Schöpfung oder Evolution? Schöpfung als Evolution?

Teilhard de Chardin – Brückenbauer zwischen Naturwissenschaft und Theologie

Im Rahmen der Veranstaltung "Biblische Tage 2017", 10.04.2017

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Verortung des Themas

 

Trotz aller Vermittlungsbemühungen der alttestamentlichen Exegese von Gen 1 und 2 verharrt das Problembewusstsein selbst eines aufgeweckten Zeitgenossen noch immer bei folgender Alternative: Ich muss wählen zwischen einer mythologieverdächtigen Schöpfungslehre und einer wissenschaftlich erhärteten Evolutionstheorie. Und Jahre nach der vielleicht geglückten schulischen Vermittlung eines angemessenen Verständnisses von Genesis reduziert sich das diesbezügliche Problembewusstsein, sofern es überhaupt noch vorhanden ist, wieder auf diese unglückliche Alternative. Mit anderen Worten: Die meisten Zeitgenossen glauben, sich entweder für „Mutter Natur“ oder für „Gottvater“ entscheiden zu müssen. In diesem Fall glauben sie lieber an eine pure Jungfernzeugung von Mutter Natur denn an eine väterliche Kopfgeburt, wie sie ja vom Zeus in Bezug auf die Göttin Athene berichtet wird.

Geistesgeschichtlich spiegeln sich in dieser Alternative die Positionen und die inzwischen keineswegs überall emotionslos gewordenen Auseinandersetzungen der vorletzten Jahrhundertwende wieder. Es erscheint daher sinnvoll, ergänzend zu den rein exegetischen Bemühungen auch eine die Evolutionstheorie selber einbeziehende theologische Interpretation anzubieten, die dem Verständnis einer Vereinbarkeit von Schöpfung und Evolution dienen kann, zumindest aber zur fachübergreifenden Diskussion anregt. Warum wird hier nun auf Teilhard de Chardin (1881-1955) zurückgegriffen?

  1. Er stand lebensgeschichtlich im Schnittpunkt der historischen Auseinandersetzung um den jeweiligen Geltungsbereich von Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie.
  2. Er war ein ausgewiesener und angesehener Paläontologe, der unter anderem im Ausgrabungsteam mitgewirkt hat, das 1829/29 den Sinanthropus, den „Peking-Menschen“ Homo erectus von Choukoutien entdeckte.
  3. Er war Priester im Jesuitenorden, vermochte also theologische Überlegungen mit großem Sachverstand zu beurteilen.
  4. Seine Ideen von einer Vereinbarkeit und Kompatibilität zwischen Evolutionstheorie und Theologie erleben bei manchen Naturwissenschaftlern derzeit eine Art Renaissance.
  5. Am seinem Werk lässt sich die innerkirchliche Rezeptionsgeschichte einer Theorie studieren, die anfangs als befremdlich oder gar den Glaubenswahrheiten widersprechend eingeschätzt wurde. Diese Rezeptionsgeschichte beginnt bei strikter Ablehnung der Theorie einschließlich der Maßregelung ihrer Vertreter. Dann folgen das Leiserwerden des amtlichen Widerspruchs und das Schweigen zu ehemals inkriminierten Positionen. Und schließlich kommt es zur stillschweigenden unzitierten Übernahme bestimmter Gedanken, wie das im Fall Teilhards bis in die Konzilsdokumente wie „Lumen gentium“ und „Gaudium et spes“ hinein nachgewiesen wurde.
  6. Die theologische Wirkungsgeschichte hält also, nun sogar durch offizielle kirchenamtliche Dokumente bewirkt, auch weiterhin an. Soviel auch unbestreitbar an theologischen und biologischen Erkenntnissen seit Teilhard hinzugekommen ist, auf ihn Bezug zu nehmen, ist auch heute weder aus theologischen, noch aus biologischen Gründen überholt.

