Religionsfreiheit ist ein kostbares, aber umkämpftes Gut
Religiöse ebenso wie nicht-religiöse weltanschauliche Überzeugungen sind auf das Engste mit den Praktiken von Individuen und Gemeinschaften verknüpft. Überzeugungen, aus denen heraus Menschen ihre Welt- und Wirklichkeitserfahrung deuten, gewinnen konkrete Gestalt im individuellen und gemeinschaftlichen Handeln, in sozialem und politischem Engagement und prägen dadurch den Charakter einer Gesellschaft mit. Sie gehen in Legitimationsdiskurse für persönliches Tun und Lassen und für die Programmatik korporativer religiöser und weltanschaulicher Akteure ein und begründen dadurch Schwerpunkte und Modi sozialen Handelns. Sie artikulieren sich im Werben für die je eigenen Werte, Handlungsmuster und Wahrheitseinsichten und provozieren dadurch Diskurse um Wertoptionen und -prioritäten sowie um Lösungsansätze normativ aufgeladener Fragen des Zusammenlebens. Indem um religiöse und weltanschauliche Überzeugungen öffentlich gerungen wird, indem mit ihnen und gegen sie gesellschaftliche Ziele diskutiert und bestimmt werden, erweisen sich Religionen und Weltanschauungen grundsätzlich als wichtige Ressourcen für die Orientierung und Entwicklung der Gesellschaft. Dass daraus in weltanschaulich pluralen Konstellationen unvermeidlicher Weise Spannungen erwachsen, ist nicht per se beunruhigend. Eine freiheitliche, demokratisch strukturierte Gesellschaft verfügt über Mittel, solche Spannungen und Konflikte im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung grundsätzlich friedfertig auszutragen.
Eben dafür steht in prominenter Weise das Menschen- beziehungsweise Grundrecht auf religiöse und weltanschauliche Freiheit. Es schützt ein kostbares, jedoch weltweit vielfach gefährdetes, gegenwärtig auch in liberal-demokratischen Gesellschaften Europas angefochtenes Gut. Auf diesen letzten Aspekt möchte ich meine Überlegungen fokussieren.
Das Recht auf Religionsfreiheit ist deshalb – so meine These – nach zwei Seiten hin zu schützen und zu verteidigen: gegen den Verdacht, es diene bloßen Partikularinteressen oder Privilegien, und gegen Versuche, Religionsfreiheit tatsächlich partikular für religiöse Interessen zu vereinnahmen und/oder sie politisch zu instrumentalisieren, sei es zur Legitimation fragwürdiger politischer Ziele auf staatlicher Ebene oder als Projektionsfolie für Fremdenfeindlichkeit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder Parteien. Beide Arten, das Recht auf gleiche religiöse und weltanschauliche Freiheit sowie Gewissensfreiheit infrage zu stellen, unterlaufen dessen spezifisch menschenrechtlichen Charakter. Angesichts entsprechender Tendenzen, die den Charakter des menschenrechtsbasierten, freiheitlichen Gemeinwesens freiheitlich-demokratischer Gesellschaften insgesamt im Kern herausfordern, ist nach Status und Stellenwert sowie nach den Möglichkeiten und Grenzen des Rechtes auf Religionsfreiheit als eines Rechtes gleicher Freiheit für alle Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft zu fragen.
Aus der fachlichen Perspektive der christlichen Sozialethik argumentiere ich im Folgenden für die Stärkung des Rechtes auf Religionsfreiheit als Grundlage und zu schützendes Gut, dem eine zeitgemäße Religionspolitik Rechnung tragen muss. Es darf in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht aufs Spiel gesetzt oder zur Disposition gestellt werden, weil und insofern es den Schutz und die Verwirklichung einer grundlegenden Dimension menschlicher Freiheitsentfaltung gewährleistet. Mein sozialethisches Interesse richtet sich nicht nur auf die normativen Implikationen des Rechtes auf Religionsfreiheit für den Staat, sondern auch für die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften als gesellschaftliche Akteure und Verantwortungsträger. Individuelle und korporative Religionsfreiheit sind grundsätzlich als miteinander verschränkt zu betrachten, insofern das religiöse Freiheitsrecht der Person nicht nur die Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit, sondern auch die individuelle und gemeinschaftliche Religionsausübung umfasst, die aber notwendigerweise an bestimmte Kriterien der Freiheitlichkeit gebunden ist. Meine Argumentation bezieht sich schwerpunktmäßig auf den staatlichen, religionspolitischen und gesellschaftlichen Kontext der Bundesrepublik Deutschland.
Was schützt das Recht auf Religionsfreiheit?
Das Recht auf „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (Art. 18) formuliert. Es ist völkerrechtlich verbindlich verankert im Pakt für bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen (18), in einer Reihe von UN-Konventionen ebenso wie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 9) und in den Verfassungen vieler moderner Staaten. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 4) schützt die „Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ als „unverletzlich“ und gewährleistet „die ungestörte Religionsausübung“. Zudem schützt es die Gewissensentscheidung gegen den Dienst mit der Waffe.
