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Jerusalems Sinnlandschaft mythologisch gelesen

Im Rahmen der Veranstaltung "Mythos und Wahrheit", 10.01.2025

Konstitutiv für die mythische Welterschließung ist nicht nur ein bestimmer Umgang mit Zeit, sondern nicht minder auch ein bestimmter Umgang mit Raum, denn das neuzeitliche Verständnis des homogenen geometrischen Raumes ist ihr fremd. Vielmehr verbindet sie jeden Ort und jede Richtung im Raum mit unterschiedlichen Konnotationen und generiert auf diese Weise eine Darstellung an sich unräumlicher ­ Größen im mythischen Raum.

 

Das Zentrum

 

Das Zentrum des religiösen Symbolsystems Jerusalems war in biblischer Zeit der Tempel. Zwar ist von ihm nur noch die Plattform der herodianischen Zeit erhalten, aber wir verfügen über mehrere detaillierte antike Beschreibungen des Gebäudes und seiner Vorhöfe, die uns sehr genaue Rekonstruktionen erlauben (Bieberstein 2023).

Seiner ältesten Beschreibung in 1 Kön 6 zufolge bestand das angeblich schon von Salomo errichtete Gebäude vor seiner Zerstörung durch Nebukadnezzar II. 587 v. Chr. aus einer kurzen, offenen Vorhalle (ʿûlām) und einer langgestreckten Haupthalle (hêkāl), deren hinteres Drittel durch eine Trennwand aus Zedernholz abgetrennt war, um als Cella (dǝbîr) zu dienen, woraus sich ein dreiteiliger Langraumtempel ergab.

Zusätzlich war das Gebäude von einem inneren Vorhof, dieser von einem äußeren Vorhof und dieser wiederum vom Stadtmauerring umgeben, womit sich zwischen der Cella als mythischem Zentrum der Stadt und dem Profanen außerhalb der Stadt eine stufenweise Sonderung in sieben konzentrischen Zonen ergab, die nicht nur horizontal durch Mauern, sondern teilweise auch vertikal durch Treppen voneinander abgesetzt waren, die zur Cella, zum Allerheiligsten, führten.

Dieses war ein würfelförmiger Raum von etwa 10 x 10 x 10 m, der bis zur Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezzar II. zwei Keruben, die mit ihren Flügeln Yhwhs Thron bildeten, sowie die Lade enthielt, nach seinem Wiederaufbau unter Darius 520–515 v. Chr. aber leer war und dennoch weiterhin repräsentierte, was der Symbolgemeinschaft als zentral und heilig galt.

Mit dieser siebenfachen Ausgrenzung aus seiner profanen Umwelt war aber nur eine rein formale Sonderung vollzogen und noch nicht definiert, was mit dieser räumlichen Ausgrenzung als absolut, unverfügbar und heilig erklärt werden sollte. Daher bedurfte die zunächst nur räumlich vollzogene Sonderung einer inhaltlichen Bestimmung.

Diese fand ihren sichtbaren Ausdruck in einem Bildprogramm, das auf den Türflügeln am Eingang zur Haupthalle, an den Türflügeln zum Allerheiligsten, an allen Innenwänden sowie in der weiteren Ausstattung des Baues entfaltet wurde.

1 Kön 6 zufolge war der Tempel innen mit harzhaltigen Hölzern von Zedern, Zypressen und Aleppokiefern verkleidet, die ein starkes Aroma verströmten, so dass der Besuch des Tempels nicht nur für den Sehsinn, sondern auch für den Geruchssinn mit überwältigenden Eindrücken verbunden sein sollte. Schließlich wiesen auch die neuassyrischen Könige in ihren Inschriften gerne auf die Wohlgerüche ihrer ebenfalls mit diesen Hölzern ausgekleideten Tempel hin. Zudem waren die kostbaren Täfelungen der Wände und die Türflügel zur Cella mit vergoldetem Schnitzwerk verziert, das in endlosen Reihen Keruben, Palmen und Blütenkelche zeigte.