 

Geistesgeschichtliche Ausgangssituation

 

Die spannungsvolle geistesgeschichtliche Ausgangssituation für Teilhard lässt sich holzschnittartig so skizzieren: Um die vorletzte Jahrhundertwende standen sich zwei Positionen unversöhnlich gegenüber: Die eine, etwa von Ernst Haeckel (1834-1919) in Deutschland oder von Thomas Huxley (1825-1895) in England vertreten, sah einen emanzipatorisch-naturwissenschaftlichen Alleinvertretungsanspruch in Fragen der Welt- und Lebensentstehung ohne Mitspracherecht der Theologie und Religion vor. Die andere, vertreten zum Beispiel durch die römische Bibelkommission und ihren Entscheid von 1909, sah vor beziehungsweise verlangte, Genesis als in weiten Teilen historisch anzusehen. Der mit Wissenschaftspathos und Emanzipationsimpulsen aufgeladene Evolutionismus verstand sich weithin als kämpferisch-antikirchlich. So formulierte Haeckel zum Beispiel, der als Schöpfer begriffene Gott sei wohl ein „Dr. ing. ersten Grades“. Und angesichts der Unerkennbarkeit Gottes und von der behaupteten Gottebenbildlichkeit des Menschen gewissermaßen rückschließend, Gott müsse dann wohl ein „gasförmiges Wirbeltier“ sein. Seinerseits lehrte er einen Pantheismus, den er mit Schopenhauer als eine höfliche atheistische Verabschiedung Gottes verstand. Erklärtes Ziel seiner antikirchlichen Attacken war das Papsttum insbesondere wegen seines Unfehlbarkeitsanspruches. Ebenfalls angeregt von evolutionistischen Überlegungen und in Konfrontation mit dem christlichen Glauben des 19. Jahrhunderts breitete Friederich Nietzsche (1883/84) seine Gedanken zum Übermenschen aus: „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus (…) Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen.“

In einem vom Kulturkampf gezeichneten deutschen und einem mittels Unfehlbarkeitsdogma um Selbstsicherung bemühten europäischen Katholizismus war eine „sine ira et studio“ geführte sachliche Diskussion der polemisch-provokanten Haeckel‘schen Position und der ihr zu Recht oder Unrecht entnommenen Folgerungen nicht zu erwarten. Eher ist es verwunderlich, dass es über die jede Evolution verwerfende Erklärung des Kölner Partikularkonzils von 1860 und über die Zensurierung von evolutionsfreundlichen Schriften einiger Theologen (Leroy, Mivart, Zahm) sowie über das Dekret der Bibelkommission von 1909 hinaus weder einschneidende lehramtliche Maßregelungen noch definitive theologische Festlegungen gab. Das Jahr 1909, in dem das Dekret der Bibelkommission zur Historizität von Genesis erschien, war das Jahr des hundertsten Geburtstags Darwins und das fünfzigste seines bahnbrechenden Werkes „Über die Entstehung der Arten“. Selbst mit der Enzyklika „Humani Generis“ von 1950 war keine zufriedenstellende Klärung des Verhältnisses von Schöpfung und Evolution gegeben.

 

Biographisch-denkerische Ausgangssituation Teilhards

 

Geboren wurde er 1881, 18-jährig trat er 1899 in den Jesuitenorden ein. Ab 1905 war er Chemie- und Physiklehrer in Kairo; 1911 wurde er zum Priester geweiht, war Sanitätssoldat im Ersten Weltkrieg und erstellte 1920/22 seine Doktorarbeit über „Die Säugetiere des unteren Eozän in Frankreich und ihre Fundstätten“. Von 1923 bis 1946 war sein Forschungsfeld überwiegend China, wo er etwa 20 geologische Expeditionen unternahm. Aber auch in andere Gebiete der Welt führten ihn zahlreiche Expeditionen und Forschungsreisen: 1928 nach Somalia und Haraß, 1930 in die Mongolei (Wüste Gobi), 1931/32 quer durch Zentralasien, 1933 in den Vereinigten Staaten, 1935 Expedition nach Nord- und Zentralindien, 1936 Aufenthalt auf Java, 1938 Expedition durch Burma, 1939 bis 46 war er auch kriegsbedingt durchgehend in Peking; 1951 besuchte er Südafrika, 1953 war er wiederum in Südafrika und Rhodesien im Auftrag der Wenner-Gren-Stiftung.

