Religion und Recht

Im Rahmen der Veranstaltung "Planungsbesprechung Moodle-Plattform", 02.02.2018

Eugen Biser kennt unsere säkularisierte und zugleich um Menschlichkeit bemühte Welt. In diesem Bewusstsein widmet er sein liebens-würdiges Christentum dem Menschen. Er definiert den Auftrag des „noch in den Kinderschuhen steckenden“, also am Anfang seines Wirkens stehenden Christentums, sucht den Menschen die Angst zu nehmen, ihnen Hoffnung zu geben, ihnen die Begegnung mit Gott zu erschließen.

Diese ermutigende Theologie ist von großer Bedeutung für das Gelingen einer freiheitlichen Gesellschaft. Als Jurist darf ich Ihnen dieses für das Verhältnis von Religion und Recht verdeutlichen. Beide haben einen gemeinsamen Auftrag, stützen sich auf gemeinsame Ursprünge, denken und verstehen den Menschen nach einem ähnlichen Menschenbild.

 

Das Menschenbild

 

Das Christentum lehrt, dass Gott seinen Sohn in die Welt geschickt hat, um dort Mensch zu sein und die Menschen zu erlösen. Dieses Menschenbild prägt das gesamte Wirken Eugen Bisers als Wissenschaftler, als Autor, als Pädagoge, als Prediger und als Dialogpartner. Wenn Gott Mensch geworden ist und durch sein Menschsein den Menschen erlöst hat, gewinnt der Mensch eine Würde und eine Freiheit, in der er seine Individualität entfaltet. Diese Rechte kommen dem Menschen allein deshalb zu, weil er Mensch ist. Einen radikaleren Freiheits- und Gleichheitssatz gibt es in der Rechtsgeschichte nicht. Die modernen säkularen Staatsverfassungen sprechen von angeborenen Menschenrechten, die unantastbar, unveräußerlich und unverletzlich sind. Religion und Recht widmen sich so dem Menschen, suchen seine Freiheit zur Wirkung zu bringen, sehen in der autonomen Person ein Maß der Gerechtigkeit.

Dabei stützen sich Theologie und Recht auf Texte, die Bibel und die Verfassungsurkunde, denen sie hervorgehobene Autorität und Geltung zusprechen, die sie für die Gegenwart weiterdenken, für die Zukunft vorausschreiben, vorschreiben. So entwickeln sich bestimmte Denkweisen, Theorien, die den Text begreifen, verstehen und erneuern wollen. Diese Theorien müssen überzeugen. Daneben entfaltet sich aber auch eine Dogmatik, die sich auf den geschriebenen Text beruft und deshalb beansprucht, an dessen Rang und Verbindlichkeit teilzuhaben. Doch sind beide Wissenschaften bemüht, subjektive Festschreibungen, zeitbezogene Fixierungen und machtbegründende Kompetenztitel zu vermeiden, den Text weiterhin atmen, sich entwickeln und erneuern zu lassen. Die Bibel wie der Verfassungstext sind gesprächsbereit und antwortoffen. Religion braucht den Prediger, Recht den Richter.

Religion und Recht vertrauen dem Menschen. Eugen Biser erwartet vom Menschen die Fähigkeit zum grenzenlos Guten. Glaube ist insofern „die schon realisierte Utopie“. Die Verfassung bringt jedem Menschen Freiheitsvertrauen entgegen, stützt dieses Vertrauen aber durch die Ordnung des Rechts.