Zwar wurde der Tempel nach der Einnahme der Stadt durch Nebukadnezzar II. zerstört, und das kostbare Schnitzwerk war verloren, doch sollte laut Ez 41,17–20 auch der künftige Tempel der nachexilisch erwarteten Heilszeit wieder mit einer Täfelung mit denselben Motiven ausgekleidet werden. Dabei geht Ezechiel in seiner Beschreibung des Schnitzwerks insofern über 1 Kön 6 hinaus, als er nicht nur Keruben, Palmen und Blütenkelche erwähnt, sondern präzisierend beschreibt, dass die Keruben die Palmen paarweise flankieren sollen und somit das altorientalische Bildmotiv des Lebensbaumes zeigen. So wurde im Bildprogramm des Tempels zum Ausdruck gebracht, was im Zentrum des Symbolsystems Jerusalems stehen sollte: die Fülle des Lebens in seiner Unverfügbarkeit.

Dieses Motiv nahm die Schöpfungsgeschichte Gen 2,4a–3,24 auf, um dem Tempel eine geradezu geniale Deutung zu geben (vgl. Lanfer 2012). Denn der Eingang des Tempels wies nach Osten, zur aufgehenden Sonne, und der Eingang des ­Paradieses, das selber im Osten lag (2,8), ebenfalls (3,24). Zudem zeigten die Reliefs im Tempel den von Keruben flankierten und geschützen Baum des Lebens, und vor dem Eingang des Paradieses zogen nach der Vertreibung der Menschen Keruben auf, um den Baum des Lebens vor unbefugtem Zugriff zu schützen (3,24). So stellt die Schöpfungserzählung einen engen Bezug zwischen Tempel und Paradies her und deutet den Tempel als Repräsentation des Paradieses, in dessen Zentrum die Fülle des Lebens steht und dem verfügenden Zugriff des Menschen zugleich entzogen ist.

Und das äthiopische Henochbuch verheißt im „Wächterbuch“, seinem ältesten Teil, das im 3. Jh. v. Chr. in Jerusalem entstand, dass der Baum des Lebens aus dem Paradies einst, am Ende aller Tage, nach Jerusalem gebracht und am Ort des Tempels eingepflanzt werden wird, um die Sehnsucht aller Gerechten und Demütigen nach der ausstehenden Fülle des Lebens zu stillen (äthHen 25,4–6; Uhlig 1984, 560–561).

Darüber hinaus sollen laut 1 Kön 7 vor dem Tempel vor seiner Zerstörung durch Nebukadnezzar II. ein rundes Kultbecken aus Bronze sowie zehn Kesselwagen aus Bronze gestanden haben. Diese waren mit Wasser gefüllt, um ebenfalls das Leben zu repräsentieren, aber über zwei Meter hoch und damit ebenfalls dem menschlichen Zugriff entzogen.

Zwar gingen auch diese Kultbecken bei der Einnahme der Stadt durch Nebukadnezzar II. verloren, doch verheißt eine Kette prophetischer Texte, deren Bogen sich von der zweiten Tempelvision Ezechiels über weitere prophetische Texte bis zur Offenbarung des Johannes spannt, dass einst, in der erwarteten Heilszeit, im Tempel eine Quelle entspringen und dem ganzen Land Leben vermitteln wird (Ez 47,1–12; ­
Joel 4,18; Sach 14,8; Offb 22,1–2).

 

Die Axis mundi

 

Alle bislang genannten Texte vollziehen nur eine mythische Zentrierung des Heiligen in der Horizontalen, doch wird in der Frage, wo Gott selber anzusetzen sei, eine dritte Dimension der mythischen Verräumlichung in der Vertikale greifbar, die ebenfalls dazu dient, die Unverfügbarkeit des Heiligen sicherzustellen (Bieberstein 2020; 2023).

Einer der frühesten Texte zur Frage, wo Yhwh in dieser Sinnlandschaft anzusetzen sei, ist der sogenannte Tempelweihspruch Salomos, der in 1 Kön 8,12–13 überliefert ist. Dieser hatte noch völlig ungebrochen von einem „Wohnen“ Yhwhs im verhüllenden Dunkel des Tempels gesprochen:

„Yhwh hat gesagt, er wolle im Wolkendunkel wohnen (liškôn).“

Diese rein horizontale Zentrierung Yhwhs begegnet auch noch in späteren biblischen Texten (Jer 3,17; Ez 43,7; Ps 9,2; 46,5–6), doch zeichnet sich schon bei Jesaja erstmals ein Schritt ab, Yhwh in die Vertikale zu entrücken. Denn Jes 6,1 beschreibt eine Vision, die der Prophet im Jahre 736 im Tempel gehabt haben soll:

„Im Jahr des Todes des Königs Usija
sah ich den Herrn (ʾadōnāy) auf einem Thron sitzen, hoch und erhaben,
und der Saum seines Gewandes füllte die Haupthalle.“

Diesen Worten zufolge soll allein schon der Saum des Gewandes Yhwhs die Haupthalle des Tempels ausgefüllt haben, was impliziert, dass Yhwh selbst den Tempel weit überragt.

Vorsichtiger formulierend übernahm das Buch Deuteronomium in der Mitte des 7. Jhs. die akkadische Formel šakkānu šuma „seinen Namen wohnen lassen“, um mit ihr zu sagen, dass Yhwh von seinem Tempel Besitz ergreift (vgl. Dtn 12,5.11; 14,23; 16,2.6.11; 26,1–2).

Eine nur wenig jüngere Redaktion, deren Spur sich vom Buch Dtn bis 2 Kön verfolgen lässt, interpretierte diese akkadische Formel entgegen ihrem ursprünglichen Sinn so wörtlich, dass Yhwh in seinem Tempel nur seinen Namen wohnen lasse, während er selber „im Himmel“ throne (z. B. Dtn 26,15). Und das Tempelweihgebet 1 Kön 8,22–53, das wahrscheinlich zwischen 622 und 609 formuliert und Salomo in den Mund gelegt wurde, lässt ihn anlässlich der Tempelweihe sieben Bitten sprechen, in denen Yhwh sieben Mal explizit „im Himmel“ verortet wird:

„Und erhöre das Flehen deines Dieners und deines Volkes Israel, mit dem sie zu dieser Stätte hin beten; so höre es an der Stätte, wo du wohnst, im Himmel, erhöre es und vergib!“

Mit dieser Reihe von Texten wurde Yhwh zwischen 622 und 609 v. Chr. zum ersten Mal „im Himmel“ angesetzt, was, naturwissenschaftlich gelesen, unsinnig wäre, in der Logik der mythischen Verräumlichung hingegen dazu dient, seine Unverfügbarkeit zu sichern.

So wurde die ältere horizontale Ausgrenzung des Heiligen seit dem 7. Jh. v. Chr. durch eine vertikale Achse ergänzt, die in der Forschung als axis mundi, als „Achse der Welt“, bezeichnet wird und in der Geschichte der mythischen Sinnlandschaft Jerusalems seitdem stets mitgedacht werden muss, um den Tempel und die Fortführung seiner theologischen Traditionen im Felsendom verstehen zu können.

 

Der Westen

 

Der Tempel war, wie fast alle Tempel der Levante, nach der aufgehenden Sonne orientiert, die nach kalten Nächten morgens im Osten aufgeht. Darum ist der Osten im mythischen Denken stets mit Heil konnotiert. Dagegen ist der Westen, wo die Sonne untergeht, nach Cassirer (ECW 12, 116) stets mit
dem Tod verbunden:

„Der Osten ist als Ursprung des Lichts auch der Quell und Ursprung alles Lebens – der Westen ist, als der Ort der sinkenden Sonne, von allen Schauern des Todes umweht. Wo immer der Gedanke eines eigenen Totenreichs entsteht, das in räumlicher Trennung und Absonderung dem Reich der Lebenden gegenübersteht, da wird ihm sein Sitz im Westen der Welt zugewiesen.“

Seit Jerusalem im 8. Jh. v. Chr. nach Westen erweitert wurde, diente das Hinnomtal westlich der Stadt, über dem, von der Stadt aus gesehen, abends die Sonne untergeht, als Nekropole. Die Hochebene westlich des Tales wurde als ʿēmæq rǝʾîm „Ebene der Totengeister“ bezeichnet (Jos 15,8; 18,16), und im Hinnomtal selbst wurde an einer als tōfæt „Tofet“ bezeichneten Stätte (2 Kön 23,10; Jer 7,31–32; 19,6.11–14) ein Kult für mōlæk „Molech“ (hebr.) / „Moloch“ (gr.) praktiziert (2 Kön 23,10; Jer 32,35; passim), eine lokale Spielart ­des syrischen Unterweltsgottes māliku(m) „Malik“.

