Provokation der Freiheit

Das Bild auf dem Bucheinband ist in leuchtendem Rot gehalten. Es zeigt einen Ausschnitt aus dem unter dem Eindruck der Pariser Julirevolution 1830 entstandenen Gemälde von Eugène Delacroix „La Liberté guidant la peuple“: Marianne, barfuß und barbusig, die Jakobinermütze auf dem Kopf, ein Sturmgewehr mit aufgepflanztem Bajonett in der Linken und die von der Reaktion verbotene Trikolore in der Rechten, führt als symbolische Inkarnationsgestalt der Freiheit das Volk an, damit es seine Bestimmung realisiere, frei zu sein.

Der Titel des knallroten Bandes ist ebenfalls pointiert ausgefallen und erinnert ein wenig an den unter damaligen Studierenden beliebten Agitpropstil der Zeit: „Provokationen der Freiheit. Antriebe und Ziele des emanzipierten Bewußtseins“ (München/Salzburg 1974). Zur Revolution des Proletariats oder zu bürgerlichen Revolten wird dann aber doch nicht aufgerufen. Im Gegenteil! Die im Sammelband vereinten sieben Vorlesungen, die Eugen Biser – im Geiste Hermann Schells (14: „der auf tragische Weise in die christliche Freiheitsgeschichte einging“), wie eigens vermerkt wird – zu Beginn der Salzburger Hochschulwochen 1973 gehalten hat, sind durchweg auf Reform angelegt. Wäre der Begriff nicht konfessionell verengt, könnte man sie als gut reformatorisch bezeichnen.

De libertate Christiana. Das Christentum, so lautet die Grundthese, ist die Religion der Freiheit, die christliche Kirche dazu bestimmt, ein Freiraum aller Menschen gleich welchen Alters, welchen Geschlechts oder welcher ethnischen Herkunft etc. zu sein. Entfaltet wird diese Annahme unter einer Vielzahl von Aspekten, vor allem in christologischer und ekklesiologischer Perspektive, aber auch unter Gesichtspunkten, die direkt das Verhältnis von Christentum und Säkularismus betreffen.

Drei einschlägige Impulse, die in den genannten Hinsichten gegeben werden, seien im Folgenden in gebotener Kürze und in der Absicht aufgegriffen, sie mit reformatorischen Grundeinsichten zu verbinden:

  1. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ (WA 7, 21, 1-4; vgl. WA 7, 49, 22-25) Freiheit und Dienstbarkeit schließen sich nach christlicher Auffassung nicht aus, sondern bedingen einander wechselseitig, da gilt: „Domini sumus.“ „Wir sind Herren, weil wir des Herren sind.“ (vgl. Röm14,8; WA B 7, 83, Nr. 2125, 16-19)
  2. Weil die Freiheit des christlichen Glaubens in Christus gründet, um in der Liebe dienstbar zu sein, ist die christliche Kirche dazu bestimmt, in der Einheit von Individualität und Sozialität ein kommunikativer Freiraum zu werden, in dem die Verschiedenen als Verschiedene eins sein können, weil Verschiedenheit, ohne aufzuhören, ihren trennenden Charakter verloren hat.
  3. Um sich in der Welt zu bewähren, hat sich die christliche Freiheit in der Kunst des Unterscheidens zu üben und beispielsweise – um nur das für die Säkularisierungsproblematik zentralste Thema zu benennen – sorgsam zwischen potestas ecclesiastica und potestas civilis, zwischen geistlich-kirchlicher und staatlich-ziviler Vollmacht zu differenzieren.