 

Der gemeinsame Auftrag: Frieden und Freiheit

 

Eugen Biser betont einerseits die befreiende Botschaft des Christentums. Gott hat seinen Sohn gesendet, damit er uns von den mosaischen Gesetzen und seinen Zwängen befreie. Diese Freiheit ist eine Freiheit vom Gesetz. Andererseits betont Biser, dass der Gottessohn „Frieden auf Erden“ hinterlassen habe, der Weltfrieden nicht von der Kunst der Politiker oder der Kraft der Vernunft zur Verständigung und Versöhnung zu erwarten sei, sondern von dem erbarmenden Eingriff Gottes in ein leidvolles Weltgeschehen. Das Recht ist heute erfolgreich auf dem Weg, eine verbindliche Friedensordnung zu schaffen, die Kriege beendet, die Waffen schweigen lässt und ihre Zahl und Zerstörungskraft begrenzt. Vor allem aber sucht das Recht die Völker zu versöhnen und in Gemeinsamkeiten miteinander zu verbinden, um dem Entstehen von Krieg und Terror vorzubeugen. Dieses Recht ist nicht Gegner, sondern Garant von Frieden und Freiheit. Es schafft Frieden, der in der Freiheit der Menschen wurzelt. Das Recht bändigt Macht und begründet Macht, dient der Freiheit, kann aber auch Freiheit gefährden.

Unsere Sprache kennt den schönen Begriff „Rechtsquelle“. Das Recht ist – wie das Wasser – im Dunkel des Berges schon entstanden, wird dann beim Heraustreten an der Quelle für den Menschen sichtbar und begreifbar, wird dort durch die Kunst des Menschen verfasst, so dass nichts verlorengeht oder verschmutzt wird, wird so zu einem notwendigen Mittel menschlichen Lebens, zu einem Lebensmittel. Recht ist also in seinen Kerninhalten nicht von einer Obrigkeit gesetzt oder von einem Parlament gewollt, sondern vorgefunden. Daraus erwächst die Autorität des Rechts.

Diese Autorität des Rechts und des Überbringers von Recht ist unangreifbar, wenn Gott die zehn Gebote Moses auf Tafeln überreicht und ihn beauftragt, diese den Menschen zu geben. Dieses „göttliche“ Recht prägt oder entspricht dem Rechtsempfinden des Menschen, der einem Hang zum Guten folgt, in dessen Gewissen der göttliche Rechtstifter und Rechtsprecher wirkt. Dieses insbesondere von Thomas von Aquin betonte natürliche Recht und die dem Menschen innewohnende Moral erlauben die Unterscheidung von Gut und Böse durch das Menschsein und damit für die Menschheit. Die Einsicht des Geschöpfes in den Plan des Schöpfers lässt uns in dieser Vernunft das begreifen und verstehen, was uns – so Eugen Biser – eingestiftet ist. Die Aufklärung wird von der „Vernunftnatur“ des Menschen sprechen, die menschliche Ratio als unbestechlichen „Gerichtshof“ (Kant) anrufen, der Handlungsmaßstäbe und Handlungen als gut oder böse beurteilen kann.

Der Kern dieses Denkens ist die Würde in Freiheit, die alle Menschen beanspruchen. In Freiheit und Würde sind die Menschen alle gleich. Wenn allerdings die USA gegenwärtig eine Politik nach dem Prinzip des „Deal“ zu machen suchen, sie also nur demjenigen geben, der eine Gegenleistung erbringt, so sind die Bedürftigen und die Entwicklungsländer, die sich mangels Zahlungskraft nicht an diesem Gütertausch beteiligen können, von Vornherein von dem Politikgeschehen ausgenommen. Dieses widerspricht aller Vernunft und christlichen Einsicht.

