Prophetie und Prognose: Wie reden wir über die Zukunft?

Ein Gegenentwurf zu Max Webers Entzauberungsthese

Im Rahmen der Veranstaltung "Von der Macht des Heiligen", 30.01.2018

Vor wenigen Wochen war ich als Studiogast in der Fernsehsendung „Scobel“ auf 3 SAT, vielen von Ihnen vermutlich bekannt. Thema des Abends war „Die kirchliche Leere“, geschrieben mit zwei „e“. Dieser eigentlich nicht besonders geistreiche Witz, eher ein Kalauer, signalisierte die Tendenz der eingespielten Filmberichte: Unsere Kirchen seien meist leer und damit weitgehend entbehrlich geworden, keiner interessiere sich mehr für die Botschaften des christlichen Glaubens, stattdessen blühten Esoterik und asiatische Formen der Spiritualität im Westen. Eine Biologin, die auch Religionswissenschaftlerin zu sein in Anspruch nahm, behauptete, das Christentum sei seit 2000 Jahren nur verlängerter Arm des Staates gewesen – seit 2000 Jahren, streng genommen also schon vor der Kreuzigung Christi!

Zu Beginn der Sendung wurde der Abriss des Immerather „Doms“ gezeigt, einer Kirche, die dem Braunkohletagebau im nördlichen Rheinischen Braunkohlerevier zum Opfer fiel – was allerdings nicht erwähnt wurde, sondern zur Illustration der These von der Überflüssigkeit großer Kirchenbauten in unserer Zeit diente. Das historische Bild, das suggeriert werden sollte, ließe sich so kennzeichnen: Obwohl das Christentum in seiner Staatsnähe an allen Formen politischer Unterdrückung und sozialer Ungleichheit wesentlich mitschuldig sei, hingen ihm bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und des Wirtschaftswunders hinein fast alle Menschen in Deutschland an. Danach aber sei ein einmaliger und sich laufend selbst verstärkender Absturz erfolgt, der heute zu einer Marginalisierung des Christentums führe und alles Reden von einer christlich geprägten Kultur hierzulande in Zweifel zu ziehen erlaube oder zwinge.

Nun bin ich natürlich auch nicht mit Blindheit geschlagen, so dass ich die Zeichen abnehmender Christlichkeit und fortschreitender Säkularisierung übersehen könnte. Tatsächlich wurden ja seit dem Jahr 2000 etwa 500 katholische Kirchen umgewidmet und 140 davon sogar abgerissen. Wenn man aber den genauen Charakter und die Verursachung dieses Prozesses wirklich verstehen will, muss man sich etwas tiefer auf die Sache einlassen. Man muss z. B. bereit sein, den Blick über Deutschland hinaus auszuweiten. Dann wird schnell deutlich, dass – im Weltmaßstab gesehen – die Schwächung der Religion die Ausnahme ist. Sie betrifft einige, keineswegs alle, ex-kommunistische Länder Europas, am ausgeprägtesten die Tschechische Republik, Ostdeutschland und Estland. Sie ist in einer ganzen Reihe westeuropäischer Länder zu finden (England, Schweden, Frankreich, die Niederlande), wobei es sich aber lohnt, das Verhältnis der Bevölkerungsmehrheit zur Minderheit ernsthaft „praktizierender“ Christen jeweils näher ins Auge zu fassen.

Am Fall Schweden wurde der Begriff „vicarious religion“ (Grace Davie) entwickelt, um eine wohlwollende Haltung derer, die am Sonntag nicht in die Kirche gehen, zu denen, die stellvertretend für alle den Gottesdienst besuchen, auszudrücken. Den Kirchenbesuchern in Ostdeutschland wird dieses Wohlwollen eher nicht zuteil. Nur in ganz wenigen nicht-europäischen Gesellschaften gibt es ähnliche starke Säkularisierungstendenzen (Neuseeland, Uruguay). Die kommunistische Unterdrückung der Religion findet sich heute vor allem noch in Nordkorea; China erlebt dagegen trotz aller staatlichen Repression einen vielfältigen religiösen Aufschwung, der sowohl kultureigene religiöse Traditionen (Buddhismus, Daoismus) betrifft wie das Christentum. Spektakulär ist die Entwicklung in Südkorea, wo einer der rapidesten wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Modernisierungsprozesse, die es in der Weltgeschichte jemals gegeben hat, mit einer Revitalisierung eigener Traditionen und einer starken Christianisierung zusammenfällt. In vielen afrikanischen Staaten wächst das Christentum stark, obwohl auch einige der klügsten Beobachter, z. B. der große Theologe Paul Tillich, einst annahmen, dass das Ende der Kolonialherrschaft das Christentum als europäisches Implantat zum Verdorren bringen werde. In Gestalt der sogenannten Pfingstbewegung breitet sich das Christentum gegen größte Widerstände sogar in einigen Gegenden Indiens heute weiter aus.