Dieser Kult fiel mit der zunehmenden Forderung nach der Verehrung von Yhwh allein seit dem 7. Jh. v. Chr. in Misskredit. So polemisiert Jer 2,23 gegen das Treiben „im Tal“, und 2 Kön 23,10 bezeugt in der Liste der Reformmaßnahmen von König Joschija aus dem Jahre 622 v. Chr. die Profanierung der Kultstätte. Allerdings lassen spätere Polemiken gegen den Kult vermuten, dass seine Kultreform zunächst nicht nachhaltig war (Ez 16,20–21; 20,31; 23,37–39).

Als Jerusalem 587 v. Chr. durch Nebukadnezzar II. zerstört und die Oberschicht nach Babylonien deportiert wurde, wurde die Katastrophe rückblickend als Strafe interpretiert und – unter anderem – auf die kultischen Praktiken im Hinnomtal zurückgeführt (Jer 7,30–31; 19,5; 32,34–35), wodurch das Hinnomtal zum Ort der Erinnerung an jene Vergehen wurde, die Jerusalem in den Untergang gestürzt haben.

Dabei erinnern Jer 7,32 und 19,6 nicht nur an vergangene Vergehen, sondern vollziehen in ihren postfestum formulierten Ansagen einer künftigen Umbenennung des Tales vom ʾ bæn-hinnōm „Tal des Sohnes Hinnoms“ zum ʾ haharēgâ „Tal des Schlachtens“ und einer künftigen Verwendung des Tofet als Gräberfeld den entscheidenden weichenstellenden Schritt von einer Konnotierung des Tales vom Ort vergangener Vergehen zu einer Neukonnotierung als Ort künftiger Strafen. Auch Jes 30,33 teilt diesen gedanklichen Schritt und erweitert die Unheilsansage durch Feuer und Tod durch einen Vergleich mit ­
einem Strom ­brennenden Schwefels.

Zwar war Jer 7,32 nur im Rückblick auf die Katastrophe von 587 formuliert, doch ließ sich das Gotteswort, als der Molech-Kult an Bedeutung verloren hatte und die Erinnerung an die Katastrophe von 587 verblasst war, auf alle ausstehenden Strafen beziehen, wodurch der Ort verblasster Vergehen zum Ort ausstehender Strafen schlechthin avancierte. So wird der Unterlauf des Tales im späten 3. Jh. v. Chr. im äthiopischen Henochbuch (äthHen 27; dt. Uhlig 1984, 563–564; vgl. Wacker 1985, 234–257) explizit als „Gerichtsort“ „für die in Ewigkeit Verfluchten“ beschrieben, und das Tal wurde zum Ort der
Erinnerung an künftige Strafen.

Danach zeichnet sich eine dreifache Wandlung ab. Erstens wurde das Tal westlich und südlich der Stadt nach mehreren Umbenennungen und Umschreibungen nicht mehr namentlich genannt; es verlor seinen Namen, und wir wissen nicht, wie es von hellenistischer Zeit an hieß. Zweitens wurde die erwartete Strafe nicht mehr mit dem Tal westlich oder südlich der Stadt verbunden, sondern wurde ortlos. Drittens wurde der hebräische Name ʾ hinnōm „Hinnomtal“ von dem Tal westlich und südlich der Stadt gelöst und in seiner gräzisierten Form géeenna, géna oder génna (Mt 5,22.29–30; 10,28; 18,9; 23,15.33; Mk 9,43.45.47; Lk 12,5; Jak 3,6) als „Gehenna“ zum Topos aller endzeitlichen Strafen, zur „Hölle“ (Bieberstein 2002; 2019).

 

Der Osten

 

597 v. Chr. hatte Nebukadnezzar II. Jerusalem zum ersten Mal eingenommen. Die Stadt wurde nicht zerstört, aber die Oberschicht nach Babylonien deportiert.