Neben diesen größeren unternahm er zahlreiche kürzere Reisen in fast alle Winkel der Welt. Teilhard war im Gefolge seiner Wissenschaft ein Weltbürger par excellence. Er gehörte auch zu der Forschergruppe, die 1928/29 den zunächst Sinanthropus pekinensis genannten Homo erectus pekinensis entdeckte. 1937 erhielt er in Philadelphia die Gregor-Mendel-Medaille, 1950 wurde er in die Französische Akademie der Wissenschaften gewählt. Zu seinem Freundeskreis zählten der führende amerikanische Paläontologe George Gaylord Simpson und der englische Biologe Julian Huxley, der auch Präsident der Unesco war. Zeitlebens wurden Teilhard seitens der Kirche und des Ordens Hindernisse in den Weg gelegt. Auch die 1926 verfügte Abordnung nach China war als ein solches gedacht. Man wollte seinen Theorien die Resonanz in Paris entziehen. Ehrenvolle Stellungen, darunter die des Paläontologen am Musée d’Histoire Naturelle, durfte er nicht annehmen und beugte sich im Gehorsam den Anweisungen des Ordens. 1948 war er in Rom, wo seit acht Jahren eines seiner Hauptwerke, „Der Mensch im Kosmos“, zur Zensur vorlag. Man erteilte ihm keine Druckerlaubnis; stattdessen wurde ihm nahegelegt, die Berufung auf einen Lehrstuhl am Collège de France selber abzulehnen. Keines seiner naturphilosophisch-theologischen Werke erhielt zu seinen Lebzeiten eine Druckerlaubnis. Noch 1962, sieben Jahre nach seinem Tod, wurden durch das Heilige Offizium die Oberen religiöser Gemeinschaften, Seminarleiter und Universitätsrektoren aufgefordert, namentlich die jungen Studenten vor den Gefahren, die durch das Werk Teilhard de Chardins entstanden seien, zu schützen. Am Ostersonntag 1955 starb Pierre Teilhard de Chardin in New York an einem Herzinfarkt.

Teilhard fällt nicht mit dem „lieben Gott“ wie mit einer voreiligen Weihnachtsbescherung in die Adventszeit einer naturwissenschaftlichen Nachdenklichkeit ein. Er will „nichts als das Phänomen (…) aber auch das ganze Phänomen“ darstellen. Er beabsichtigt also streng naturwissenschaftlich vorzugehen. Blaise Pascal hatte den Menschen charakterisiert als „ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All“. Teilhard hingegen hat nicht nur das „unendlich“ Große und das „unendlich“ Kleine im Blick, sondern fügt einen weiteren Parameter hinzu, die Komplexität. Diese definiert er folgendermaßen: „Unter dem Begriff Komplexität verstehe ich (…) eine bestimmte feststehende Anzahl von Einzelteilen (gleich ob viele oder wenige) zu einem in sich geschlossenen Ganzen mit bestimmtem Radius vereinigt: wie etwa Atom, Molekül, Zelle, Vielzeller usw. Eine feststehende Anzahl von Einzelteilen, ein in sich geschlossenes Ganzes.“

Diese beiden Definitionselemente „feststehende Anzahl von Einzelteilen“ und „in sich geschlossenes Ganzes“ sind unabdingbar und grenzen komplexe Phänomene von Reihungsphänomenen (zum Beispiel Kristalisationserscheinungen) ab, die nie ein geschlossenes Ganzes bilden, sondern für weitere Reihung offen sind. Mit Blick auf die Physik konstatiert Teilhard dann, dass jedes „Unendliche“ ganz spezielle, ihm eigene Wirkungen beziehungsweise Phänomene aufweist, das „unendlich“ Große die Phänomene der Relativität, das „unendlich“ Kleine, die Quanten­phänomene. Auch dem „unendlich“ Komplexen ordnet er spezifische Eigenschaften und Phänomene zu, zunächst das Phänomen Leben und die mit ihm verbundenen Eigenschaften, dann bei weiterem Anwachsen der Komplexität aber auch das Phänomen Bewusstsein und schließlich Selbstbewusstsein. Um einen Blick für die Dimensionen der Komplexität beim Menschen zu vermitteln, errechnet Teilhard, indem er vom einfachsten Fall des Komplexen, den Atomen, ausgeht und deren Zahl in der Zelle bescheiden auf 1010 schätzt: „Da der Mensch annähernd aus tausend Billionen Zellen (1012) gebildet ist, wird die Zahl der zur Bildung unseres Körpers gruppierten Atome etwas wie 1022, das heißt, wir befinden uns bereits in der numerischen Größenordnung der Galaxien!“