Die sogenannte Säkularisierungsthese hat aufgrund dieser Entwicklungen heute für die meisten Forscher auf diesem Gebiet ihre Plausibilität verloren. Hier ist sofort vor einem häufigen Missverständnis zu warnen. Diese These hat nie einfach besagt, dass es Säkularisierung gibt. Sie wird deshalb auch nicht durch unbestreitbare Phänomene der Schwächung von Religion bestätigt oder durch religiöse Neuaufschwünge widerlegt. Diese These oder Theorie nahm vielmehr einen engen kausalen Zusammenhang von Modernisierung und Säkularisierung an: Je moderner eine Gesellschaft, desto schwächer oder aufs Private reduzierter die Religion. Aber eben diese Annahme hat sich immer mehr als eine falsche Verallgemeinerung von Phänomenen der europäischen Geschichte herausgestellt. Schon immer war deutlich, dass sie auf die USA nicht passt – eine unbestreitbar moderne, aber zugleich religiös höchst vitale und sogar religionsproduktive Gesellschaft. Heute wird deutlich, dass sie außerhalb Europas fast nirgends von den Tatsachen bestätigt wird. Selbst ihre noch verbliebenen Verfechter räumen ein, dass das stärkere Bevölkerungswachstum in religiös vitalen Gesellschaften die Welt immer religiöser mache.

Das aber hat mannigfaltige Konsequenzen. Auf drei davon will ich hier kurz zu sprechen kommen: 1. Wenn Modernisierung nicht die Erklärung für Säkularisierung ist, brauchen wir eine andere Erklärung etwa für den deutschen Fall. 2. Wenn Modernisierung und Säkularisierung kein unauflösliches Gespann bilden, gerät auch die verbreitete Deutung der Vorgeschichte moderner Säkularisierung ins Wanken, nämlich die auf Max Weber zurückgehende Geschichte von der Entzauberung. 3. Wenn wir die Fehlerhaftigkeit der Prognosen, die sich aus der Säkularisierungsthese und der Entzauberungserzählung ergeben, ernsthaft durchdenken, stoßen wir auf sehr grundsätzliche Fragen, was solche geschichtlichen Tendenzbehauptungen generell angeht. Diese haben oft prophetische Züge. Aber es gibt echte und falsche Propheten. Unser Reden über die Zukunft ist immer Teil gegenwärtiger Kämpfe um diese.

 

I.

 

Zu Beginn habe ich schon angedeutet, dass ich das Bild einer bis zum Wirtschaftswunder selbstverständlichen Christlichkeit Deutschlands oder ganz Europas für falsch halte. Schon am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts finden sich erste Stimmen, die ein Verschwinden des Christentums aus Europa voraussagen. Solche Stimmen hatte es, soweit ich sehe, seit der Zeit, als der heilige Augustinus nach Alarichs Plünderung Roms im Jahr 410 eine massenhafte Rückkehr zum Heidentum durchaus für denkbar hielt, über ein Jahrtausend lang in der Tat nicht gegeben. Jetzt aber nahmen sie zu; der preußische König Friedrich II äußerte sich in diesem Sinn, und in der Französischen Revolution gab es gewaltsame praktische Bestrebungen in dieser Richtung. Wir sollten nicht vergessen, dass Friedrich Schleiermacher seine genialen Reden „Über die Religion“ von 1799 nur deshalb „an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ adressieren konnte, weil es diese Verächter gab – gebildete und ungebildete.

Im Vormärz und der Revolution von 1848 entfremdete die Treue der evangelischen (Staats-) Kirche zur preußischen Dynastie, zu König, Regierung und Armee weite Teile des liberalen Bürgertums und der keimenden Arbeiterbewegung vom Christentum – mit anhaltenden Folgen. Berlin war schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine der säkularisiertesten Städte der Welt, wesentlich auch deshalb, weil das Christentum sich verbürgerlicht hatte und die Unterschichten sich abgestoßen oder ausgeschlossen fühlten. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und die nationalsozialistische Bewegung stärkten die sektenhaften und antisemitischen Bestrebungen, hinter das jüdischstämmige Christentum auf eine germanische Religiosität zurückzugreifen. Bei einem anderen Ausgang des Zweiten Weltkriegs hätten diese Ansätze vermutlich eine große Zukunft gehabt; auch an den „Deutschen Christen“ ist das Christliche im Sinne eines Universalismus der Liebe ja nicht mehr recht zu erkennen.