Jeremia, der in Jerusalem geblieben war, und Ezechiel, der nach Babylonien verschleppt worden war, riefen gemeinsam die Bevölkerung von Jerusalem auf, keinen Aufstand gegen Babylon zu wagen, denn das wäre katastrophal. Im Jahre 594, also im sechsten Jahr seiner Deportation hatte Ezechiel laut Ez 8–11 eine Vision, in der Gott aus Protest gegen das Treiben der Bevölkerung in Jerusalem den Tempel und die Stadt nach Osten verließ, um die Stadt und den Tempel dem Untergang preiszugeben.

Dadurch wurde für alle, die in Jerusalem lebten, am Himmel über Jerusalem ein virtueller Bogen aufgespannt, der sich von der Stadt zum Ölberg erstreckte und das ausstehende Unheil verräumlichte (Bieberstein 2024b).

Trotz seiner Warnungen wagte die in Jerusalem verbliebene Bevölkerung den Aufstand, und die Folgen waren erwartungsgemäß katastrophal. Denn Nebukadnezzar II. kehrte 587 nach Jerusalem zurück, zerstörte die Stadt und den Tempel und deportierte erneut die Oberschicht der Stadt. Damit war aus der Sicht Ezechiels alles verloren, und weiteres Warnen machte keinen Sinn mehr. Daher vollzog er nun, am tiefsten Punkt der Krise, eine Wende, um von nun an Trost zu spenden. So verkündete er in seiner zweiten Tempelvision, die in Ez 40–46 überliefert ist und ins Jahr 574 v. Chr. datiert wird, dass die Stadt und der Tempel eines Tages wieder aufgebaut werden, dass die Tempelhalle innen mit Reliefs verziert werden, die den Baum des Lebens, flankiert von Keruben, zeigen und Gottes Herrlichkeit über den selben virtuellen Bogen wieder von Osten in die Stadt zurückkehren wird, um von seinem neuen Tempel Besitz zu ergreifen, und eine spätere redaktionelle Hand fügt in Ez 47 an, dass nach der Rückkehr der Herrlichkeit des Herrn in den Tempel im Tempelgebäude selbst eine Quelle entspringen und das Kidrontal hinunterfließen und das Tote Meer in ein Meer des Lebens verwandeln wird, während auf beiden Seiten des Baches Bäume des Lebens sprießen werden. Joel 4,18–21 schließt sich dieser Vision an und schreibt im 4. Jh. v. Chr., dass der Bach sogar das „Tal Schittim“, den Unterlauf des Jordantales, bewässern wird, und Sach 13–14 baut das Bild abermals insofern aus, als sich seinen Worten zufolge das vom Tempel ausgehende „Wasser des Lebens“ teilen und sich nicht nur nach Osten ins Tote Meer, sondern in einem zweiten Arm auch nach Westen ins Mittelmeer ergießen wird.

70 n. Chr. wurde Jerusalem mit seinem Tempel zum zweiten Mal zerstört, diesmal von römischen Truppen unter Führung von Titus, dem Sohn von Kaiser Vespasian. Die jüdische Bevölkerung musste die Stadt verlassen und wurde durch römische Truppen ersetzt. Aber die axis mundi, die Achse der Welt am Ort des ehemaligen Tempels, blieb – zumindest vor dem inneren Auge der Jüdinnen und Juden, die gelegentlich zurückkamen – bestehen und mit ihr die Landschaft, die in den folgenden Jahrhunderten mehrfach neu beschriftet wurde (Bieberstein 2002).

Beim Studium dieser virtuellen Beschriftungen legt es sich nahe, zunächst zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen Stimmen zu unterscheiden, um zu verfolgen, wie sie sich in einem großen gemeinsamen Szenario des Ausstehenden gegenseitig ergänzen.

Nach jüdischen Stimmen wurde erstens der Ortsname „Hinnomtal“, der zwischenzeitlich außer Gebrauch gekommen war, nun auf das Kidrontal östlich der Stadt übertragen und mit diesem gleichgesetzt. Zweitens wurde ebendort nun die Pforte der „Gehenna“, der „Hölle“, lokalisiert (Babylonischer Talmud, Traktate Sukkah 32b und Erubin 19a).

Auch christliche Stimmen wie Eusebius von Caesarea setzten das Hinnomtal explizit mit dem Kidrontal und dieses mit dem „Tal Josafat“ gleich, in dem nach Joel 4 am Jüngsten Tag Gottes Thron aufgestellt werden und Gott Gericht halten wird.