Die Trias von Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit bildet gemäß dem modernen Menschenrechtsethos einen konstitutiven Bestandteil der Freiheitsrechte jedes Menschen. Damit sind weitreichende Implikationen für die allgemeine Handlungsfreiheit individueller Personen und – mittelbar – korporativer Akteure verbunden. Geschützt sind die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit („forum internum“) sowie die individuelle und gemeinschaftliche Religionsausübungsfreiheit („forum externum“) gegen jeden Zwang in religiösen Dingen, einschließlich der Freiheit der Eltern zur religiösen Erziehung ihrer Kinder nach den eigenen Überzeugungen und der Freiheit, das religiöse Bekenntnis beziehungsweise die Weltanschauung zu wechseln. Gewährleistet ist die positive ebenso wie die negative Religionsfreiheit, also sowohl die Freiheit des Individuums, einen Glauben zu haben, zu bekennen und zu praktizieren, als auch die Freiheit, keinen Glauben zu haben, zu bekennen und zu praktizieren. Der Staat muss den fairen und diskriminierungsfreien Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt garantieren. Er ist daher darauf verpflichtet, weltanschaulich neutral zu bleiben. Er darf sich folglich weder an ein bestimmtes religiöses Bekenntnis, etwa den christlichen Glauben beziehungsweise eine seiner konfessionellen Ausprägungen, noch an eine bestimmte, zum Beispiel säkularistische oder laizistische Weltanschauung binden. Unter dem Vorzeichen des Grundrechtes auf Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit sind der Staat und seine Organe deshalb gehalten, den Religionen und Weltanschauungen in der Haltung „respektvoller Nicht-Identifikation“ (Heiner Bielefeldt) zu begegnen. Den Gläubigen beziehungsweise Anhängern bestimmter Weltanschauungen sind gleichberechtigte Entfaltungsmöglichkeiten ihrer individuellen und gemeinschaftlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und Praxen zu sichern, ohne dass sich der Staat selbst mit einer dieser Optionen identifizieren darf. In diesem Sinne ist der Staat gerade als Grundrechtsstaat in einem normativen Sinne säkular.
Religionsfreiheit ist ein Recht der Person, nicht der Religion
Das Recht auf Religionsfreiheit schützt nicht abstrakt „Religion“ oder „Weltanschauung“, sondern die Freiheit der Person, sich zu einer Religion und/oder Weltanschauung zu verhalten. Der Staat ist der erste Adressat der Verpflichtung, die religiöse und weltanschauliche Freiheit sowie die Gewissensfreiheit der Bürgerinnen und Bürger zu achten und zu schützen. Aber auch die religiösen Institutionen sind aufgrund des Rechtes auf Religionsfreiheit verpflichtet, die Freiheit des Glaubens, der Religionsausübung und sogar des Religionswechsels ebenso wie die Freiheit, nicht zu glauben und keine Religion zu praktizieren, als Freiheit der jeweils Anderen zu respektieren. Darin liegt für alle – religiösen oder nicht-religiösen – Bekenntnisgemeinschaften, die einen Wahrheitsanspruch erheben, eine erhebliche Herausforderung. Die Religionsfreiheit als individuelles Grundrecht verlangt also den einzelnen Gläubigen wie den Bekenntnisgemeinschaften ab, die von ihnen vertretene Wahrheitsauffassung nicht anders anzubieten als „kraft der Wahrheit selbst“, wie es explizit in der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit „Dignitatis Humanae“ festgehalten wird, und das heißt zugleich: im Respekt vor der Freiheit der Adressaten.
Gegen ein tiefsitzendes Missverständnis ist zu betonen: Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit dient nicht dazu, eine Religion als solche (welche auch immer) unter „Artenschutz“ (Jürgen Habermas) zu stellen, sondern es schützt die Freiheit der Person, einen religiösen Glauben oder eine weltanschauliche Überzeugung zu haben oder nicht zu haben, den eigenen religiösen Glauben oder die eigene weltanschauliche Überzeugung auch öffentlich zu bekennen und individuell und gemeinschaftlich zu praktizieren. Die im 19. Jahrhundert von der katholischen Kirche vehement vertretene, heute eher im Kontext islamischer Staaten anzutreffende Auffassung, der Staat habe mit seinen Rechtsinstrumenten eine bestimmte Religion zu etablieren und zu schützen, deren Wahrheits- und Orientierungsanspruch durchzusetzen und deren Dominanz zu sichern, verfehlt Anspruch und Charakter der Religionsfreiheit im Kern. Das Gleiche gilt etwa auch für Systeme, die den Staat auf eine anti-religiöse beziehungsweise säkularistische Position festlegen, oder für staatskirchliche Systeme. Alle diese Konstellationen unterlaufen die Norm der „respektvollen Nicht-Identifikation“ und negieren die gleiche Freiheit aller Personen sowie mittelbar aller religiösen und weltanschaulichen Vereinigungen, ein Bekenntnis und eine Überzeugung nicht nur im „Seelenkämmerlein“ zu haben, sondern auch öffentlich zu bekennen und zu praktizieren.
