Menschenrechte – Erosion einer Idee?

Dass zwischen Menschenwürde und Menschenrechten ein Zusammenhang besteht, ist klar. Weniger klar ist jedoch, welcher Zusammenhang genau zwischen beiden besteht. Häufig wird angenommen, dass Menschenwürde die Menschenrechte begründet und zwar, grob gesagt, in folgendem Sinn: Weil Menschen Würde haben, deshalb gelten die Menschenrechte. Ich bin ebenfalls überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Idee der Menschenwürde und der Idee der Menschenrechte gibt. Allerdings bin ich skeptisch, ob die Würdeidee, wenn man sie genau nimmt, diese Begründungsrolle tatsächlich übernehmen kann. Vielmehr scheint es mir gute Gründe dafür zu geben, der Idee der Menschenwürde eine andere Rolle zuzusprechen, nämlich jene, ein Bild davon zu zeichnen, worauf mit den Menschenrechten unter anderem abgezielt wird: und zwar darauf, was für ein Leben es ist, das unter anderem durch die Einhaltung der Menschenrechte ermöglicht werden soll, nämlich ein Leben in Würde. Diesen Gedanken möchte ich im Folgenden erläutern, in dem ich vor allem skizziere, was ein präzises, plausibles Verständnis des Begriffs der Menschenwürde sein kann.

Vorausgeschickt sei dabei noch, dass ich als Moralphilosophin argumentiere. Als solche kann ich den Begriff der Menschenwürde anders in den Blick nehmen als Juristen und Juristinnen. Diese müssen bei der Erläuterung von der „Würde des Menschen“ – wie es bekanntlich im Deutschen Grundgesetz heißt – und beim Auftauchen verwandter Ausdrücke in verschiedenen Gesetzestexten immer den gesamten Gesetzestext mitberücksichtigen. Das heißt, sie müssen bei der Erläuterung etwa darauf achten, was mit der Einführung des Begriffs beabsichtigt wurde und welche Folgen eine bestimmte Erläuterung für die Konsistenz und das Funktionieren eines Gesetzeswerks hat. Als Moralphilosophin kann ich einen allgemeineren Blick auf den Begriff werfen, in dem seine Verwendungen in der Geistesgeschichte und im Alltag genauso wichtig sind wie die Verwendung im Gesetzestext.

In diesem Sinn beginne ich mit einem Beispiel aus der politischen Welt. Der SPD-Politiker Martin Schulz war im März des vergangenen Jahres noch Präsident des Europäischen Parlaments. In dieser Rolle hat er damals zu einer, wie er selbst sagte, „ungewöhnlichen Maßnahme“ gegriffen: Er hat den griechischen Abgeordneten Eleftherios Synadinos aus einer Sitzung ausgeschlossen. Mit sofortiger Wirkung. Vor laufenden Kameras forderte Schulz Synadinos auf, den Saal zu verlassen – was dieser schließlich, unter Protest, tat. Warum hat Schulz zu dieser drastischen Maßnahme gegriffen? Synadinos hatte sich am Morgen im Parlament rassistisch diskriminierend über Türken geäußert. Schulz sah in diesen Äußerungen eine schwerwiegende Verletzung der Werte und Grundsätze der Europäischen Union und hielt sie deshalb für „unbedingt sanktionierbar“ (im Sinne von Artikel 165 der Geschäftsordnung). Es sei ein Zwischenfall, bei dem das Europäische Parlament reagieren müsse, das sei „unvermeidlich für die Würde des Hauses“.

Dieser Vorfall ist einschlägig, wenn man sich über die Bedeutung von Menschenwürde klar werden will, denn bei diesem Vorfall spielt „Würde“ in zwei Hinsichten eine Rolle.

Zum einen beruft sich Schulz auf die Würde des Europäischen Parlaments. Diese nähme Schaden, wenn keine Gegenmaßnahme ergriffen wird, sobald ein Mitglied den Grundsätzen dieser Institution nicht entspricht. Diesen Grundsätzen widersprochen hat Synadinos, indem er sich abwertend verallgemeinernd über „die Türken“ geäußert hat, denen nicht anders als „mit der Faust“ beizukommen sei – um nur einen harmloseren Teil der Äußerung zu zitieren.

Zum anderen spielt die Würde des Menschen indirekt eine Rolle, insofern sie zu den angesprochenen Werten und Grundsätzen gehört. Sie steht im Artikel 1 der Grundrechtscharta der EU als etwas, das zu schützen und zu achten sei. Und eben dagegen verstößt der Abgeordnete, wenn er sich diskriminierend gegenüber Türken äußert. Dieser Zusammenhang liegt nahe, auch wenn er nicht ausdrücklich in der Charta steht. Nicht-Diskriminierung ist eigens der Artikel 21 in der Charta gewidmet, und man kann sich aussuchen, ob es sich im vorliegenden Fall um eine rassistische oder eine Diskriminierung aufgrund von Staatsangehörigkeit handelt. Beides ist geächtet. Diskriminierung ist geächtet, so lässt sich die Charta verstehen (Artikel 1 und 21), weil sie die Würde von Menschen verletzt.

Wir haben es hier also mit zwei Beispielen von Verwendungsweisen des Wortes Würde zu tun; einmal als Würde einer Institution, einmal als Würde von Menschen. Diese Beispiele sollen dazu dienen, Ihnen meinen Ausgangspunkt für meine folgenden Überlegungen deutlich zu machen.