Unsere säkularisierte, von einem Gottesglauben losgelöste rechtliche Welt werden wir mit dem Hinweis auf ein „göttliches“ Recht nicht beeindrucken können. Doch wir werden die Gemeinsamkeit in den Rechtsfolgen – die generationenübergreifende Verbindlichkeit der Elementarprinzipien des Rechts – hervorheben und den darin angelegten gemeinsamen Auftrag für Kirche und Staat betonen. Wir beanspruchen für die „universalen Menschenrechte“ weltweite Geltung unabhängig vom Willen der jeweiligen rechtsetzenden staatlichen Autorität. Das Grundgesetz setzt für seine Kerninhalte Unabänderlichkeit voraus, mag auch die verfassungsändernde Gewalt eine Änderung wollen. Damit sind unverrückbare rechtliche Selbstverständlichkeiten angesprochen, die von der Religion und einer freiheitlichen Demokratie immer wieder bestätigt und fundiert werden müssen. Das Wort von den „universalen Menschenrechten“ ist eine appellative Feststellung, die nicht eine schon erreichte Weltgeltung der Menschenrechte behauptet, sondern diese Weltgeltung erreichen will. Auch kann das Grundgesetz mit seiner Unabänderlichkeitsgarantie nur seine Identität sichern, sich aber nicht gegen revolutionäre Zerstörungen dieser Verfassung abschirmen. Dennoch ist diese Friedensordnung, die sich auf die Würde und Freiheit jedes Menschen stützt, eine Existenzbedingung der modernen Welt, die in der Realität von Krieg und Terror, Naturkatastrophen und Völkerwanderungen, eines erbitterten Kampfes zwischen Geld und Kultur eine Orientierung braucht. Diese zu geben ist Auftrag von Staat und Kirche.

Das Staatsrecht sucht Frieden und Freiheit im Prinzip der Demokratie zu gewährleisten. In dieser Staatsform bestimmt der Bürger als Wähler in strikt formaler Gleichheit, wer die Herrschaft im Staat innehaben, für ihn als Repräsentant politisch entscheiden soll. Die Parteien stellen die Kandidaten auf. Der Wähler wählt aus den Kandidaten die Mandatsträger, die dann im Bundestag frei, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen verantwortlich – so sagt es das Grundgesetz – Politik gestalten sollen. Wenn nun aber die so Gewählten ihren Auftrag nicht wahrnehmen, die Entscheidung über die Regierungsbildung vielmehr einer Gruppe – ihrer „Parteibasis“ – überlassen, so werden Parteimitglieder mit Sonderentscheidungsrechten ausgestattet, obwohl sie vom Staatsvolk niemals gewählt worden sind. Der entscheidungsberechtigte Bürger könnte dieses Vorzugsabstimmrecht nur gewinnen, wenn er in diese Partei einträte, also in vielen Fällen eine Parteimitgliedschaft entgegen seinem politischen Willen begründete. Zudem müsste er sich sein Sonderabstimmrecht durch Beitragszahlung „erkaufen“. Ich würde gerne mit Eugen Biser diskutieren, was er zu dieser Verrückung der Menschenrechte in seiner helfenden, therapeutischen Theologie einzuwenden hätte.

 

Freiheitsvertrauen: Dialog statt Dekret

 

Im Ringen um die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte sagt Eugen Biser auch etwas zu dem Weg, zu der Methode, wie wir dieses stets anzustrebende, aber nie gänzlich erreichbare Ziel einer Gerechtigkeit in Frieden und Freiheit verwirklichen können: Mehr Dialog als Dekret. Das Recht, die Gerechtigkeit wird eher im Innern des Menschen, seinem Gewissen, seiner Seele, entfaltet als von außen durch Befehl und Zwang an ihn herangetragen. Gerechtigkeit baut auf Freiheitsvertrauen, nicht auf Freiheitsargwohn. Hier liegt ein elementar moderner Gedanke der Verfassungsstaaten, die Freiheit garantieren, aus diesem Freiheitsprinzip eine Friedenserwartung ableiten. Wenn der Mensch seine Freiheit unfriedlich wahrnimmt, wird der Frieden nicht gelingen. Wenn er seine Freiheit in einem Kriegsgebiet entfalten soll, ist ihm trotz Freiheitsbereitschaft der Weg zur Freiheit versperrt.