Das Menschen- beziehungsweise Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit basiert auf der Voraussetzung eines personalisierten Verständnisses von Religion: Als religiöser Glaube, als Bekenntnis und Praxis bildet sie ein spezifisches Potenzial der individuellen und gemeinschaftlichen Identitätsbildung und kann die Fähigkeit, das eigene Leben zu verantworten und zu reflektieren, unterstützen. Unter solchen Vorzeichen ist Religion nicht als Relikt vormoderner Zeiten abzutun, das zu überwinden schon per se ein Symptom gesellschaftlicher Modernität wäre. Religion und Weltanschauung bergen in der Pluralität ihrer Erscheinungsformen Potenziale der Humanität, deren Entfaltung durch die staatlich garantierte gesellschaftliche Ordnung zu ermöglichen und zu fördern ist. Dass Religion und Weltanschauung auch in das Gegenteil umschlagen können, ist kein Gegenargument, zwingt aber dazu, die grundlegende Ambivalenz menschlicher Freiheit und die Erfahrung ernst zu nehmen, dass religiöse wie weltanschauliche Potenziale immer dem Risiko des Missbrauchs und der Perversion ausgesetzt sind.
Der aus dem Recht auf religiöse und weltanschauliche Freiheit erwachsende Anspruch an den Staat, die Möglichkeit des öffentlichen Ausdrucks solcher Überzeugungen zu sichern, bedeutet nicht, diese seien von Staats wegen vor Provokationen und Infragestellungen zu bewahren. Religiöse wie nicht religiöse Traditionen, Überzeugungen und Argumente müssen sich dem Streit der Überzeugungen stellen. Sie müssen bereit sein, das Eigene, für das Respekt eingefordert wird, nach Möglichkeit zu plausibilisieren und angesichts von Bestreitungen zu rechtfertigen. Ein Beispiel für solche Bemühungen religiöser Akteure um Plausibilisierung des Eigenen bot die heftige öffentliche Debatte, die das Kölner OLG-Urteil zur religiösen, im konkreten Fall: muslimischen Knabenbescheidung (2012) auslöste. Betroffen waren nicht nur die Muslime, sondern auch die jüdische Gemeinde in Deutschland. Verantwortungsträger aus den betroffenen Religionsgemeinschaften, aber auch aus den Kirchen mobilisierten theologische Expertise, um in einer aggressiv aufgeheizten Debattenlage die innerreligiöse Bedeutung dieser symbolischen Praxis zu erklären und zu rechtfertigen.
Die Bereitschaft öffentlicher Rechtfertigung des Eigenen ist jedoch von religiösen wie nicht-religiösen Überzeugungen zu erwarten. Es widerspräche dem Anspruch auf Fairness, Diskriminierungsfreiheit und Gleichbehandlung, nur religiöse Überzeugungen unter eine besondere Legitimationspflicht zu stellen und ihnen damit per se die Legitimität streitig zu machen – sei es im Zeichen eines Rationalitätsverständnisses, das für Religion keinen Sensus hat, oder im Zeichen eines Generalverdachts der sozialen Unverträglichkeit, der gegen Religion erhoben wird.
Respekt vor weltanschaulicher und religiöser Vielfalt schlägt sich in einer menschenrechtlichen Ordnung nieder, die dem herausfordernden Umgang mit der Pluralität und der Konkurrenz von Überzeugungen und Bekenntnissen einen Rahmen gibt. Sie schützt religiöse und nicht-religiöse Überzeugungen grundsätzlich in gleicher Weise und nimmt die politischen Gemeinwesen in die Pflicht, den öffentlichen Raum so zu entwickeln und zu pflegen, dass die Einzelnen ihre Freiheitsrechte in einer komplexen Gesellschaft individuell und gemeinschaftlich wahrnehmen können.
Wie ist dann aber mit der Forderung nach dem Schutz religiöser Identitäten umzugehen, sei es im Konflikt zwischen Ansprüchen verschiedener religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse oder im Konflikt mit anderen Grundrechtsansprüchen? Entsprechende Forderungen können sich auf die Behauptung traditioneller Mehrheiten beziehen, die in europäischen Kontexten zum Beispiel unter Berufung auf die prägenden christlichen Traditionen mit Formeln wie „Christliches Abendland“, „christliche Leitkultur“ oder ähnliches geltend gemacht werden. Oder es kann der Schutz von Minderheiten eingefordert werden, beispielsweise von den beziehungsweise für die in verschiedene europäische Gesellschaften eingewanderten Musliminnen und Muslimen, für die in Deutschland gegenwärtig erneut antisemitischen Ressentiments (unter anderem von Muslimen) ausgesetzten Juden, aber auch für kleinere Gruppen wie die Bahai oder die Yeziden.