Zum ersten: Der Freiheitsbegriff ist für sich genommen unbestimmt und bedarf einer genauen Bestimmung, um angemessen gebraucht zu werden. Man kann mit ihm das Vermögen assoziieren, zu tun und zu lassen, was immer man will. Dann setzt man den Begriff der Freiheit mit demjenigen arbiträrer Willkür gleich, die es nicht verdient, frei genannt zu werden. Fehlbestimmt wird der Begriff der Freiheit auch dort, wo er als Autonomie im Sinne unmittelbarer Selbstbestimmung verstanden wird. Zwar liegt dieses Missverständnis nahe, und wir alle sitzen ihm nach Maßgabe der Lehre vom universalen peccatum originale auf die eine oder andere Weise auf. Nichts in der Welt, kein Ding und auch kein Mensch, kann der Grund menschlicher Freiheit sein. So neigt jeder dazu, ihn unmittelbar in sich selbst zu suchen und Freiheit als Akt der Selbstsetzung zu verstehen. Doch verkehrt sich das Ich, welches sich und seine Freiheit unmittelbar selbst zu begründen sucht, zwangsläufig in sich, was der christlichen Tradition als Ursünde gilt. Befreit werden kann der, mit Luther zu reden, homo incurvatus in se ipse aus seiner Verkehrtheit und derjenigen seiner Freiheit nur durch eine Bekehrung, welche allein Gott zu wirken vermag.

Gott hat sich in Jesus Christus Kraft seines göttlichen Geistes nicht nur des Menschengeschöpfes im Allgemeinen, sondern in Sonderheit des Sünders angenommen, um diesen von sich selbst zu sich selbst zu befreien. Christliche Freiheit setzt einen erlösenden Vollzug der Befreiung voraus; aus der Dankbarkeit für ihn wird spontan und freiwillig die Tat der Liebe erwachsen. Wie Biser sagt: „Wo Jesus Gegenwart gewinnt, kann sich keine Fessel, am wenigsten die der Sünde und ihrer kognitiven Entsprechungen, der Täuschung und des Wahns, halten. Um ihn entsteht ein Raum der Offenheit, in welchem ein jeder, der ihn betritt, freien Zugang zu seinen eigenen Werdemöglichkeiten und zum Wohlwollen seiner Mitmenschen findet.“ (55) Dieser Raum der Offenheit zu sein ist der Kirche Jesu Christi durch den Geist ihres Herrn bestimmt.

Zum Zweiten und einem weiteren Biser-Zitat: „Siebente Vorlesung. Der Freiraum Kirche. Im Blick auf eine Vielzahl von repressiven Strukturen und Tendenzen sollte man meinen, dass man von einer im Raum der Kirche bestehenden Freiheit nur im Optativ, nicht jedoch im Indikativ reden könne. Das trifft jedoch, selbst bei Verwendung strenger Maßstäbe, nicht zu.“ (171) In einem Umfang wie vielleicht noch nie in ihrer Geschichte sei die Kirche, so Biserim Jahr 1973, „Raum des freien Gesprächs und Spielfeld eigenständiger Gestaltung“ (ebd.) geworden. „Daran“, fährt er fort, „gilt es festzuhalten gerade auch angesichts der um sich greifenden Tendenzen, den gewonnenen Freiheitsraum aufzuheben oder, sofern dies nicht gelingt, auf ein Minimum einzugrenzen.“ (Ebd.)

Sätze wie diese sind nach wie vor aktuell. Mag es auch mancher mit dem freien Spiel beispielsweise liturgischer Gestaltung zu wild getrieben haben, so gilt es doch am kommunikativen Communio-Charakter der Kirche unverbrüchlich festzuhalten. Kirchliche Amtsautoritäten verdienen gebührenden Respekt. Aber Autorität enthebt nicht der Argumentationspflichtigkeit, sondern kann im Gegenteil nur auf argumentativ-gesprächsoffene Weise sachgemäß wahrgenommen werden. Ansonsten kommt es zu autoritären Entartungen, die dem Geist der Freiheit zuwider sind.