Mit diesen wenigen Pinselstrichen will ich ein wenig plausibel machen, dass es eine Alternative zur Erklärung von Säkularisierung aus Modernisierung gibt. Sie rückt die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften zu den großen politischen Fragen der jeweiligen Epoche in den Mittelpunkt: zur „sozialen Frage“ etwa, wie man im neunzehnten Jahrhundert sagte, zur nationalen Frage – so ausschlaggebend für die Treue der Polen, Iren, Kroaten, Bayern zu ihrer katholischen Kirche, zur demokratischen Frage, zu den Rechten des Individuums, zum Prozess der Frauenemanzipation, zu den Fragen des religiösen Pluralismus. Der Flickenteppich der religiösen Landkarte Europas, wo manchmal hochgradig religiöse an hochgradig säkulare Regionen angrenzen, wird nur auf solch historisch differenzierendem Weg verständlich.

Wir erkennen dann auch, wie wenig bestimmte Säkularisierungsprozesse unumgänglich waren und sind. Übertriebene Staatsnähe und machtgestützte Monopolstellung wurde für die Kirchen gefährlich, wenn sich in der Bevölkerung politische und wirtschaftliche Unzufriedenheit ausbreitet. Das ist der vernünftige Kern der zu Beginn zitierten Äußerung einer Biologin. Wie ungerecht deren Verallgemeinerung aber eben auch ist, zeigt ihre souveräne Ignoranz gegenüber der früheren Geschichte von Christenverfolgungen und der großen Bedeutung des Dualismus von Staat und Kirche in der europäischen Geschichte. Mein Lieblingsbeispiel aus der neueren Geschichte ist eine katholische Schule im Thüringer Eichsfeld, an der ich einmal einen Vortrag hielt. Ihre Schließung wurde in Bismarcks Kulturkampf erzwungen – danach wurde sie wieder aufgemacht. Später schlossen sie die Nazis – danach wurde sie wieder aufgemacht. Als nächstes schlossen sie die Kommunisten – danach wurde sie wieder aufgemacht. Drei politische Regime in Deutschland kamen und gingen, und die Schule hat sie alle überlebt. Seltsam muss da die These von der unentwegten Staatsnähe klingen, und es ist deshalb kein Zufall, dass das Eichsfeld ein Asterix-Dorf des katholischen Glaubens durch die Regime hindurch geblieben ist.

Herausforderungen dieser Art gehören auch nicht einfach der Vergangenheit an. Das gilt derzeit etwas für die Fragen der Migrationspolitik, wo eine moralisch argumentierende Befürwortung von Masseneinwanderung zur Entfremdung benachteiligter einheimischer sozialer Milieus von den Kirchen beitragen kann. Zuhören ist da oft wichtiger als Belehren. Die Herausforderungen stellen sich immer neu auch in Fragen von Krieg und Frieden, und von Bedeutung scheinen mir die gestiegenen Bedürfnisse nach individualistischen Formen von Spiritualität. Diese können aber innerhalb der Kirchen sehr wohl ihre Befriedigung finden oder eben gegen diese gewendet werden. Das ist wiederum der vernünftige Kern der Behauptung, Esoterik und Spiritualität nähmen zu. Es ist aber empirisch nicht korrekt, Suchbewegungen, die oft nur zu kurzzeitiger Mitgliedschaft oder Praxis führen und schon bei der Weitergabe an die Kinder scheitern, zu historischen Tendenzen hochzurechnen.

Zwei letzte Bemerkungen zu diesem Komplex, um nicht missverstanden zu werden. Die Betonung politischer Fragen bedeutet nicht, dass es das eigentlich Religiöse nicht gäbe und, wie es der Marxismus nahelegt, religiöse Formen nur verschobener Ausdruck materieller Interessen seien. Aber Hinwendung zu und Abwendung von bestimmten Religionen und auch säkularen Weltanschauungen und Wertsystemen geschieht über ganzheitliche Identifikation. So werden religiöse Biographien von politischen Weichenstellungen mitbedingt. Und schließlich: Die Folgen solcher Weichenstellungen können mit großer Verspätung eintreten. Wir wissen aus Großbritannien, dass dort die Kirchenferne von Männern lange Zeit nicht zum Kirchenaustritt führte, weil Mütter, Ehefrauen und Geliebte oft ein Gegengewicht bildeten. Wenn diese Frauen aber ebenfalls ihre Kirchenbindung verlieren, der Unglaube also „feminisiert“ wird, kann der Kirchenaustritt lawinenartig zunehmen. Und wenn es einer Elterngeneration durch Zeitumstände nicht gelingt, ihre Kinder in der Glaubensgemeinschaft zu halten, ist galoppierende Säkularisierung mit Verzögerung wahrscheinlich. Das klingt resignierter, als es gemeint ist. Man kann die dreihundertjährige Geschichte der Schwächung des Christentums, die ich skizziert habe, auch als Geschichte immer wieder gelungener Verjüngung lesen, als Anlass, die Vitalität des Christentums auch hierzulande und die unerhörte Aktualität seiner Botschaft und seiner liturgischen und diakonischen Praxis nicht zu unterschätzen.