Während jüdische und christliche Quellen nur einzelne Lokaltraditionen nennen, wird in frühislamischen Quellen eine große Synthese greifbar, die jüdische und christliche Vorgaben mit iranischen Motiven zu einer umfassenden eschatologischen Erinnerungslandschaft von erstaunlicher Geschlossenheit verbinden.

Diesen Zeugnissen zufolge werden am Jüngsten Tag auf dem Ölberg alle Auferstandenen versammelt. Dann wird eine Brücke auf dem von Ezechiel vorgezeichneten Bogen vom Ölberg quer über das Tal der Hölle nach Westen gespannt. Während die Frevler von der Brücke in den feurigen Abgrund stürzen, erreichen die Gerechten durch das Goldene Tor, das auf Arabisch den Namen bāb ar-rahma „Tor der Barmherzigkeit“ trägt, die Plattform um den Felsendom erreichen, der 691/692 n. Chr. unter Kalif ʿAbd al-Malik auf der axis mundi errichtet wurde. Sein Fels stammt frühislamischen Stimmen zufolge aus dem Paradies. Augenzeugen zufolge zeigten die Mosaiken des Oktogons außen bis in frühosmanische Zeit Paradieslandschaften auf goldenem Grund und umgeben noch heute innen den Heiligen Fels ringsum mit naturalistischen Palmen und stilisierten Lebensbäumen. Von ihm aus ist Gott nach Vollendung der Schöpfung in den Himmel aufgestiegen, von ihm aus entspringen alle Quellen der Welt, und auf ihm wird am Jüngsten Tag sein Thron errichtet.

Laut Sure 17 wurde Muhammad in einer nächtlichen Vision von Mekka nach Jerusalem entrückt und wieder nach Mekka zurückgeführt. Diese Tradition wurde im frühislamischen Schrifttum im 9. Jh. dahingehend erweitert, dass Muhammad nicht nur von Mekka nach Jerusalem, sondern, in einem zweiten Schritt, auf der axis mundi von Jerusalem aus in den Himmel zu Gott entrückt wurde, um das Gebot der fünf täglichen Gebete zu empfangen. Dabei wurde seine Entrückung zunächst noch einen Steinwurf nordwestlich des Felsendoms lokalisiert, spätestens im 11. Jh. aber auf den Heiligen Fels selbst übertragen. Das ursprünglich arabische, aber nur in einer lateinischen Übersetzung überlieferte Liber Scale Machometi, das „Buch vom Aufstieg Muhammads“, das noch vor 1264 entstanden sein muss (Werner 2007), schildert seine Entrückung bis in den achten Himmel, wo ihm Gabriel das Paradies gezeigt und er von Gott den Koran empfangen hat, bevor er von Gabriel wieder zum Tempel von Jerusalem herab und nach Mekka zurückgeleitet wurde – eine Fortschreibung mythischer Traditionen, in deren Folge auch Dante zwischen 1307 und 1320 seine Göttliche Kommödie schrieb, den topographischen Bezug zu Jerusalem aber aufgelöst hat.

 

Sinn und Sinnlichkeit

 

Diese Gestaltung Jerusalems zu einer Erinnerungslandschaft an das, was aussteht, gründet nicht in einem vorgegebenen Symbolsystem, das erst sekundär in die Landschaft gelegt worden wäre. Vielmehr ist das jüdisch-christlich-muslimische Symbolsystem der spiegelsymmetrischen Zeit in seinen unterschiedlichen konfessionellen Facetten in einer sukzessiven Verräumlichung tragender Optionen in dieser Landschaft entstanden, um Orientierung im Leben und Handeln zu stiften. Doch als dieses Symbolsystem über Jerusalem hinaus nach Asien, Afrika, Europa, Amerika und Australien verbreitet wurde, verblasste seine räumliche Dimension und wurde weitgehend vergessen.

Diese mythische Verräumlichung an sich unräumlicher Größen mag für uns heute zuweilen irritierende Züge tragen, gründet aber in einer Verbindung von Sinn und Sinnlichkeit, die nur mythischem Denken möglich ist. Verglichen mit dieser Leistung mythischen Denkens ist Denken im geometrischen Raum zwar nützlich, aber sinnlos.

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