vorzuzensieren, nicht eine Lizenz zum Sprechen und Schreiben zu geben oder Strukturen einzurichten oder zu behalten, die entsprechende sublime Wirkungen haben.

O‘Neill stellt nicht das Recht, etwas zu tun, in den Mittelpunkt, sondern denkt vom Streben nach Wahrheit und der Moralität menschlicher Kommunikation her. Damit wird die Notwendigkeit von Rechten schlechthin natürlich nicht bestritten; aber es ist eine interessante und weiterführende Perspektive, dass man in Bezug auf das Sprechen und Sich-Äußern gesellschaftlich nicht zunächst von Rechten sprechen sollte, sondern von Verantwortlichkeiten und seinen moralischen Elementen. Dies kann und sollte auch eine Perspektive der Medienethik sein, die die aktuellen Zustände öffentlicher Kommunikation kritisch begleitet und beurteilt.

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