Dieses Grundvertrauen in einen zum Guten bereiten, zur Freiheit fähigen Menschen wird in Staatsverfassungen zerstört, die dem Bürger grundsätzlich mit Argwohn begegnen. China erprobt gegenwärtig in einzelnen Kantonen ein Anstandsregister. Jeder Bürger wird mit einer Ausgangspunktzahl ausgestattet. Durch Wohlverhalten kann er seinen Punktebestand mehren, durch Fehlverhalten mindern. Unterschreitet sein Punktestand eine bestimmte Mindestgrenze, wird dieses veröffentlicht. Der Betroffene steht am Pranger. Dieser Staat beobachtet, lenkt und straft den Menschen aus dem Verborgenen.

Der Rechtsstaat sucht demgegenüber den Dialog. Er verbietet jedem Menschen die Gewaltanwendung, beendet Faustrecht und Fehde, entwaffnet in Europa die Menschen. Er sucht jeden Streit allein in sprachlicher Auseinandersetzung zu schlichten. Grundsätzlich verständigen sich die Menschen im Konfliktfall durch den Dialog, erwarten, wenn dieser misslingt, eine verbindliche Entscheidung durch die Rechtsprechung, die Kläger und Beklagten rechtliches Gehör gewährt und auf dieser Grundlage Recht spricht und Recht begründet.

Der Rechtsstaat ermöglicht diese Friedlichkeit, indem er Grundsatzfragen, die Krieg und Streit verursacht haben, ausdrücklich offenlässt. Dieses gilt insbesondere für die Frage nach dem wahren Gott und der wahren Religion. Der Staat ist weltanschaulich neutral, garantiert seinen Bürgern die Religionsfreiheit, erwartet damit aber auch, dass die den Menschen bedrängende Frage nach seiner Endlichkeit, nach dem Sinn seines Lebens, nach der Wahrheit in der freien Gesellschaft beantwortet wird. Religion und Kirchlichkeit bleiben für den Menschen und das Leben des Menschen in Gemeinschaft unverzichtbar. Ihre Maßstäbe, Lehren und Riten werden aber von Staat und Recht nicht beeinflusst, sondern im freien Dialog der Menschen bestimmt und unterschiedlich entfaltet. Dieses Fundament für eine freiheitliche Friedensordnung, für unser Recht, unseren Staat errichten die freien Menschen.

Auch dieser Dialog hat einen Ursprung im Christentum wie in der Aufklärung. Der Christ begegnet einem Gott, der den Menschen unmittelbar erleuchtet, ihm eine selbstbewusste, maßstabssichere Freiheit gibt. Die Aufklärung verheißt Erleuchtung durch sittliche Vernunft, also ebenfalls nicht in beliebiger, sondern in gebundener Freiheit. Christliche Erleuchtung führt eher zur Selbstlosigkeit, Aufklärung eher zur Selbstverwirklichung.

 

Entfremdung von Staat und Kirche trotz gemeinsamen Erfolges

 

Eugen Biser stellt mit seiner Lehre von Christus als dem Sohn Gottes den „Frieden auf Erden“ und die „Freiheit auf Erden“ als gleichrangige Ziele des menschlichen Strebens und der menschlichen Entwicklung in den Mittelpunkt seiner Theologie. In der Freiheit ist die Kernhoffnung des modernen Menschen definiert, der sich nach Offenheit, nach dem Raum für ein freies Atmen, ein freies Denken, Sprechen und Handeln, nach der Ungebundenheit der Entdeckungsfreude und der Entfaltungsfantasie sehnt, der sein Leben selbstverantwortlich gestalten will.