Die Sicherung der Freiheit zur Religionsausübung kann zwar in bestimmten Konstellationen Maßnahmen zum Schutz religiöser Minderheiten erfordern. Dabei ist jedoch Vorsicht geboten gegenüber der Gefahr, unterschiedliche Kategorien – etwa Ethnie, Kultur und Religion – miteinander zu verwechseln oder zu vermischen. Auch wenn es gerade im Zusammenhang mit dem Schutz von Minderheiten empirisch plausible Gründe gibt, eine gewisse Nähe von Religion und Ethnizität anzunehmen, ist eine Ethnisierung des Religionsbegriffs, wie sie zum Beispiel in der Programmatik der AfD in Bezug auf den Islam zu beobachten ist, höchst bedenklich. Religiöse Bekenntnisse und Überzeugungen können in anderer Weise zum Gegenstand kritischer Diskurse werden als ethnische Merkmale: Letztere werden eher „im Modus narrativer Selbstvergewisserung“ (Heiner Bielefeldt) zum Thema. Hingegen müssen die Anhänger eines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses wie auch die Gegner der Religion die grundsätzliche Pluralität von Religion und Weltanschauung ertragen und sich gegebenenfalls der Auseinandersetzung in der Gesellschaft stellen, wollen sie ihren Positionen und Wertoptionen öffentlich Ausdruck und Anspruch auf Geltung verleihen.
Aus dem gleichen Grund darf Religionsfreiheit auch nicht vorschnell und harmonistisch mit Religionsfrieden gleichgesetzt werden. Das Streben nach einer respektvollen Austragung religiöser und weltanschaulicher Differenzen ist etwas grundlegend Anderes als ein Diskussionsverbot „de rebus religionis“, das auf eine Art Tabuisierung hinausliefe. Ein Harmoniekonzept zu postulieren, das eventuell sogar staatlich „behütet“ werden sollte, würde die Freiheit der Religionsausübung gefährden. Prüfstein der Freiheitlichkeit sind sowohl auf Seiten des Staates als auch auf Seiten der Religionsgemeinschaften selbst insbesondere der Umgang mit Mission und Konversion. Religionsfreiheit als Recht der Person schützt grundsätzlich beides. Indem sie auch hier die Freiheit des Subjekts an die erste Stelle setzt, nicht etwa das Interesse einer Religionsgemeinschaft, Mitglieder zu werben, erlegt sie den Religionsgemeinschaften aber Grenzen des rechtlich wie ethisch Zulässigen auf.
Das Recht auf Religionsfreiheit ist in der religiös und weltanschaulich heterogenen Gesellschaft umstritten
Dem Staat obliegt es, die in unserer Verfassung durch Art. 4 GG umschriebenen religiösen Freiheiten zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Sie bilden – so meine These – den grundlegenden Maßstab der Religionspolitik. Diese Verhältnisbestimmung und der entsprechende Auftrag an den Grundrechtsstaat blieben weitgehend unbestritten, solange die Gesellschaft in weltanschaulicher und religiöser Hinsicht als relativ homogen wahrgenommen wurde, die überwiegende Mehrheit ihrer Mitglieder einer christlichen Großkirche angehörte und sich andersreligiöse, a-religiöse oder anti-religiöse weltanschauliche Ansprüche kaum offensiv artikulierten. Erst unter den Bedingungen gesteigerter religiöser und weltanschaulicher Pluralität und Heterogenität sowie der Herausforderung, mit als „fremd“ erfahrenen religiösen Traditionen umzugehen, ist das religiöse Freiheitsrecht verstärkt zum Gegenstand juristischer, politikwissenschaftlicher und ethischer Debatten sowie periodisch aufflammender öffentlicher und immer wieder auch gerichtlicher Auseinandersetzungen geworden. Der grundlegende Charakter des religiösen Freiheitsrechts für eine (zurückhaltende, Freiräume sichernde) Religionspolitik des Staates steht nicht mehr außer Frage.