Mein Thema ist die Frage, was genau unter „Menschenwürde“ zu verstehen ist, worüber in der Philosophie derzeit eine rege Diskussion herrscht. Um einen Vorschlag dazu zu machen, gehe ich von dreierlei aus. Erstens setze ich – mit dem Beispiel des Europäischen Parlaments – voraus, dass wir offensichtlich auch von Würde jenseits des Kompositums der Menschen-Würde sprechen. Deshalb meine ich, dass es ein allgemeines Verständnis von Würde geben muss, das verschiedentlich verwendet werden kann. Zweitens gehe ich entsprechend davon aus, dass bei einer Erläuterung des Begriffs der Menschenwürde deutlich werden sollte, inwiefern dieses Kompositum mit der allgemeinen Idee von Würde verbunden ist. Drittens soll die Erläuterung von Menschenwürde selbstverständlich sowohl konsistent mit möglichst vielen anderen normativen Grundannahmen sein als auch möglichst viele Phänomene, die wir mit ihr alltagssprachlich beschreiben, angemessen einfangen können.

Mit diesen Prämissen will ich eine klärende Schneise schlagen in das Dickicht der verschiedenen konkurrierenden philosophischen Ansätze dazu, und zwar in folgenden Schritten: Zuerst biete ich eine strukturelle Erläuterung von dem erwähnten allgemeinen Verständnis von Würde an. Der Deutlichkeit halber spreche ich von „Würde an sich“. Dann zeige ich, wie bisherige Ansätze von Menschenwürde daran anknüpfen, aber auch, in welche Probleme sie damit kommen. Dabei unterscheide ich zwischen antiken und klassischen Ansätzen. Anschließend mache ich einen Vorschlag dazu, den ich „progressiv“ nenne, mit dem man, wie ich zeigen will, die genannten Probleme der bisherigen Ansätze vermeiden kann. Dazu gehört, dass man klar herausarbeitet, was die Rolle des Begriffs im moralischen Diskurs sein kann: eine, die eine Begründung von Normen liefert oder eine, die ein Ziel beschreibt, das zu erreichen Normen ermöglichen sollen.

 

Würde an sich

 

Ich unterscheide also zwischen Würde an sich und verschiedenen Anwendungen bzw. Einbettungen dieses Begriffs; dazu gehört die Würde des Parlaments wie auch die Menschenwürde. Zunächst zur Würde des Parlaments aus dem Eingangsbeispiel: Wenn wir dies als Ausgangspunkt für ein Verständnis von Würde an sich nehmen, ist zunächst offensichtlich, dass Würde zu haben damit verbunden ist, dass jemand oder etwas gewissen Normen entspricht. Im Beispiel heißt das: Das europäische Parlament behält seine Würde nur, wenn es darauf achtet, dass seine konstitutiven Grundsätze (die in der Grundsatzcharta festgehalten sind) von seinen Mitgliedern (wie natürlich vom Parlament als Ganzem, in Entschlüssen und ähnlichem) beachtet werden. Allgemeiner können wir sagen: Jemand (oder etwas) hat Würde, wenn er, sie oder es sich gewissen Standards entsprechend würdig erweist, und das tut man, indem man in seinem Verhalten gewissen Normen entspricht. Das passt auch zu den Ausdrücken von „würdigem Verhalten“ von Beteiligten auf einer Feierlichkeit und ähnlichen Beispielen.

Dies kann man als Kerngedanken von Würde begreifen. Ich denke jedoch, er muss noch etwas erweitert werden, um auch weitere Konnotationen der Würdeidee einzufangen. Zu diesen Konnotationen gehört, so scheint es mir, dass wir nicht bei allen Fällen von erfüllten Standards an Würde denken, sondern in der Regel nur bei etwas, dem wir einen gewissen Wert oder normativen Status zuschreiben. Das trifft auf das europäische Parlament als zentrales politisches Organ der europäischen Gemeinschaft zu; nicht jedoch beispielsweise auf einen Karnevalsverein oder eine Kinderbande. Das heißt: Würde taucht nicht im Bereich des Trivialen, sondern im Bereich des Wichtigen auf. Außerdem hängen mit Würde in der Regel nicht nur Normen zusammen, die an die Würdeträger selbst gerichtet sind, sondern auch welche, die an das Umfeld gerichtet sind. Das liegt daran, dass Würdeträger in der Erfüllung der relevanten Normen oft nicht souverän sind, sondern auch abhängig davon sein können, wie sie von anderen behandelt werden. So ist das Parlament in seiner Würde nicht nur vom Verhalten der eigenen Mitglieder abhängig, sondern auch davon, dass z.B. andere Institutionen seine Funktion im politischen Prozess anerkennen und es dadurch nicht daran hindern, seinen Standards zu entsprechen.

Wenn wir alle diese Konnotationen ernst nehmen, ergibt sich eine Erläuterung von „Würde an sich“, die sich in folgendem Überblick schematisch zusammenfassen lässt:

Würde hat, wer

a) einen gewissen Wert/Status hat,

b) welcher mit bestimmten Normen verbunden ist und zwar einerseits das eigene Verhalten betreffend und andererseits das Verhalten anderen einem selbst gegenüber betreffend

c) deren Erfüllung dazu führt, sich in einer bestimmten Verfassung zu befinden.

Dieses Schema sollte auf verschiedene Fälle angewandt werden können; es kann, wie gesehen, auf Institutionen angewandt werden; wir gehen davon aus, dass es auf Menschen angewandt werden kann und es ist auch nicht von vornherein auszuschließen, dass es auf anderen lebendige Wesen, auf nicht-menschliche Tiere, wie manche auch sagen, angewandt werden kann. Betrachten wir aber zunächst den geläufigen Fall, dass es mit Bezug auf Menschen in bestimmten sozialen Rollen ausgeführt wird. Ein naheliegendes Beispiel dafür ist die Amtswürde des Bundespräsidenten. Er besitzt die präsidiale Würde, insofern er das im politischen Kontext wertvolle Amt des Bundespräsidenten innehat; welches ihn zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, nämlich dem, den Aufgaben und Standards des Amtes gerecht zu werden; und was gleichzeitig mit dem Anspruch an andere verbunden ist, sich so zu verhalten, dass sie die Stellung anerkennen und ihn sich so verhalten lassen, dass er sich angemessen verhalten kann; sodass der Bundespräsident schließlich, wenn beide Forderungen erfüllt sind, sich tatsächlich in einer bestimmten Verfassung befindet, die seine Würde im Ganzen letztlich ausmacht.