Die „natürliche Kurve der Komplexität“ zeigt einerseits, dass Komplexität notwendige Bedingung für das Phänomen Leben ist und zeigt andererseits, dass die in Verbindung mit dem Leben beobachtbaren Eigenschaften äußerer Art (Assimilation, Dissimilation, Reproduktion) und innerer Art (psychische Phänomene, Geist) sich der Komplexitätszunahme entsprechend vervollkommnen. Teilhard setzt auf die Kontinuität der Materie im Menschen wie im Molekül und fordert daher für alle Erscheinungsformen der Materie neben der Außen- auch eine Innenseite. Sie korrespondiert der in den Naturwissenschaften beobachteten oder prinzipiell beobachtbaren Außenseite, die eben deshalb zugleich Indikator und Gradmesser für die Innenseite sein kann. Dem auf der Außenseite der Dinge naturwissenschaftlich schon feststellbaren Komplexitätszuwachs entspricht gewissermaßen auf der Innenseite der Dinge ein Bewusstseinszuwachs bis hin zum Selbstbewusstsein.

Auf diese Weise ordnet Teilhard auch dem Menschen einen Platz im Kosmos zu, der dessen Ausnahmestellung umschreibt und unter Verwendung naturwissenschaftlicher Parameter auffindbar ist. Auf der Komplexitäts-Bewusstseins-Achse, die gewissermaßen das „Rückgrad“ des gesamten evolutiven Prozesses oder, anders gesagt, der erkenntnisleitende rote Faden, der „Ariadne-Faden“ durch das Labyrinth der evolutiven Prozesse ist, lassen sich nun sowohl der Beginn des Lebens als auch der des Menschseins ausmachen.

 

Die Etappen der Evolution: Geosphäre, Biosphäre, Noosphäre

 

 

Alles beginnt mit einem Komplexitätswachstum schon des Unbelebten, vom Atom bis zur DNS/RNS und den Proteinen. Der Schritt vom Unbelebten zum Belebten wird in dem Moment vollzogen, wo informationstragende und katalytisch wirksame Makromoleküle miteinander interagieren und eine Autoreplikation zuwege bringen. Man könnte sagen: Materie macht sich. Und eben da beginnt Leben, ein Leben, dessen Innenseite von einfachsten gespeicherten Informationen bis zum Bewusstsein reicht. Der nächste entscheidende Schritt, der zwischen noch Tier und schon Mensch liegt, ist aus fossilen Belegen des Menschen selbst nicht so ohne weiteres erschließbar, sondern allenfalls über die von ihm produzierten Artefakte. Teilhard sieht diesen entscheidenden Schritt vollzogen in der Bildung des Ichbewusstseins: „Vom Standpunkt der Erfahrung – dem unseren – ist das Ichbewusstsein, seinem Wortsinn entsprechend, die von einem Bewusstsein erworbene Fähigkeit, sich auf sich selbst zurückzuziehen und von sich selbst Besitz zu nehmen, wie von einem Objekt, das eigenen Bestand und Wert hat: nicht mehr nur kennen, sondern sich kennen; nicht mehr nur wissen, sondern wissen, dass man weiß. (…) Ganz gewiss, das Tier weiß. Aber sicher weiß es nicht, dass es weiß.“

Dieses Ichbewusstsein entstand zwar aus Bewusstsein, aus kontinuierlichen Stufen der Entwicklung desselben, weist aber dennoch einen entscheidenden qualitativen Unterschied auf. Der durchgängig übliche evolutive Schritt in der Kontinuität eines „Voran“ ist zugleich durch die Diskontinuität eines „Empor“, also nicht nur als quantitativer, sondern auch als qualitativer Schritt oder Sprung gekennzeichnet. Teilhard benutzt zur Veranschaulichung des Gemeinten häufiger das Bild von der kontinuierlichen Erwärmung von Wasser. Dort kommt es nach Erreichen von 100 Grad Celsius unter Idealbedingungen auch zu einem Phasenwechsel von flüssig nach gasförmig. Er nennt das einen qualitativen Sprung, der sich da vollzieht, ohne dass dadurch die chemische Beschreibung von Wasser als H2O ihre Berechtigung verlöre. Das Erreichen des Ichbewusstseins, also das selbstbezügliche Denken, stellt Teilhard bedeutungsmäßig auf eine Ebene mit der „Kondensation der chemischen Stoffe der Erde“ und mit der „Erscheinung des Lebens“.