Das Christentum erlebt mit der Verkündung der Menschen- und Bürgerrechte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen historisch einmaligen Erfolg. Es hätte die Erneuerer in den USA und die Revolutionäre in Frankreich eigentlich dankbar umarmen müssen. Doch die politische Realität stand dem entgegen. Insbesondere die Französische Revolution kämpfte gegen den Feudalismus und damit auch gegen die Kirche. Die Revolution war angetreten mit dem politischen Fanal „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Doch aus der Brüderlichkeit unter allen Menschen – einem fundamentalen Integrationsgedanken – wurde bald die Unterscheidung zwischen Brüdern und Staatsfeinden. Andersdenkende wurden ausgegrenzt. Die Freiheitsbewegung nahm den Weg zu Guillotine, Diktatur und Krieg. Die vier nach der Französischen Revolution geschriebenen Verfassungen sprechen nicht mehr von der Brüderlichkeit, sondern von „Freiheit, Gleichheit, Sicherheit“. Das sind wohl realistischere, rechtlich erreichbare Ideale, die bis heute wirken. Sie haben aber nicht die Kraft gehabt, die holprigen Wege, die Staat und Kirche in ihrem gemeinsamen Dienst an den Menschenrechten auseinander führten, wieder zu einem gemeinsamen Auftrag zu führen, der auf getrennten Wegen zu erfüllen ist.

Doch wenn nun im 21. Jahrhundert die Menschenrechte einen glänzenden Erfolg erleben, insbesondere in Europa 47 Staaten der europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten sind und sich der Gerichtsbarkeit in Straßburg unterworfen haben, ist es hohe Zeit, dass die christlichen Kirchen mit den Staaten zusammen für diese Entwicklung danken, sie in Festen und Hochämtern feiern, sie diese Gewährleistungen als Inhalt des Verfassungsrechts und als Kernanliegen der christlichen Botschaft im Denken der Menschen fest verankern.

Auch für das Prinzip einer verantwortlichen Freiheit müssen Staat und Kirche immer wieder kämpfen. Wir erziehen unsere Kinder heute zur Unverantwortlichkeit. Wenn in den digitalen Medien jedermann in der Anonymität Hass, Häme und Gewalt verbreiten, z.B. seinen Lehrer verleumden kann, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden, widerspricht dieses fundamental der Freiheitsidee. Jeder hat das Recht zur freien Meinungsäußerung. Er steht aber mit seinem Gesicht und seinem Namen für jedermann erkennbar für das, was er sagt. Wenn hingegen die Veranstalter von digitalen Plattformen die Anonymität, die technisch einfach vermeidbar wäre, zum Geschäftsmodell machen, ist dieses ein Geschäft gegen die Freiheit.

 

Die äußere und die innere Freiheit

 

Der christliche Glaube stärkt den Gestaltungswillen und die Freiheitsverantwortung des Menschen, ist Antrieb zur Freiheit, ermutigt zum Wagnis der Freiheit. Freiheit ist anstrengend und steckt voller Risiken. In eindringlicher Weise handelt Eugen Biser – aus seiner eigenen Kriegserfahrung – auch von der Verstörung, der Angst, der Einsamkeit des Menschen. Wenn er diesem Menschen sagt, das Christentum bringe gerade ihnen eine „heilbringende“ Antwort, sei „therapeutisch“, so ist damit der Mensch nicht strukturell als krank definiert, sondern als begegnungsbedürftig, auf innere Erleuchtung angewiesen. „Das Gegenteil von Glaube ist nicht Unglaube, sondern Angst.“ Der Glaube nimmt dem Menschen die Angst, ermutigt ihn, vor aller Augen frei zu sein, zu seiner freien Entscheidung zu stehen, grundsätzlich auch seine Entscheidung als gut zu empfinden, weil er sie verantwortlich getroffen hat.