Wie kann nun die Idee der Menschenwürde auf Basis von Würde, verstanden im Sinn dieser Gedankenfigur, erläutert werden? Was für eine Würde kann für alle Menschen gleichermaßen relevant sein, unabhängig von ihrer sozialen Rolle, ihrem sozialen Status? Nehmen wir an, wir sind uns einig, dass Menschenwürde eine grundlegende moralische Kategorie meint, die mit wichtigen moralischen Normen verbunden, also allgemeinen, gleichen und gegenseitigen Normen. Vor diesem Hintergrund gibt es (mindestens) drei verschiedene Möglichkeiten, menschliche Würde zu erläutern. Diese stelle ich im Folgenden genauer vor. Ich will sie die antike, die klassische und die progressive Erläuterung nennen.

 

Menschenwürde nach dem antiken Ansatz: Würde als zu verwirklichendes Wesensmerkmal

 

Als Vertreter des antiken Ansatzes ist der römische Philosoph Marcus Tullius Cicero zu nennen. Er hat in seinem Werk De officiis als erster von der dignitas nicht nur als einer herausgehobenen Stellung von bestimmten Amtsträgern mit ihren Rechten und Pflichten gesprochen, sondern hat dieses Modell auf alle Menschen, beziehungsweise den Menschen an sich ausgeweitet (wobei damals freilich Frauen und Sklaven einfach noch unberücksichtigt blieben). Dabei konnte er alle Elemente des skizzierten Schemas ausfüllen. Cicero behauptete, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunftfähigkeit einen normativen Status innehabe, nämlich eine Stellung oberhalb der Tiere in der Ordnung des Kosmos’. Und deshalb sei der Mensch verpflichtet, diese Vernunft auch auszuüben, so wie andere angehalten wären, ihn in dieser Fähigkeit anzuerkennen und nicht zu schädigen. Wenn beides beachtet würde, könnte der Mensch insgesamt vernünftig leben und würde sich damit in einer bestimmten Verfassung befinden. Menschenwürde scheint hier verstanden als ein „zu verwirklichendes Wesensmerkmal“, wie ich es in Anschluss an Franz Josef Wetz nennen möchte.

Diese Weise, das Schema auszufüllen, findet sich auch in der Theologie. So behaupten Thomas von Aquin und andere, der Mensch sei aufgrund seiner Vernunftfähigkeit Gott ähnlich wie kein anderes Wesen auf dieser Erde und deshalb mit einem besonderen Wert beschenkt, dessen er sich aber auch würdig erweisen müsse – eben indem er die Vernunft auch ausübe und noch gottgleicher werde, als er es durch die Anlage selbst schon ist. Die Schutzansprüche sind in diesen Ausführungen gegenüber den Pflichten gegen sich selbst zweitrangig. Dennoch kann man sie angelegt sehen, wenn man bedenkt, dass gottesfürchtig zu leben auch bedeutet, moralisch richtig zu leben, also Regeln für das Verhalten anderen gegenüber beinhaltet. Und so fallen, könnte man sagen, die beiden oben auseinander gehaltenen Normenbereiche zusammen.

Wichtig für eine Beurteilung dieser Weise, Menschenwürde zu erläutern, ist jedoch, zu beachten, dass es sich um eine anthropologisch teleologische Gedankenfigur handelt; das heißt, die Gedankenfigur basiert auf der Annahme, dass der Mensch von seiner Natur her für ein gewisses Ziel bestimmt sei. Genauer nimmt man in diesem Zusammenhang damit an, dass man den Menschen für begabt hält mit einer bestimmten Eigenschaft, die bestimmte Verhaltensnormen begründe; Verhaltensnormen, die darauf abzielen, dass diese Eigenschaft erhalten, ja mehr noch, in der Regel erst ganz entfaltet wird.

Das Problem bei einer solchen Erläuterung von Menschenwürde ist: Ein solch teleologisches Menschenbild, wie wir es auch von Aristoteles kennen, leuchtet spätestens seit Darwin und anderen heute immer weniger ein. So scheint mir: Wir haben nicht mehr die normativen Ressourcen in unseren moralphilosophischen Grundüberzeugungen, um die skizzierte Gedankenfigur von Menschenwürde so auszufüllen, wie es früher getan wurde. Es leuchtet weder ein, warum der Mensch als Naturwesen, das er immer bleibt, über den Tieren in einer Wertskala stehen sollte. Noch leuchtet ein, warum eine Eigenschaft des Menschen an sich so wertvoll sein sollte, dass sie es unbedingt verdiente, entfaltet zu werden. Wir sind nicht nur zur Vernunft fähig, sondern auch zur Grausamkeit. Warum sollte die eine, aber nicht die andere unserer Eigenschaften an sich wertvoller sein als die andere?

Zumindest ist klar: Wenn man kein teleologisches Menschenbild für plausibel hält, dann ist die antike Weise, Menschenwürde zu verstehen, nicht überzeugend. Entsprechend wurde in den Diskussionen im 20. Jahrhundert das Würde-Schema zur Erläuterung von Menschenwürde nicht mehr in dieser kompletten Weise ausgefüllt, bei der mit Würde ein Sein gemeint wäre, das zugleich die Begründung für ein Ziel und dieses Ziel selbst wäre. Vielmehr füllt man das Schema auf reduzierte Weise aus. Das heißt, man konzentriert sich nun auf bestimmte Aspekte und klammert andere eher aus. So kann man zunächst den klassischen Ansatz erklären, den ich im Folgenden skizziere.