Entsprechende Debatten sind keineswegs akademische Glasperlenspiele. Sie betreffen die gegenwärtig herausfordernde religionspolitische Lage in Deutschland. Einige Beispiele: Rechtspopulistische Kräfte wollen das Recht auf Religionsfreiheit des deutschen Grundgesetzes einem Kulturvorbehalt unterwerfen; führende Politiker der C-Parteien haben eine generelle staatliche Kontrolle muslimischer Gottesdienste und Predigten gefordert; die in der Tradition des Judentums wie des Islams tief verankerte religiöse Praxis der rituellen Beschneidung von Knaben wurde im Jahr 2012 durch ein Gerichtsurteil kriminalisiert, dessen Begründung die Religionsfreiheit den anderen relevanten Grundrechten generell unterordnet und damit als Grundrecht faktisch außer Kraft setzt. Die Beispiele verdeutlichen: Ansprüche aus dem Recht auf Religionsfreiheit können mit konkurrierenden Grundrechtsansprüchen in Konflikt geraten. Die Wahrscheinlichkeit, dass notwendige Auseinandersetzungen zulasten der Religionsfreiheit ausgetragen werden, scheint unter den Bedingungen stark ausgeprägter weltanschaulicher Pluralität und Heterogenität zu wachsen. Prominente Konfliktlinien betreffen in diesem Zusammenhang unter anderem das Verhältnis von Religions-, Meinungs- und Kunstfreiheit sowie die Frage nach der Deutungshoheit über das, was zum Schutzbereich der Religionsfreiheit gehört.
Religionsfreiheit ist mehr als Meinungsfreiheit
Gegenüber der Religionsfreiheit als Menschenrecht wird immer wieder eingewendet, sie sei eigentlich nur ein Unterfall der Meinungsfreiheit – so wie schon die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus dem Jahr 1971 kein eigenes Recht auf Religionsfreiheit kodifizierte, sondern „selbst die religiösen“ Ansichten dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit zuordnete (Art. 10). In der Aufnahme des Rechtes auf Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit in den Kanon der modernen Menschenrechte, in eine Reihe internationaler rechtlicher Normenkodizes und in viele daran orientierte Staatsverfassungen hat die Erfahrung Ausdruck gefunden, dass diese Unterordnung offenbar zu kurz greift. Dafür spricht der spezifische Charakter des Schutzgutes der Religionsfreiheit: Die Freiheit der Religion und der Weltanschauung werden als grundlegendes Potential für die Selbstentfaltung der Person geschützt. Glaube sowie religiöser und weltanschaulicher Selbstausdruck betreffen die Frage des Menschen nach sich selbst, nach Sinn und Ziel seines Daseins und des Seins im Kern. Damit ist eine Qualität, Tiefe und Dichte der als schutzwürdig behaupteten Überzeugungen angesprochen, die nicht mit dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit identisch gesetzt werden kann. Weit über die Freiheit, eine Meinung zu haben und zu äußern, hinaus geht es lebensgeschichtlich umfassender um die Freiheit, sich auf den existenziellen Ebenen der inneren Überzeugung („forum internum“) wie der kultischen beziehungsweise rituellen und der ethischen Praxis („forum externum“) durch den eigenen Glauben oder die eigene Weltanschauung bestimmen zu lassen und dies auch im Raum des Sozialen nicht verbergen zu müssen.
Für die Glaubens- und Gewissensfreiheit gilt aus eben diesem Grund absoluter Schutz. Der Schutz der Religionsausübungsfreiheit kann hingegen nie absolut sein, denn hier muss mit konkurrierenden Freiheitsansprüchen (Dritter) gerechnet werden, sodass ein fairer Ausgleich zwischen den berechtigten Ansprüchen gesucht werden muss. In einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung sind Freiheitseinschränkungen jedoch streng als Ausnahme von der Regel zu behandeln und unterliegen einer Rechtfertigungspflicht. Sie müssen auf einer gesetzlichen Regelung basieren, transparent, nachvollziehbar und verhältnismäßig sein und auf das geringstmögliche Maß limitiert bleiben. Eine Beschränkung der Religionsausübungsfreiheit darf diese zudem nicht einfach aufheben. Und im Zweifelsfall soll die Regel – also die religiöse Freiheit als Recht jedes Menschen – gelten.
Spektakuläre Konflikte um das Verhältnis der Grundrechte von Religions-, Meinungs- und Kunstfreiheit – oder eher: um die Legitimität religionskritischer Meinungsäußerungen – beschäftigen seit dem Streit um die in der dänischen Zeitung Jyllands Posten (2005) veröffentlichten Mohammed-Karikaturen immer wieder die mediale Öffentlichkeit, in einigen Fällen auch Gerichte. Vor allem mit der Diskussion um die Abschaffung des Blasphemie-Paragraphen kam das Thema auch auf die politische Tagesordnung. Mit der islamistischen Gewalteskalation gegen das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ 2015 hat sich diese Auseinandersetzung dramatisch zugespitzt. Bereits die Drohungen gegenüber dem Autor der dänischen Karikaturen, erst recht aber die Terrorakte von Paris negieren gewaltsam die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit als solche und berufen sich dafür – missbräuchlich – auf die Religion. Sie sprengen damit den menschenrechtlichen Anspruch überhaupt, der nur als unteilbarer Zusammenhang personaler Freiheit(en) denkbar ist. Selbst wenn dieser Antagonismus nicht mit physischer Gewalt beziehungsweise mit Waffengewalt ausgetragen wird (wodurch der angeblich religiöse Anspruch sich nach allgemeinem Dafürhalten ohnehin delegitimiert), liegt darin nicht nur ein Angriff auf die Freiheit der Presse, der Kunst und der Meinungsäußerung. Ebenso handelt es sich um einen Angriff auf die Glaubens- und Religionsfreiheit selbst, weil und insofern ein hegemonialer Anspruch gegenüber den geistigen Freiheiten im Namen einer Wahrheit, im Namen Gottes oder des Propheten behauptet wird.