In dieser Ermutigung zur Freiheit übernehmen Staat und Kirche unterschiedliche Aufgaben. Der Rechtsstaat sichert mit seinem Recht die äußere Ordnung, gewährt dem Menschen nicht „Freiheit“, sondern definierte – begrenzte – Freiheitsrechte, enthält sich aber strikt jeder moralischen Beurteilung und Weisung. Diese Staatsverfassung setzt auf die innere Freiheit des Christen und Menschen, die Freiheit in Sittlichkeit, das Handeln nach verallgemeinerungsfähigen Maßstäben, die der Mensch in seinem Gewissen, seiner Verantwortlichkeit, auch seiner Schuldfähigkeit entwickelt. Je mehr der Bürger die Fähigkeit zur sittlichen Freiheit entwickelt, desto weniger braucht der Staat Freiheit durch Recht und Rechtszwang zu begrenzen. Wenn der Kaufmann ehrbar, der Wettbewerb lauter, die Wissenschaft wahrheitsbewusst und wahrheitssensibel, der Bürger anständig und der Sportler fair ist, kann sich das Recht auf die Gewährleistung, Organisation und Förderung der Freiheit beschränken. Je mehr der Bürger aber andere verletzt, den Frieden stört, er das Maß verliert und die Herrschaft über sich selbst schwindet, desto mehr muss das Recht Ordnung schaffen und Freiheit begrenzen. Ein erfolgreiches Christentum erübrigt viele Regeln des Rechts, erlaubt dem Staat, sich auf die Gewährleistung der Freiheit zurückzunehmen und auf die Vielfalt eigenverantwortlicher Freiheit der Menschen zu setzen. Der freiheitliche Staat profitiert von der inneren Bindung des Christen, der christlichen Moral.

Allerdings bekräftigt Eugen Biser das Wort: „Das Christentum ist keine moralische, sondern eine mystische Religion.“ Dieser Einspruch gegen eine moralisierende Dogmatik widerspricht aber nicht christlichen Verhaltenslehren und Verhaltensverantwortlichkeiten, die als „Moral“ den Menschen innerlich binden. Er lehrt eher das Staunen vor dem Geheimnis unmittelbarer Gotteserfahrung, das den Menschen erleuchtet und ihm Maßstäbe gibt.

 

Die Organisationslehre: Vom Autoritäts- zum Verstehensglauben

 

Im Menschenbild Eugen Bisers sind auch seine Vorstellungen von der Obrigkeit, von Kirche und Staat angelegt. Er sagt: „Ich sehe eine Wende vom Gehorsams- und Autoritätsglauben zum Verstehensglauben.“ Diese Glaubenslehre wendet sich zunächst an Kirche und Papst – heute eher an die Kurie –, läuft aber auch der Entwicklung der Staatstheorie parallel und bietet damit erneut einen Anlass, Staatsrecht und Glauben wechselseitig zu entfalten.

Die Staatstheorie sieht die Menschen zunächst als Wölfe, die sich im ständigen Krieg untereinander gegenseitig zerstören. Dieses Menschenbild fordert eine Obrigkeit, die alle ihr anvertrauten Wölfe als Untertanen vorbehaltlos beherrscht und damit die Sicherheit eines äußeren Friedens garantiert. Doch ein solcher absoluter Herrscher kann seinerseits Krieg gegen seine Untertanen führen, sie unterdrücken, entrechten und töten. Deshalb muss das Staatsrecht auch garantieren, dass die Obrigkeit dem freien Menschen nicht das ihm Eigene – sein Leben, seine Freiheit, sein Vermögen – nimmt und ihm keinen Schaden zufügt. Das Staatsrecht organisiert eine Gewaltenteilung, stattet die Menschen mit Menschenrechten aus, gibt ihnen schließlich die Möglichkeit einer Verfassungsgerichtsbarkeit, vor der der Einzelne in Waffengleichheit mit der Obrigkeit seine Rechte durchsetzen kann.