 

Menschenwürde nach dem klassischen Ansatz: Würde als Wert oder Status, genauer: Recht

 

Wenn man das teleologische Moment der Würde-Idee nicht weitertragen will, hat man zwei Optionen. Anstatt Würde als Anfangs- und Endpunkt eines Entfaltungsprozesses mit eigenen inhärenten Normen zu verstehen, kann man damit nun entweder den Ausgangs- oder den Endpunkt bezeichnen. Das heißt, man konzentriert sich entweder auf Würde als Basis, wie ich zusammenfassend sagen will, also Würde als Status oder Wert, oder auf Würde als Ziel, also auf Würde als eine Art von Verfassung, in der sich Menschen befinden können. Zu den klassischen Ansätzen zähle ich alle, die auf Würde als Basis fokussieren, also auf Würde als Wert oder Status. Davon gibt es verschiedene Varianten. Jedem solchen klassischen Ansatz sind grundsätzlich vor allem drei Fragen zu stellen:

  1. Warum hat der Mensch diesen Wert oder Status? Das ist die Frage nach einer zugrundeliegenden Eigenschaft bzw. nach einer ersten normativen Prämisse.
  2. Wie hängt dieser Wert oder Status mit spezifischen Normen zusammen?
  3. Um welche spezifischen Normen handelt es sich?

Darauf geben verschiedene Ansätze verschiedene Antworten. Ich beschäftige mich heute mit einer Variante, die es ermöglicht, die ersten beiden Fragen außen vor zu lassen und die griffig und auf den ersten Blick plausibel ist.

Die Idee besteht einfach darin zu sagen, mit Menschenwürde ist nichts anderes als ein bestimmter Anspruch auf eine bestimmte Behandlung gemeint, wie es etwa Peter Schaber vertritt. Das heißt, zum Wert/Status werden die damit verbundenen Normen hinzugezogen, sodass man sagt: Wenn wir von der Würde des Menschen sprechen, meinen wir, dass er grundsätzlich bestimmte Rechte besitzt (wie er von anderen zu behandeln ist). Dieser Ansatz kann erst einmal der Kritik entgehen, die z.B. auch insbesondere Rüdiger Bittner an der Idee der Menschenwürde äußert, dass nämlich Menschen eine erhabene Stellung innehätten. Von Rechten, zunächst moralischen Rechten, wird viel in der zeitgenössischen Moralphilosophie gesprochen. Wie und warum genau diese Menschen zuzuschreiben sind, ist eine eigene Frage, diese aber soll hier außen vor gelassen werden, mit einiger Zuversicht, dass sich darauf eine Antwort finden lässt.

Bestehen bleibt aber die dritte genannte Frage: Welchen Inhalt hat dieses Recht? Um welche Normen geht es? Bei dieser Frage nun enden die Ansätze in der Regel in der einen oder anderen Sackgasse, so ist mein Eindruck. Auf der einen Seite droht, dass der Begriff im moralischen Diskurs überflüssig wird, auf der anderen Seite droht, dass er auf problematische Weise doppeldeutig verwendet wird. Beides erläutere ich im Folgenden.

 

Das Problem der Überflüssigkeit

Überflüssig wird der Begriff der Menschenwürde dann, wenn man eine Strategie in Anschluss an Kant verfolgt. Kant wird häufig so gelesen, dass er mit Menschenwürde den spezifischen Wert meint, den Menschen als vernunftfähige, das heißt autonomiefähige Wesen haben, als welche sie sich selbst Gesetze geben können und damit moralfähig sind. Denn Moralität ist nach Kant der eigentliche Wert und so hat der Mensch Wert, insofern er moralfähig ist. Das heißt wiederum nichts anderes, als dass Menschen einen spezifischen moralischen Status haben, der mit bestimmten moralischen Regeln verbunden ist; der besagt, was ihnen anzutun verboten und was geboten ist. Genau das wäre eine erste Möglichkeit, den Rechtsstatus zu erläutern, der in der klassischen Variante die Idee von Menschenwürde explizieren soll: Gemeint wäre das Recht, moralisch berücksichtigt zu werden.

Zum Problem kommt es aber, wenn wir uns klar machen: Von diesem Recht wissen wir ohnehin, sobald wir überhaupt im moralischen Diskurs sind und annehmen, dass Menschen eben in der Moral zu beachten sind – anstatt dass ein utilitaristisches Kalkül das Maß aller Dinge wäre. Dann erinnert man mit Verweis auf Menschenwürde nur noch einmal daran; man hat einen klangvolleren Namen für eine vorhergehende grundlegende moralische Überzeugung. Für die hier relevante Frage nach dem Inhalt der Rechtsnormen heißt das: Die Menschenwürde betreffenden Normen fallen mit den moralischen Regeln in eins. Mit Menschenwürde so verstanden sind keine spezifischen moralischen Regeln verbunden, sondern alle, die den Menschen betreffen. Deshalb wird der Begriff in dieser Erläuterung überflüssig. Die Normen, die damit verbunden sind, sind nur die allgemeinen moralischen Normen, wie wir sie in einer im weitesten Sinn deontologischen bzw. vertragstheoretischen Ethik kennen.