Konflikte um religiöse Symbole manifestieren das Ringen um gleiche Religionsfreiheit
In den Streitigkeiten darüber, wann und wo religiöse Symbole und kultische Praktiken erlaubt oder verboten sind oder sein sollen, schlägt sich das gesellschaftliche Ringen um gleiche Freiheit der Religionsausübung sinnenfällig und öffentlichkeitswirksam nieder. Seit mehr als zwei Jahrzehnten beschäftigen Konflikte um das christliche Kreuz, um religiöse Kleidervorschriften und andere sichtbare Zeichen der Präsenz von Religion Gesetzgeber, Gerichte und mediale Öffentlichkeit europäischer Gesellschaften: Ob Kreuze und Kruzifixe in Schulen und Gerichtsgebäuden mehrheitlich christlich geprägter Gesellschaften hängen dürfen; ob muslimische Mädchen und Frauen in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen dürfen; ob die Ganzkörperverschleierung muslimischer Frauen toleriert, generell oder in bestimmten Kontexten des öffentlichen Lebens verboten werden soll; wie es sich mit religiösen Kleiderordnungen für Staatsbedienstete in Schulen und Gerichten verhält – und wie in diesen sensiblen Fragen der gleichen Religionsfreiheit Genüge getan wird; ob und unter welchen Bedingungen in westeuropäischen Städten Moscheen – mit oder ohne Minarett – gebaut werden dürfen.
Bei den angesprochenen Streitgegenständen geht es einerseits um die Durchsetzung gleicher Religionsfreiheit und andererseits um die kontextuell zu klärende Reichweite der Religionsausübungsfreiheit im Verhältnis zu beziehungsweise im Konflikt mit konkurrierenden Freiheitsansprüchen. Die Präsenz religiöser Symbole ist ein öffentliches Konfliktthema, das immer wieder durch neue Auseinandersetzungen befeuert wird. Nicht immer werden im Raum der gesellschaftlichen Debatte Lösungen gefunden, die den Ansprüchen aller Beteiligten gerecht werden und sozial befriedend wirken. In entsprechenden Konflikten werden häufig die Gerichte angerufen. Vor allem bei neuartigen Konfliktlagen, bei einer gerichtlichen Neubewertung religiös motivierter Praktiken oder in einer die religionspolitischen Erwartungen der Bevölkerung erheblich verändernden gesellschaftlichen Gesamtlage ist der Gesetzgeber gefragt.
Dass es keineswegs immer und ausschließlich um „den Islam“ als „fremde“ Religion geht, zeigen die vor nationalen und europäischen Gerichten ausgetragenen Streitfälle um Kreuze in Schulen. Die Frage nach dem legitimen Ort der Bekundung religiöser Überzeugungen und Bekenntnisse – sichtbar repräsentiert in ihren Symbolen – wird offenbar in einer religiös und weltanschaulich heterogenen Gesellschaft insgesamt neu gestellt. Sie ist geeignet, die Gemüter, seien sie religiös oder areligiös, gottgläubig oder atheistisch, zu erhitzen und die Gesellschaft zu polarisieren. Allerdings werden religionsbezogene Auseinandersetzungen gegenwärtig häufig durch islamfeindliche Regungen veranlasst oder geschürt, die nicht zwischen Islam und Islamismus unterscheiden, notwendige Differenzierungen in polemischer Absicht negieren und mit simplifizierenden und diskriminierenden Wahrnehmungsmustern populistisch agitieren.
Wenn die Präsenz religiöser Symbolsprache in der Öffentlichkeit zum Streitgegenstand wird, drängt sich die Frage auf, wem die Deutungshoheit darüber zukommt. Darf oder muss, wenn religiöse Selbstdeutungen durch externe Interpretationen in Frage gestellt werden, der Staat in Gestalt der Jurisdiktion als „neutraler“ Dritter dazwischentreten, oder wird damit das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates gerade verletzt? Antworten darauf sind nicht einfach zu geben: Einerseits darf der Staat die Individuen und die religiösen Akteure, die ihre Religion sichtbar auszudrücken wünschen, als erste Interpreten ihrer Ausdrucksformen nicht „enteignen“. Andererseits kann er beziehungsweise können die staatlichen Gerichte als Schlichter gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen um konkurrierende Geltungsansprüche religiöser Selbst- und Fremddeutungen aber auch nicht völlig auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem umstrittenen Symbol verzichten. Alle Beteiligten stehen hier vor hohen Anforderungen, um die zur Debatte stehenden, typischerweise nicht konfliktfrei auszutarierenden Ansprüche im gegenseitigen Respekt vor der grundrechtlichen Gleichheit der Betroffenen zu einem Ausgleich zu bringen.