Wenn der Mensch nicht Wolfsmensch ist, den der Staat in seine Schranken zu weisen hat, sondern Verantwortungsmensch, der im Verfassungsstaat mit angeborenen und unverletzlichen Rechten ausgestattet ist, so ist auch diese gemeinsame Botschaft von Staatsverfassung und Christentum von besonderer Aktualität. Die Europäische Union, die zwischen den Machtblöcken der Vereinigten Staaten und Chinas einen neuen Auftrag zu übernehmen hat, ringt gegenwärtig zwischen den Prinzipien der Mehrheitsdemokratie und dem vertraglichen Konsens. Das Mehrheitsprinzip ist für die unterlegene Minderheit nur erträglich, wenn der Mensch nicht Wolf, sondern berechtigter Verantwortungsträger ist, er gegenüber einer Mehrheit die Sicherheit hat, dass seine Minderheitsrechte geschützt werden und er in Zukunft zur Mehrheit gehören kann. Dieses ist das Prinzip des Verfassungsstaates. Im Staatenverbund wie der Europäischen Union hingegen begegnen sich die Staaten grundsätzlich in Vertragsfreiheit, sind ungebunden, soweit sie sich vertraglich nicht gebunden haben. Wenn nun außerhalb der vertraglichen Bindungen neue Finanzfonds als Dauereinrichtung der Umverteilung geschaffen werden sollen, bliebe die Minderheit ohne Rechte. Es wird sich eine Mehrheit bilden, die sich als finanziell bedürftig definiert, um dann die Minderheit, die als reich definiert wird, auszubeuten. Hier sichert allein der vertragliche Konsens hinreichende gegenseitige Verantwortlichkeit. Wenn wir christlich kühne Hoffnungen wagen, könnte das Christentum in diese Debatte eine Kultur des Maßes hineintragen.

 

Vertrauen in den begrenzten Menschen

 

Die These Eugen Bisers, er sehe eine Wende vom Gehorsams- zum Verstehensglauben, rührt an dem Kern des modernen Staats- und Kirchenverständnisses. Auch der Staat wird heute weitgehend als eine Autoritätsorganisation verstanden, die dem freien Menschen Maßstäbe setzt, Gebote und Verbote vorgibt. Das Vertrauen auf die innere Freiheit ist im Schwinden. Fehlentwicklungen in der Weltwirtschaft, im Finanzmarkt, auch in Wissenschaft und Technik, wenn sie mehr Fortschritte des Könnens, weniger des Dürfens erzielen, bestärken den Ruf nach Autoritäten. Doch hier macht gerade das Christentum, insbesondere Eugen Biser, die im Menschlichen angelegte Beschränkung bewusst. Der Mensch kann nicht voraussehen, was morgen geschieht, nicht die Gedanken des anderen Menschen lesen, aus eigener Kraft nicht hundert Meter fliegen und nicht nach den Sternen greifen. Menschlichkeit ist im Diesseits die Endlichkeit, die vor Selbstüberschätzung und Selbstüberforderung bewahrt. Diese Humanität verdient Vertrauen.

Wenn wir in dieser unserer Gegenwart, reich an außerordentlichen Chancen und dramatischen Risiken, auf die Lehre von Eugen Biser zurückgreifen dürfen, wir zu seinem Hundertsten erleben, dass er durch sein Wort und seine Schrift uns gegenwärtig ist, ist dies ein Glücksfall, für den wir dankbar sind, den wir intellektuell genießen, den wir zur Selbstinspiration und zur Bereicherung unseres Gemeinwesens nutzen wollen.

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema: Theologie | Kirche | Spiritualität

Reinhardhauke
Das Buch Hiob I
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 12.01.2026
Shutterstock/Jose HERNANDEZ Camera 51
Ein russischer Aufruf gegen den Krieg in der Ukraine
Akademiegespräch am Mittag mit Prof. Dr. Kristina Stoeckl und Dr. Johannes Oeldemann
Mittwoch, 14.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob II
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 19.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob III
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 26.01.2026
Ordo-socialis-Preis 2025 an Sylvie Goulard
Dienstag, 27.01.2026
Akademiegespräch am Mittag mit Abt Dr. Johannes Eckert OSB und Sr. Dr. Katharina Ganz OSF
Mittwoch, 28.01.2026
Ministerie van Buitenlandse Zaken/Wikimedia Commons
Menschenrechte verteidigen
… nach dem Seitenwechsel der USA
Mittwoch, 28.01.2026
Reinhardhauke
Das Buch Hiob IV
Verlangen nach Gerechtigkeit. Eine altorientalische Diskursgeschichte
Montag, 02.02.2026