 

II.

 

Erst seit dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert entwickelt sich in Europa eine intellektuell ausgearbeitete und offensiv verfochtene neue Alternative zum christlichen Glauben in Gestalt dessen, was der große kanadische Philosoph Charles Taylor den Aufstieg der „säkularen Option“ genannt hat. Vorher gab es gewiss religiöse Gleichgültigkeit, Hass auf einzelne oder alle Kleriker u.ä., aber keine solche selbstbewusste Alternative. Wie konnte es zu dieser kommen? So wie die Säkularisierungstheorie die Entwicklung der letzten beiden Jahrhunderte zu erklären beansprucht, so scheint in der Geschichte von der Entzauberung eine Erklärung für die langfristige Vorgeschichte dieser Säkularisierung zu liegen. „Entzauberung“ ist nicht „Säkularisierung“, obwohl dies immer wieder durcheinander gerät. „Entzauberung“ bedeutete für Max Weber vielmehr eine Geschichte von zweieinhalb Jahrtausenden, einsetzend bei den alttestamentlichen Propheten (und einigen parallelen Erscheinungen in anderen Kulturen wie dem Buddha). Weber zieht eine Linie, die von diesen Propheten und der Philosophie der Griechen nach Rückschlägen im Mittelalter zur Reformation und zur frühneuzeitlichen wissenschaftlichen Revolution, von dort zur Durchsetzung eines kausalmechanistischen Weltbilds und zur Aufklärung, dann aber auch zur tiefen Sinnkrise im europäischen Fin de Siècle und am Vorabend des Ersten Weltkriegs führt. Diese Geschichte hat sich als unerhört suggestiv erwiesen. Ähnlich wie Nietzsche dem Christentum eine konstitutive Rolle in einem historischen Prozess zuschrieb, der zur Überwindung des Christentums führen musste, hat Weber bei aller Distanz zu Nietzsche im einzelnen doch auch eine Geschichte konstruiert, die keinen Platz lässt für ein intellektuell verantwortbares und vitales Christentum in unserer Zeit.

Es würde den heutigen Anlass völlig überfordern, diese Geschichte im einzelnen zu erörtern. Ich habe in meinem Buch Die Macht des Heiligen auf Hunderten von Seiten zu zeigen versucht, woran diese Geschichte krankt und wie eine Alternative auch zu ihr auszusehen hat. Sie krankt an der Vieldeutigkeit des Begriffs „Entzauberung“. Dieser bezeichnet sowohl den Kampf der Propheten gegen Magie (Entmagisierung) wie den Verlust alltäglichen Handlungs- und Lebenssinns (Entsakralisierung) und die Schwächung von Vorstellungen radikaler Transzendenz im Sinne von Jesu Wort vor Pilatus „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Immanentisierung oder Enttranszendentalisierung). Weil Weber diese drei Bedeutungen nicht unterscheidet, spannt er die verschiedenen Prozesse zu einem einzigen weltgeschichtlichen Prozess der Entzauberung hintereinander, der dann Modernisierung und Säkularisierung ermöglicht haben soll. Wenn wir aber erkennen, wie verschieden diese Prozesse sind, dann entdecken wir in der Geschichte immer neue Sakralisierungen und Entsakralisierungen, Magisierungen und Entmagisierungen, Transzendentalisierungen und Enttranszendentalisierungen, Säkularisierungen und religiöse Revitalisierungen. Das Bild wird dadurch unübersichtlicher, trifft aber die Tatsachen besser. Auch hier erweisen sich Machtkonstellationen als wesentlich für die Frage, was sich jeweils historisch durchsetzt. Das Heilige und der Glaube an Transzendenz haben ihre eigene Machtqualität – als Quelle lebensbestimmender Motivation und Inspiration für den Einzelnen, als Infragestellung und als Quelle von Legitimität, ohne die keine politische Macht über längere Zeit auszukommen vermag.

 

III.