Der Entwicklungsstrahl verläuft demnach so: Die noch tote „Geosphäre“ durchläuft einen materiellen und quantitativ beschreibbaren Komplexifikationsprozess, die „Geogenese“. In diesem quantitativen Prozess kommt es bei Erreichen einer kritischen Größe zu einem qualitativen Sprung, dem ersten Auftreten des Lebens. Dieses Leben umhüllt nach und nach die „Geosphäre“ und bildet eine Sphäre des Belebten, eine pflanzliche und tierische „Biosphäre“ aus. Diese durchläuft ihrerseits einen Komplexifikationsprozess, die „Biogenese“. Dieser Komplexifikationsprozess der Biosphäre manifestiert sich nicht einfach im Größenwachstum der Lebewesen, sondern vor allem in deren informationsverarbeitendem Apparat. Die Nervensysteme werden komplexer (diffuse Nervensysteme, Strickleiternervensysteme, Zentralnervensystem) und ermöglichen als neue Systemeigenschaft das Auftreten des Denkens, ja sogar des ichbewussten Denkens.

Nach Teilhard wäre der Punkt der Unterscheidung zwischen Tier und Mensch genau ein solcher evolutiver Schritt, gewissermaßen das Überschreiten des Rubikon zwischen Bewusstsein und Ichbewusstsein, der Schritt vom Wissen zum Wissen, dass man weiß. Von hier an beginnt nun die Herausbildung einer Sphäre des Denkens, die Herausbildung der „Noosphäre“ und ihre „Noogenese“. Der durch genetische Beziehungen in sich kohärenten erdumspannenden „Biosphäre“ folgt die denkende Sphäre: „außer und über der Biosphäre eine Noosphäre.“

Interessant ist auch, dass fast ein Jahrzehnt bevor 1948 die ersten primitiven Vorläufer von Computern (von Neumann) entstanden, und gleichzeitig mit Zuses erstem Großrechner, Teilhard bereits eine Perspektive für die Weiterentwicklung menschlichen Denkens aufzeigte: „Das Denken, das kunstreich das Organ vervollkommnet, auf dem es beruht.“ Bei all diesen Überlegungen kann man versucht sein zu fragen: Wo bleibt denn die theologische Dimension?

Es gibt also nach Teilhard so etwas wie eine kosmische Drift vom Einfachen zum sich immer weiter steigernden Komplexen. Und diese Drift ist sowohl naturwissenschaftlich, mit dem evolutionstheoretischen und neurophysiologischen Instrumentarium zu erfassen, als auch in den psychologischen Phänomenen von Bewusstsein, Ichbewusstsein und Geist erfahrbar. Das Ziel dieser kosmischen Drift, ihr Woraufhin, nennt er den Punkt Omega. Omega ist seines Erachtens zugleich letzter Schritt in der Konvergenzbewegung der Evolution und doch außerhalb der Evolution, „außerhalb des der Erfahrung zugänglichen Prozesses“. Spätestens hier, so muss man anmerken, endet die Naturwissenschaft und beginnen Deutung und Vision.