Die Frage nach der Deutungshoheit über religiöse Symbole verweist schließlich darauf, dass auch Grundrechtsansprüche nicht „freischwebend“ existieren, sondern in konkreten gesellschaftlich-kulturellen Kontexten geltend gemacht werden, die immer auch durch religiöse und/oder weltanschauliche Traditionen mitgeprägt sind, sich im gesellschaftlichen Wandel je neu bewähren oder der Überprüfung aussetzen müssen. Ein – von Konnotationen zum Islam vollkommen unabhängiges – Beispiel für solche Auseinandersetzungen ist der im Herbst 2016 vehement geführte Streit zwischen der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und den Kirchen auf der einen Seite und den Interessenvertretungen des Handels und der Kommunen auf der anderen Seite um Beschränkung beziehungsweise Abschaffung verkaufsoffener Sonntage.
Fazit: Religionsfreiheit fordert den Staat und die Gesellschaft heraus
Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich ein vielschichtiges Bild: Die grundsätzliche Trennung zwischen den Sphären von Politik und Religion, Staat und Kirchen sowie Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, politischen Regelungs- beziehungsweise Durchsetzungsansprüchen und religiösen beziehungsweise weltanschaulichen Wahrheits- und Geltungsansprüchen im modernen Grundrechtsstaat konstituiert einen gesellschaftlichen Raum weltanschaulicher und religiöser Freiheit. In diesem staatlich geschützten und garantierten Raum, in dem geistige Freiheiten öffentlichen Ausdruck finden und in Handeln umgesetzt werden können, treffen Überzeugungen und Bekenntnisse religiöser wie nicht-religiöser Provenienz aufeinander. Mit der im Grundrechtsstaat gegebenen Freiheitsgarantie wird in der Gesellschaft die Möglichkeit gesichert, dass Religionen und Weltanschauungen als Quellen existentieller Orientierung und sinnstiftender Praxen wirken können. Zugleich liegt darin der Anspruch an alle Rechtsgenossen, anerkennend mit der gleichen Freiheit der Verschiedenen umzugehen und in einem dauerhaften Prozess einen zwar kaum spannungsfreien, gleichwohl friedfertigen Ausgleich zwischen konkurrierenden Freiheitsansprüchen und Konzeptionen des Zusammenlebens zu suchen. Das individuelle Recht auf Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit fordert mithin staatliche wie gesellschaftliche Akteure als Verantwortungsträger heraus.
Der Staat ist als Garant des Freiheitsrechts gehalten, um der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger willen gegenüber den Inhalten religiöser Bekenntnisse und weltanschaulicher Überzeugungen grundsätzlich abstinent zu bleiben; gleichzeitig kommt er aber weder als gesetzgebende noch als rechtsprechende Gewalt umhin, zumindest formale Kriterien dessen zu bestimmen, was als Religion oder Weltanschauung unter den Schutzbereich des Rechts fällt, und muss Schutzansprüche oder deren Verweigerung der Sache nach begründen können.
So sehr der Schutz der Religionsfreiheit primär Aufgabe des Rechtsstaates ist, so wenig kann die reale Freiheit des Glaubens und des Gewissens sowie der Religionsausübung allein durch Recht und Gesetz gesichert werden. Die Anerkennung wechselseitiger Rechtsansprüche durch die religiös beziehungsweise weltanschaulich verschiedenen Mitglieder einer Gesellschaft verlangt vielmehr auch von diesen selbst zumindest eine Haltung des gegenseitigen Respekts. Sie ist weder durch das Recht zu ersetzen noch voll und ganz durch Recht einzuholen und zu garantieren. Komplementär dazu sind die Mitglieder einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft sowie die gesellschaftlichen Repräsentationsinstanzen religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen herausgefordert, die geistigen Freiheiten eines jeden Menschen – gleich welchen Bekenntnisses und welcher Überzeugung – zu achten und zur Verwirklichung und Pflege eines gesellschaftlichen Klimas beizutragen, in dem Konkurrenz und Konflikt im wechselseitigen Respekt und in Anerkennung dieser jedem Menschen eigenen, gleichen Freiheit ausgetragen werden können.
Der Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, den Vertreterinnen und Vertretern nicht geteilter Überzeugungen Respekt entgegenzubringen, entspricht die Haltung der Toleranz gegenüber deren nicht geteilten, gegebenenfalls ausdrücklich abgelehnten Überzeugungen, solange diese nicht ihrerseits die Grundlagen eines respektvollen Miteinanders untergraben, wie im Fall von (antireligiöser) Hassrede und jeder Form von Gewaltanwendung gegen Andersglaubende beziehungsweise -denkende.