Und das halte ich für ein Problem. Es ist nämlich dann ein Problem, wenn wir den Begriff der Menschenwürde als einen genuin bedeutsamen Begriff im moralischen Diskurs stark machen wollen. Und die Verwendungsweisen des Begriffs von Menschenwürdeverletzungen sprechen dafür, darunter spezifische moralische Verletzungen zu verstehen und nicht alle. Jede Lüge oder jeder Diebstahl mag ein moralisches Vergehen sein, aber nicht jede Lüge oder jeder Diebstahl ist eine Menschenwürdeverletzung. Oder auch: Jede Körperverletzung ist in der Regel ein Verstoß gegen die Moral, aber nicht unbedingt gegen die Menschenwürde. Folter führt zu Menschenwürdeverletzung. Dabei geht es nicht nur um die Gewalt, sondern eine spezifische Gewalt. Diese ist mit einer starken Erniedrigung eines Menschen durch einen anderen verbunden. Solch eine Erniedrigung gibt es auch ohne solche Gewalt: z.B. als die Nazis Juden zwangen, mit Zahnbürsten die Straße zu reinigen, wobei sich lauter Gaffer um sie herum sammelten und auf sie herabsahen. Deshalb sollte man auch versuchen, so denke ich, eine genuine Bedeutung von Menschenwürde klar zu machen bzw. zu zeigen, welche spezifischen Normen damit verbunden sind.

 

Das Problem der Doppeldeutigkeit

Um zu klären, was diese spezifischen Normen sind, bietet es sich also an, genauer zu untersuchen, was eine Menschenwürdeverletzung bedeutet. Um dazu etwas zu sagen, wird im Rahmen der klassischen Ansätze, die mit Würde als Basis beginnen, doch wieder mit Würde als Ziel Bezug genommen. Würde wird dann erläutert als das Recht, nicht in seiner Würde verletzt oder nicht am Aufrechterhalten seiner Würde gehindert zu werden. Auf Anhieb wirkt das wie ein tautologischer Satz, der zirkulär wird und deshalb nicht zur Erklärung dessen beitragen kann, was es heißt, die Würde zu achten. Würde wäre dann das Recht, nicht in seiner Würde verletzt zu werden, also nicht in seinem Recht, in seiner Würde verletzt zu werden usw.

An dieser Stelle muss aber schon klar sein, dass es sich um Würde mit zweimal verschiedenen Bedeutungen handeln muss. „Würde als Basis“ ist das Recht darauf, so behandelt zu werden, dass man in „Würde als Ziel“ leben kann. Häufig wird so nur implizit argumentiert, dann ist es definitiv problematisch, weil es regelmäßig zur Verwirrung führt, weil nicht klar ist, wann man von was spricht und was mit was genau gemeint ist. Wenn man es explizit macht, und mit Index oder auf andere Weise den Unterschied markiert, ist es weniger problematisch. Doch dann bleiben zwei Anforderungen, denen eine überzeugende Erläuterung genügen muss.

Zum einen muss ganz offensichtlich nun eigens entwickelt werden, was unter Würde als Ziel zu verstehen ist; also das, was im ersten Schema der dritte Aspekt ist, Würde als Verfassung. Daran hängt der Inhalt von Menschenwürde als Recht und damit das ganze Prinzip von Menschenwürde, das auf Würde als Basis aufbaut. Denn bisher sind wir nur soweit, dass man sagen kann: Menschenwürde ist das Recht, so behandelt zu werden, dass man in Würde leben kann. Wenn man wissen will, um welche Normen es sich genau handelt, muss man ausbuchstabieren, was mit der „Würde“, in der man leben kann, gemeint ist. Zum anderen muss man erklären, warum es wirklich notwendig sein sollte, daran festzuhalten, den Begriff der Würde mit zwei ganz verschiedenen Bedeutungen zu belegen. Eine Überprüfung, wie sinnvoll das ist, wird sich unter den Ausgangsannahmen dieses Vortrags auch daran orientieren, wie weit die jeweiligen Verwendungen der Idee von „Würde an sich“ entsprechen oder nicht.

Ein Vorschlag, der eine Doppelverwendung des Würdebegriffs offensiv vertritt, stammt von Ralf Stoecker und Christian Neuhäuser. Sie sprechen in einem jüngeren Aufsatz insgesamt von Menschenwürde als „universalem Adel“, und darunter zweimal von Würde. Einmal von Menschenwürde und einmal von „Würde im eigentlichen Sinn“ („dignity proper“, wie sie schreiben). Allerdings meinen sie mit Würde im eigentlichen Sinn nicht ein allgemeines Verständnis von Würde, wie ich es eingangs in dem Schema skizziert habe, sondern das, was in anderen Texten als soziale Würde oder kontingente Würde bezeichnet wird: einen Begriff also, der gleich eine bestimmte menschliche Verfassung beschreibt.

Würde im eigentlichen Sinn wird folgendermaßen charakterisiert: Sie sei fragil, muss verdient werden und kann verloren werden, ist ungleich verteilt und vielleicht verbunden mit sozialen Bedingungen wie dem sozialen Status. Dagegen setzen sie für Menschenwürde Folgendes voraus, dass es sich um ein wesentliches Merkmal der Menschheit handle, angeboren, unverletzlich und von allen Männern und Frauen geteilt werde.

Ziel des Textes von Neuhäuser und Stöcker ist es, einen Zusammenhang zwischen beiden Würde-Begriffen aufzuweisen. Das scheint zunächst dem Anliegen, das ich an dieser Stelle habe, entgegenzukommen: Ich halte es ja für angebracht, eine beliebige Doppelbedeutung des Begriffs der Würde bei der Erläuterung von Menschenwürde zu vermeiden. Was also ist ihr Vorschlag dafür? Der Zusammenhang kann bei ihnen nicht darin bestehen, dass Menschenwürde eine bestimmte Art von Würde im eigentlichen Sinn ist – das ist einfach aufgrund der genannten gegensätzlichen Eigenschaften nicht möglich. So schreiben sie auch explizit, dass Menschenwürde keine besondere Art von eigentlicher Würde sei, vielmehr:

„human dignity […] stands for the general value of having dignity proper respected and supported“ (308).