„Die Wahrheit wird euch frei machen“, heißt es im Evangelium nach Johannes (8,32). Biser hat diesem Schriftwort eine lange Passage in seinem Buch gewidmet und es auf seine Weise mit dem Revolutionsbild von Delacroix in Verbindung gebracht (vgl. 48ff.). Wahrheit macht frei und kann nur auf freie Weise bezeugt werden. Rechte christliche Zeugenschaft setzt deshalb die österlich-pfingstliche Gewissheit voraus, dass in, mit und unter dem Zeugnis der bezeugte Christus sich selbst und von sich aus überzeugend zu bezeugen vermag. Das macht den Zeugen nicht überflüssig, befreit ihn aber vom Zwang, sein Zeugnis selbst beglaubigen zu müssen. Der wahre Zeuge wahrt den Unterschied zu demjenigen, den er bezeugt. Ein Wahrheitsbeglaubigungsmonopol wird er daher nicht beanspruchen.

Zum Dritten: Eugen Biser hat Theologie im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils zu betreiben versucht. Zu den bemerkenswertesten Texten dieser Kirchenversammlung zählt die „Declaratio de libertate religiosa“, in der sich die römisch-katholische Kirche ausdrücklich zu den Prinzipien der Religions- und Gewissensfreiheit sowie der Nichtidentifikation von Staat und Kirche bekennt. Der Staat hat zur Sicherung und zur Wahrung der äußeren Sphäre der Freiheit gegebenenfalls rechtlich geordnete Zwangsmittel einzusetzen. Der innere Mensch dagegen geht ihn nichts an. Die Kirche hinwiederum kann als geistliche Größe, die mehr und anders ist als eine societas externa, nur zwanglos tätig sein: „sine vi humana, sed verbo“, wie es in der Confessio Augustana (CA XXVIII,21) heißt.

Die Wahrheit des Evangeliums, das in Wort und Sakrament zu bezeugen der Kirche aufgetragen ist, geht aus dem Geist der Freiheit hervor und bewirkt ihn. Gewalt und Zwang aber schließt sie kategorisch aus, womit eine Grenzziehung vollzogen ist, die für das Verhältnis von Christentum und Säkularismus von fundamentaler Bedeutung ist, weil sie totalitäre Tendenzen nach zwei Seiten hin in Schranken weist. Sie blockiert, was das Kirchliche angeht, alle theokratischen Bestrebungen, weltliche Herrschaft im Namen der Religion zu erlangen. Sie limitiert aber zugleich den Staat, dessen Würde nachgerade darin besteht, Recht und Ordnung äußere Geltung zu verschaffen, ohne Macht zu beanspruchen über die Gewissen und die religiösen Glaubensüberzeugungen der Menschen, die zu äußern oder nicht zu äußern ihnen freisteht. Totalitarismus wird so in doppelter Hinsicht vermieden.

Der Schlussimpuls sei durch ein weiteres Biser-Wort gesetzt, das in den skizzierten Kontext gehört und zugleich Anlass zu weiterem Nachdenken bietet. Was ist im Bezug auf die Zukunft der Kirche zu erwarten, zu hoffen und zu fordern? Bisers Antwort: „(D)ie Distanzierung von den gesellschaftlichen Implikationen, ohne die sie nicht auskommt, in denen sie aber auch nicht besteht. So paradox es klingt: im Akt dieser gegen den Sog der mundanen Systeme durchzuhaltenden Selbstunterscheidung bestünde der signifikanteste Erweis ihrer – partiellen – Identität mit dem Gottesreich und damit, was dasselbe besagt, die Chance der Freiheit, die sie sich und den Menschen schuldet.“ (175f.) Wer einen ausführlichen Kommentar zu diesem vielleicht etwas kryptisch anmutenden Satz erhalten möchte, der lese Bisers Ausführungen zu „Glaube und Kultur“ in dem Sammelband mit dem signifikanten Titel „Weltfrömmigkeit. Zum Verhältnis von Geist und Glaube“ (Tübingen 1993, hier: 37-70). Der Umschlag auch dieses Buches verdient Beachtung; er zeigt einen Ausschnitt aus dem „Großen Morgen“ von Philipp Otto Runge, 1805, näherhin drei Englein, denen ein Licht aufgeht. Aufgeklärte Freiheit bedarf der Erleuchtung!

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