Teilhard charakterisiert diesen Punkt Omega so: „Eigengesetzlichkeit, allgegenwärtiges Wirken, Irreversibilität und Transzendenz: das sind die vier Attribute von Omega.“ Gelegentlich und logisch nicht ganz spannungsfrei nennt er Omega auch den „Schlussstein im Gewölbe der Noosphäre.“

Teilhard neigt zur Annahme, die evolutive Sammlung des Weltstoffes werde „durch die Prä-Existenz eines (…) Brennpunktes kosmischer Konvergenz (Hypothese der Vereinigung)“ bewerkstelligt. Dieser präexistente „Brennpunkt kosmischer Konvergenz“, so meint er, sei von allem evolutiven Anfang an wirksam, gerate aber erst einer sich entwickelnden Menschheit mehr und mehr ins Blickfeld. Auf seiner letzten Expedition, im Herbst 1953, fasst er nochmals knapp seine Vision zusammen und erhofft, „dass eine ‚Religion der Zukunft‘ (die als eine ‚Religion der Evolution‘ definierbar ist) bald in Erscheinung treten muss: eine neue Mystik, deren Keim (…) bereits jetzt irgendwo in unserer Umgebung erkennbar sein muss.“ Und in seinem 15 Jahre früher verfassten Hauptwerk heißt es: „Das Ende der Welt: ein Umsturz des Gleichgewichts, der den endlich vollendeten Geist aus seiner materiellen Hülle löst, um ihn künftig mit seiner ganzen Schwere auf Gott-Omega ruhen zu lassen. Das Ende der Welt: entscheidender Augenblick für unsere Verwandlung und unser Emporsteigen, unsere Reife und unsere Befreiung.“

Nicht uninteressant ist die Überlegung des Molekulargenetikers Carsten Bresch, der genau wie Teilhard die Komplexitätszunahme als durchgängiges Prinzip der Evolution sieht, sie allerdings nicht primär in Beziehung setzt zu dem Omega genannten Woraufhin, sondern zu einem an das anthropische Prinzip erinnernden Woher; er nennt es Alpha-Prinzip. Bei Bresch wird der Grund des Universums und sein Sinn gewissermaßen in der Rückschau auf den Anfang, in den Alpha-Bedingungen, gesucht. Bei Teilhard erfolgt eine Sinndeutung des Universums eher aus der Vorausschau auf das Ende beziehungsweise die Vollendung, in der Antizipation des Omega, des in Gott liegenden und in jegliche Gegenwart hineinwirkenden Zielpunktes aller Evolution. Das zukünftige Ende beziehungsweise diese zukünftige Vollendung wird aus der Vergangenheit extrapoliert; so wird die evolutionstheoretische Frage nach dem Woher wichtig für die Erhellung der theologischen Frage nach dem Wohin. Evolution als Komplexifikationsprozess verstanden ist der Weg zu immer mehr Geist, bis dieser zur Kommunikation mit Gott fähig ist.

 

Fazit

 

Das zentrale Anliegen Teilhards ist wohl dies: Er möchte eine Integration von Kosmos-, Natur- und Geistesgeschichte in die Heilsgeschichte oder zumindest eine Deutung von Kosmos-, Natur- und Geistesgeschichte aus heilsgeschichtlicher Perspektive vorlegen. Es geht ihm um eine in Kosmogenese, Biogenese und Noogenese zumindest latent vorhandene, wenn nicht sogar ganz offensichtliche und letztlich auf Gott zielende Intentionalität. Die Auszeichnung des Menschen als Abbild Gottes, wie es Genesis formuliert, oder als Geschöpf mit einem Ichbewusstsein und einem letztlich auf Gott zielenden Transzendenzbewusstsein, wie es Teilhard formuliert, sind durchaus gut miteinander kompatibel.

„Mutter Natur“ und/oder „Gottvater“? – So hatte ich die Frage nach dem Verhältnis von Evolutionsbiologie und Schöpfungstheologie, die Frage nach „Schöpfung oder Evolution“ beziehungsweise die Frage nach „Schöpfung als Evolution“ pointiert. Sie ist aus der Perspektive Teilhards eindeutig so zu beantworten: „Mutter Natur“ und „Gottvater“ beziehungsweise „Schöpfung als Evolution“. Gott macht eine Welt, die sich macht, und zwar evolutiv autopoietisch. Die naturwissenschaftlich erfassbare Außenseite der Dinge weist eine ganz und gar natürliche Herkunft und eine durchgängig materielle Signatur auf. Die mit ihr gekoppelte Innenseite der Dinge weist eine auf Zukunft hin offene geistige Intentionalität in Richtung Gott auf. Der von der Naturwissenschaft als Evolution bezeichnete Prozess ist zwar ganz und gar natürlich, aber um Gottes willen.

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