Ich verstehe sie so, dass sie Menschenwürde als Recht oder Anspruch darauf erläutern, auf bestimmte Weise behandelt zu werden, wohingegen Würde im eigentlichen Sinn eine Verfassung von Menschen ist, in der sie genau dann sind, wenn dieses Recht erfüllt ist. Recht oder Anspruch werden hier zwar nicht ausdrücklich genannt, aber wenn man unter Menschenwürde etwas Inhärentes, allen Menschen gleich Eigenes versteht, das mit diesem Wert, der hier genannt wird, verbunden ist, so scheint mir dies eine angemessene Lesart.

Wenn das eine angemessene Lesart ist, dann heißt das, bezogen auf das Problem der Doppeldeutigkeit: Menschenwürde und Würde im eigentlichen Sinn haben nach diesem Vorschlag begrifflich nichts miteinander zu tun. Sie teilen keinerlei Strukturmerkmal. Das eine ist eine abstrakte moralische Größe, das andere ist ein konkretes, erlebbares Phänomen. Die Verbindung, die Stoecker und Neuhäuser durchaus betonen wollen, liegt also nur in der Sache, nicht im Begriff. Der sachliche Zusammenhang ist der, dass Menschenwürde als das Recht verstanden wird, so behandelt zu werden, dass Würde im eigentlichen Sinn respektiert und unterstützt wird – was wohl so zu verstehen ist, dass diese eben nicht verletzt werden soll bzw. dass die nötigen Bedingungen von außen dazu nicht vorenthalten werden sollen. Dabei stellen sie in Anschluss an Niklas Luhmann heraus, dass hierbei die Möglichkeit, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und aufrecht zu erhalten, entscheidend ist.

Mit diesem Ansatz vermeiden Stoecker und Neuhäuser das Problem der Überflüssigkeit, da es nicht um alle, sondern spezifische moralische Normen geht. Allerdings scheint mir das Problem der Doppeldeutigkeit nicht ideal gelöst. Sie machen die Doppeldeutigkeit zwar explizit und unterscheiden beides, indem sie von Menschenwürde einerseits und Würde im eigentlichen Sinn andererseits sprechen. Jedoch bin ich der Meinung, man sollte, wenn irgend möglich, nicht ein Wort in einem Kontext auf zwei ganz verschiedene Weisen erläutern, ohne jeden semantischen, nur mit einem sachlichen Zusammenhang. Zumal es anders möglich ist. Ich frage mich einfach, warum man einerseits ausdrücklich von „Würde in eigentlichen Sinn“ spricht und andererseits eine Erläuterung von „Menschenwürde“ vorschlägt, die mit diesem Begriff semantisch nichts zu tun hat. Soweit ich sehe, gibt es keinen Grund, das Recht darauf, in seiner Würde geschützt zu werden, selbst Menschenwürde zu nennen. Vielmehr scheint es mir Missverständnissen im Diskurs Vorschub zu leisten. Und andererseits scheint mir viel dafür zu sprechen, auch viel von dem, was Stoecker und Neuhäuser selbst schon ausgearbeitet haben, nämlich Würde im Sinne von Würde als Ziel weiter auszubuchstabieren und zu sagen: Genau das verstehen wir unter Würde. Das ist das Phänomen, das sich beschreiben lässt, ein fragiles Gut, das wir in unserem menschlichen Leben schätzen. Und weil wir es schätzen, gibt es Gründe, es zu schützen. Deshalb liegt es dann nahe, eine moralische Norm für plausibel zu halten, welche eben diese Würde unter Schutz stellt.

Wenn man die Überlegungen bis hierher plausibel findet, dann spricht also vieles dafür, Würde als Ziel, genauer als eine Verfassung, ausbuchstabieren. Damit könnte man dann die speziellen Normen benennen, um die es geht, wenn man die Achtung und den Schutz der Menschenwürde fordert. Darüber hinaus scheint mir die Idee von Würde als Verfassung gut dafür geeignet, am meisten von dem Schema von Würde an sich, wie ich es eingangs skizziert habe, bewahren zu können.

So komme ich zum dritten und damit zu meinem eigenen Vorschlag, wie das Schema von Würde an sich für die Idee von Menschenwürde ausgefüllt werden könnte.

 

Menschenwürde nach dem progressiven Ansatz: Würde als Haltung

 

Diesen dritten Vorschlag nenne ich einen progressiven Ansatz. Damit soll keine Wertung verbunden sein, sondern ich suche einen Begriff, der sich von „klassisch“ absetzt. Der Vorschlag besteht darin, nicht von Würde als Basis auszugehen, sondern sich ganz auf Würde als Ziel zu konzentrieren, den Würdebegriff also für den dritten Aspekt aus dem Schema zu reservieren: die Verfassung, in der man sich befindet, wenn gewissen Normen entsprochen wird. In anderen Worten: die Verfassung, in der man ist, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind und man diese auf gewisse Weise nutzt.

Wie diese Verfassung zu erläutern ist, kann ich hier nur kurz andeuten. Wichtig ist mir, mit dem Bisherigen deutlich gemacht zu haben, dass und warum überhaupt ein positives Bild von Würde als Verfassung zu zeichnen ist und man nicht nur negativ vorgehen sollte, wie es die bisherigen Ansätze, die in diese Richtung gingen, oft getan haben. Etwa, wenn Peter Schaber vom Recht darauf spricht, nicht erniedrigt zu werden. Ich will zeigen, was vorauszusetzen ist, dass es zu einer Erniedrigung kommen kann, und denke, diese ist eben als eine Verletzung dessen zu erläutern, was wir Würde nennen können.