 

Das Bild von der Zukunft bleibt deshalb unbestimmt – offener, als es vielen recht ist. Die Zukunft, auch die der Kirchen und der Religion, hängt mit vom menschlichen Handeln ab, was nicht heißt, dass diese planbar und frei gestaltbar wäre. Wie die Christen und ihre Kirchen oder Gemeinschaften in die vergangene Geschichte der Säkularisierung auch schuldhaft verwickelt sind – die Säkularisierung ist eben nicht, wie ein amerikanischer Kardinal (Donald Wuerl) 2012 sagte, ein „Tsunami“, der über christliche Kulturen unvorsehbar und quasi von außen hereingebrochen sei und alles zerstöre –, so sind sie auch in die zukünftige Geschichte verwickelt. Wir reden über die Zukunft oft im Modus falscher Gewissheiten.

Das hat mehrere Gründe. So werden die Prognosefähigkeiten der Wissenschaften regelmäßig überschätzt. Unvorhergesehene Ereignisse wirken dann ernüchternd, aber oft nur für kurze Zeit. Das Prestige etwa der Wirtschaftswissenschaften hat in dieser Hinsicht in den Jahren nach der Finanzkrise von 2008 ähnlich gelitten wie das der Sozialwissenschaften nach dem unvorhergesehenen Zusammenbruch des Kommunismus in Europa 1989. Aber bald setzt diese Überschätzung wieder ein. Die Säkularisierungstheorie, die so verwundert auf das Wachstum der Pfingstbewegung oder die verstärkte öffentliche Präsenz von Religion in vielen Gesellschaften reagierte, ist freilich mehr als nur eine schlechte Prognose. Sie ist eine verdeckte, sich nicht als solche bekennende Geschichtsphilosophie. Von dieser Art gibt es viele. Mir selbst wurde die Unplausibilität einer solchen, allerdings offen vertretenen Geschichtsphilosophie vor Jahrzehnten schlagartig klar, als ich in der DDR mit dem Bewusstsein konfrontiert wurde, der Sozialismus sei auf jeden Fall „um eine ganze Epoche voraus“. Da man zu wissen glaubte, wohin die Geschichte sich entwickelt, musste eine sozialistische Gesellschaft historisch schlicht weiter sein, selbst wenn ihre alten Wohnhäuser zerbröckelten, die städtische Infrastruktur verrottete und die Industrie international nicht  konkurrenzfähig war. Aber solches feste Wissen über die Zukunft wird nicht nur im Marxismus unterstellt. Von den Diskussionen über den Bildungsföderalismus in Deutschland bis zur Frage nach den Chancen einer „immer engeren“ Europäischen Union reichen die Meinungsäußerungen, in denen eine historische Tendenz zu größeren Staaten unterstellt wird und die Gegner einer solchen Entwicklung als rückständig, nostalgisch oder gefährlich diffamiert werden.

Kein Denker hat den Kampfcharakter solcher historischen Tendenzbehauptungen so scharfsinnig analysiert wie der große, 2006 gestorbene Historiker Reinhart Koselleck. In seinem Buch Kritik und Krise zeigte er, wie sehr gerade die aufklärerischen Denker des achtzehnten Jahrhunderts mit geschichtlichen Zwangsläufigkeitsbehauptungen arbeiteten. Diese waren keine wertfreien Thesen über empirisch festgestellte Tendenzen, sondern Waffen im Meinungskampf. An die Stelle der offenen politischen Bekämpfung des absolutistischen Staates trat immer wieder die geschichtsphilosophische Rede von seiner Überholtheit. Die Behauptung von der Unvermeidlichkeit seines Verschwindens wurde damit zu einer Waffe, deren Charakter als Waffe aber nicht eingestanden werden sollte. Genau dasselbe gilt von den aufklärerischen Prognosen des Verschwindens des Christentums oder der Religion insgesamt. An die Stelle der Zurückweisung des Glaubens oder diese unterstützend tritt dann die These von seiner Überholtheit, Rückständigkeit, Unzeitgemäßheit. Es ist bemerkenswert und fast kurios, daß Kosellecks Sensibilität für solche rhetorischen Strategien gerade bei der Säkularisierungsthese selbst versagt zu haben scheint, wenn er etwa selbst von einem „post-theologischen Zeitalter“ spricht. Das spielt in unserem Zusammenhang aber keine Rolle. Mir ging es hier nur darum, die Tatsachen heutiger Säkularisierung illusionslos ins Auge zu fassen, sie aber in einen historischen und globalen Rahmen zu setzen und damit von den Selbsteinschüchterungswirkungen offener und verdeckter Untergangsprophetien zu befreien.

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