Insofern gilt grundlegend: An der für moderne westliche Gesellschaften charakteristischen religiösen Pluralisierung muss sich nicht nur die rechtliche Garantie der Religionsfreiheit, sondern auch die den gesellschaftlichen Diskurs tragende Überzeugung vom menschenrechtlichem Charakter der Religions-, Gewissens und Weltanschauungsfreiheit bewähren. Mein sozialethisches Plädoyer für die Verteidigung der Religionsfreiheit als Grundrecht schließt deshalb ein Plädoyer für einen verantwortlichen Umgang aller Gesellschaftsmitglieder mit dem religiösen Freiheitsrecht ein. Damit sind beträchtliche Herausforderungen an ein gesellschaftliches Ethos der Religionsfreiheit verbunden: Es geht um die (sozial-)moralischen Voraussetzungen, die gesichert und gepflegt werden müssen, damit Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit in der weltanschaulich und religiös heterogenen Gesellschaft gelebt werden und gelingen kann. Die Grenze dessen, was in der weltanschaulich pluralen Öffentlichkeit Platz hat, verläuft nicht zwischen Religion und Nicht-Religion, sondern zwischen der Bereitschaft zur respektvollen Konfliktaustragung auf der einen Seite und dem Versuch, das Eigene hegemonial, gegebenenfalls gewaltsam gegen konkurrierende Überzeugungen durchzusetzen, auf der anderen Seite. Weltanschauliche und/oder religiöse Spannungen werden nicht dadurch gelöst, dass irritierende Überzeugungen durch staatliches Eingreifen in die Privatsphäre verwiesen und aus dem öffentlichen Raum verbannt werden. Die Auseinandersetzung um konkurrierende Geltungsansprüche gehört grundsätzlich in den Raum der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.
In weltanschaulich pluralen Gesellschaften, in denen keine selbstverständliche „kulturelle Affinität“ zu einer bestimmten Religion, Religionsgemeinschaft beziehungsweise Kirche vorausgesetzt werden kann, tragen deshalb auch Kirchen und Religionsgemeinschaften ebenso wie nicht religiöse Weltanschauungsgemeinschaften als gesellschaftliche Akteure und als Repräsentanten religiöser Bekenntnisse und Überzeugungen eine Verantwortung für das Gut der religiösen und weltanschaulichen Freiheit. Sie bezieht sich vor allem darauf, ihr jeweiliges Selbstverständnis zumindest in Grundzügen öffentlich nachvollziehbar zu erschließen. Sie müssen darlegen können, wofür die von ihnen repräsentierten Gläubigen den Schutz ihrer religiösen Freiheit beanspruchen – anders gesagt, inwiefern das von ihnen repräsentierte Bekenntnis und dessen (öffentliche) Ausdrucksgestalten schützenswert sind.
An dem in meinem Argumentationsgang mehrfach aufgerufenen Beispiel der Auseinandersetzung um die religiös motivierte Knabenbeschneidung wird dies exemplarisch deutlich: Die Bedeutung einer in der Gesellschaft umstrittenen (und auch in Teilen der betroffenen religiösen Gemeinschaften diskutierten) Praxis erschließt sich für Außenstehende nicht „von selbst“. Was sie für das religiöse Selbstverständnis und die religiöse Zugehörigkeit bedeutet, können authentisch nur die „Insider“ beziehungsweise deren Repräsentanten erschließen. Indem sie sich darum bemühen, können sie zwar nicht damit rechnen, Kritiker zu überzeugen. Es geht jedoch um eine Voraussetzung wechselseitigen Respekts: dem Gegenüber die Möglichkeit zu eröffnen, die Binnenlogik des Religiösen zumindest kennen zu lernen und das, was dem religiösen Selbstverständnis heilig ist, wenn nicht Anerkennung, so doch ein Mindestmaß an Achtung zu verschaffen. Je weniger damit gerechnet werden kann, dass die Gesellschaftsmitglieder einen Bezug zu bestimmten Bekenntnissen und Überzeugungen haben und je weniger eine Gesellschaft „religiös alphabetisiert“ ist, umso wichtiger wird es, dass die religiösen Akteure sich nicht in eine Aura des Geheimnisvollen zurückziehen, sondern versuchen, die Eigenlogik religiöser Überzeugung und ihrer Ausdrucksformen öffentlich zu plausibilisieren, wenn denn der zuvor besprochene Anspruch, Konflikte im Sinne des gleichen religiösen Freiheitsrechtes respektvoll und im Geist der Toleranz gegenüber den nicht geteilten Bekenntnissen zu lösen, eine Chance auf Gelingen haben soll.
Eine erweiterte Fassung dieses Beitrags erschien im März 2018 unter dem Titel „Gleiche Religionsfreiheit. Status und Stellenwert eines komplexen menschenrechtlichen Anspruchs“, in: Daniel Gerster/Viola van Melis/Ulrich Willems (Hg.): Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland, Herder Verlag Freiburg.