Mein Vorschlag lautet, Menschenwürde als eine Haltung zu verstehen. Unter einer Haltung verstehe ich grundsätzlich eine Art von Selbstverhältnis. In einer Haltung nimmt man ein Verhältnis zu sich selbst ein (das freilich auch im Zusammenhang mit dem jeweiligen Verhältnis zur Welt steht). Genauer spreche ich von der reflexiven Gestaltung von Emotions- und Handlungsdispositionen. Tugenden sind ein Beispiel für Haltungen. Menschenwürde ist von Tugenden und Lastern insofern strukturell zu unterscheiden, als sie nicht in der Gestaltung von einzelnen Emotions- oder Handlungsdispositionen besteht, wie es etwa bei der Tugend der Tapferkeit der Fall ist, die die Gestaltung der Dispositionen von Furcht und Tollkühnheit betrifft, sondern das Verhältnis der Dispositionen insgesamt.

Würde hat ein Mensch bzw. in Würde lebt ein Mensch, so die erste These der Erläuterung, wenn man auf diese Weise der Gestaltung von Dispositionen im Einklang mit sich steht. Dieser Einklang kann noch spezifiziert werden, und damit komme ich wieder auf das Ausgangsbeispiel für Würde an sich zurück. Dort habe ich gesagt, offenbar hat Würde damit zu tun, bestimmten Normen zu entsprechen. Dieser Gedanke kann in verschiedene Formen gefüllt werden. Das Europäische Parlament bewahrt seine Würde, wenn es seinen Grundsätzen entspricht. Der Mensch zu Ciceros Zeiten tut es, wenn er sich seiner Stellung im Kosmos entsprechend verhält; der gläubige Christ tut es, wenn er sich gottgefällig verhält. Für ein säkulares, zeitgemäßes Verständnis von Menschenwürde schlage ich nun vor, unter Würde die Haltung zu verstehen, mit der man lebt, wenn man insofern mit sich in Übereinstimmung ist, als man seinem eigenen Selbstbild entspricht. Und zwar, das ist auch wichtig: unter anderen Menschen, vor denen man sich als die zeigen kann, die man ist. Insofern hat Menschenwürde auch einen sozialen Aspekt.

Zu diesem Selbstbild gäbe es natürlich viel mehr zu sagen. Hier nur ganz kurz: Es ist ein (schwach) normatives Selbstbild gemeint, in dem das enthalten ist, was zu verfehlen für mich bedeuten würde, dass ich mich nicht mehr als die verstehen kann, die ich bin bzw. bisher zu sein glaubte. Es ist also kein rein deskriptives Selbstbild, in dem ich mich zu einem Zeitpunkt richtig beschreiben würde, sondern eines, in dem festgehalten ist, was mir für mein Selbstverständnis besonders wichtig ist, und zwar auch an Standards, die ich nicht immer erfülle. Vor allem aber legt es untere Grenzen dessen fest, unter die zu gehen ein Schaden für mich bedeuten würde, insofern es mich nicht mehr als die verstehen ließe, die ich zu sein überzeugt bin, bzw. die ich „aus ganzem Herzen“ sein will, wie es Harry Frankfurt sagen würde. Zugleich darf es nicht als ein idiosynkratisches verstanden werden, also als eines, das inhaltlich völlig beliebig und anderen völlig unverständlich sein könnte; vielmehr ist es als ein sozial eingebettetes zu verstehen, wie es sich entwickelt, wenn man in einer moralischen Gemeinschaft aufwächst.

Die so beschriebene Würde des Menschen ist ein fragiles Phänomen, das auf vielerlei Weise gefährdet ist. Als soziale Wesen sind wir vielfach von anderen Menschen und Umständen abhängig, insofern, als sie uns daran hindern können, mit uns selbst im Einklang zu stehen. Wenn Menschen daran gehindert werden, ihre politische, sexuelle oder andere mit starken Werten behaftete Identität zu leben, dann sind das Menschenwürdeverletzungen. Wenn Menschen daran gehindert werden, überhaupt als Menschen zu leben, da sie wie Vieh in einen Waggon gepfercht werden oder über Wochen in einem verschlammten Zeltlager ohne Sanitäreinrichtungen verbringen müssen – geschweige denn, ohne Nahrung, dann sind das Menschenwürdeverletzungen. Und die schlimmsten Verletzungen von Menschenwürde sind wohl jene, die den Menschen die Möglichkeit nehmen, überhaupt wieder eine Würde aufzubauen, nachdem sie einem einmal genommen wurde, wie unter der Folter, unter der man nicht mehr sein kann, was man je sein wollte, weil man ganz in den Händen von anderen ist, vollkommen deren Willen und Grausamkeit ausgeliefert. Folter und anderes können Traumata auslösen, die es einem verunmöglichen, wieder ganz zu sich zu finden, weil man ein Stück seiner Geschichte nicht in das Bild von sich integrieren kann. Menschenwürdeverletzungen im eigentlichen Sinn sind es, wenn die in sich stimmige Verfassung einer Person ge- oder zerstört wird. Darüber hinaus gibt es etwas, was ich Menschenwürdemissachtungen nennen will. Diese bestehen darin, Menschen daran zu hindern, Würde wiederzuerlangen, wenn sie sie verloren haben, oder überhaupt erst aufzubauen, wenn sie erst Kinder sind.

Vor diesem Hintergrund lassen sich auch Diskriminierungen als Menschenwürdeverletzung beschreiben. Damit komme ich auf das Anfangsbeispiel zurück, die Diskriminierung der Türken durch den griechischen EU-Abgeordneten Synadinos. Diskriminierung bedeutet Unterscheidung, Absonderung, Aussonderung; für die Betroffenen bedeutet sie konkret Isolation. Sie verhindert (oder erschwert es zumindest deutlich), dass eine Person mit sich unter anderen im Einklang stehen kann, und zwar insofern, als das, was sie von sich sichtbar machen will, einfach nicht anerkannt, stattdessen missachtet wird. Rassistische Äußerungen wie die von Herrn Synadinos belegen alle Türken mit einem extrem negativen Vorurteil, das ihnen schlechte Eigenschaften zuschreibt und sie von den Standards zwischenmenschlichen und diplomatischen Umgangs ausschließt – völlig unangesehen der einzelnen Person und ihrer konkreten Eigenschaften und ihres konkreten Verhaltens. Diese werden darin völlig ignoriert und können so nicht als die, die sie sind, überhaupt in Erscheinung bzw. in Austausch mit anderen treten.

Soweit Andeutungen dazu, wie mit diesem Würdeverständnis klar gemacht werden kann, was die spezifischen Normen sind, die bei Menschenwürdeverletzungen nicht beachtet werden.

Diese Erläuterung von Würde hat eine große Nähe zu Erläuterung von Würde als Selbstachtung, wozu es auch schon einige Literatur gibt. Überhaupt stehe ich hier in der Linie einer Entwicklung philosophischer Gedanken zu Menschenwürde, die mit Avishai Margalit begonnen hat und insbesondere von Arnd Pollmann, aber auch Peter Bieri und den zitierten Stoecker und Neuhäuser fortgeführt wurde. Im Unterschied zu den zuletzt Genannten aber bezeichne ich nicht auch das Recht darauf, in Würde zu leben, als Würde bzw. Menschenwürde. Menschliche Würde ist die Haltung, in der ein Mensch lebt, wenn er seinem Selbstbild entspricht. Wenn er die im Selbstbild enthaltenen Normen entspricht, lebt er in Würde – das ist in Graden möglich, es gilt kein ganz oder gar nicht. Wir hatten oben zwei mit Würde verbundene Normen unterschieden: die einen das eigene Verhalten betreffend, die anderen das Verhalten anderer einem gegenüber betreffend. Diese zweiten sind die moralischen Normen, an die wir meist bei Menschenwürde denken. Sie sind zwar ausgehend von dem Phänomen der Menschenwürde zu verstehen, insofern sie da sind, um es zu ermöglichen oder zu schützen, aber sie ziehen ihre Begründung nicht allein daraus, sondern müssen darüber hinaus auf andere normative Ressourcen zurückgreifen. Wie das möglich ist, das ist eine eigene Geschichte, die ich hier nur ganz kurz andeuten kann.

Die spezifisch moralische Norm, die von der moralischen Orientierungsgröße Menschenwürde ausgeht, kann folgendermaßen ausformuliert werden: Es ist moralisch geboten, die Würde eines jeden Menschen zu achten, d.h. nicht zu zerstören, und das Bemühen um Würde nicht zu verhindern.

Um diese Norm zu begründen, liegt es nahe, von folgenden zwei Prämissen auszugehen:

  1. Niemand soll daran gehindert werden, ein gutes Leben zu führen, wenn er dabei niemand anderen in relevanter Hinsicht einschränkt.
  2. Würde ist wesentlicher Bestandteil eines guten Lebens.

Wenn wir diese beiden Prämissen annehmen, dann können wir die Norm begründen, dass niemand jemand anderen daran hindern soll, in Würde zu leben. Soweit also mein Vorschlag zu Menschenwürde als Haltung und einer daran anschließenden moralischen Norm.

Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, wie man mit dem Ansatz von Würde als Haltung auf zwei Probleme reagieren kann, die sich bei klassischen Ansätzen zur Erläuterung des Begriffs stellen. Das war zum einen das Problem der Frage, welche Normen genau mit dem Würde-Verständnis verbunden sind und zum anderen das Desiderat, dass „Menschenwürde“ semantisch verbunden sein sollte mit „Würde an sich“, wie der Begriff auch in anderen Kontexten bzw. in anderen Fällen angewandt wird. Der Lösungsvorschlag war, dass man von Würde als Haltung spricht und damit ein spezifisches Gut beschreibt, das zu schützen ist: nämlich das Gut, in wichtigen Aspekten in Einklang mit sich leben zu können.

Auf diese Konzeption von Würde als Haltung trifft nun zu, was ich anfangs angekündigt habe: Menschenwürde übernimmt im moralischen Diskurs eine andere Funktion als es nach der antiken oder klassischen Konzeption der Fall ist und anders, als es übliche Intuitionen zum Verhältnis von Menschenwürde und Menschenrechte implizieren. So heißt es nicht: Weil der Mensch bestimmte Eigenschaften hat, ist er besonders wertvoll, so dass ihm bestimmte Rechte zukommen. Sondern: Weil der Mensch bestimmte Eigenschaften hat, ist er auf besondere Weise verletzlich, und um solchen Verletzungen vorzubeugen, müssen bestimmte Rechte beachtet werden. Dabei ist selbstverständlich vorausgesetzt, dass alle Menschen moralisch berücksichtigenswerte Wesen sind und dass es vieles gibt, was Menschen anzutun allein deshalb moralisch verboten ist. Um das einzusehen und zu beschreiben, brauchen wir allerdings nicht den Begriff der Würde. Der Begriff der Würde, so die Hauptthese dieses Textes, ist vielmehr zur Beschreibung eines anderen Phänomens einschlägig. Die Idee ist, dass es eine weitere Hinsicht gibt, in der Menschen verletzlich sind, worin sie sich von anderen Wesen, die über keine Selbstbilder und die Fähigkeit, dem zu entsprechen, verfügen, unterscheiden: Sie können in ihrer Würde verletzt werden. Diese Würde ist als ein Gut ein ganz wesentliches Element des menschlichen Lebens. Menschen darin zu treffen, also sie zu demütigen, zu erniedrigen, heißt, spezielle moralische Verstöße zu begehen. Umgekehrt heißt, Menschen zu helfen, in Würde zu leben, und zwar angepasst an ihre je eigenen individuellen Fähigkeiten dazu beizutragen, dass sie ein gutes menschliches Leben führen können.

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