„Man sieht nur mit dem Herzen gut“ (Antoine de Saint-Exupéry)
Raffaels Schule von Athen – Ein Menschenbild der Renaissance
Zu den wesentlichen Neuerungen der Renaissance gehört das mit ihr erwachte Interesse am Menschen. Katalysatorisch sorgte dafür vor allem die Wiederentdeckung der antiken Philosophen und ihrer Schriften, die sich zur Anthropologie geäußert haben. Dazu zählen vor allem die aus dem Arabischen wiedergewonnenen Werke des Aristoteles sowie der durch Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzte Platon. Diese Wiederentdeckung findet auch künstlerisch einen monumentalen Ausdruck – im Fresko der „Schule von Athen“, das Raffael um 1509/10 in der Stanza della Segnatura des Papstpalastes im Vatikan malte. Es spricht für dessen nachhaltige Wirkung, wenn originalgroße Kopien der „Schule von Athen“ bis heute Bibliotheken, Akademien oder Universitäten in Paris, St. Petersburg oder Regensburg schmücken und zur geistigen Produktivität animieren. Dieses Bild hat schon seinen Auftraggeber Papst Julius II. della Rovere zum Nachdenken aufgerufen und lädt bis heute den Betrachter zum Philosophieren ein. Da das Bild vordergründig stumm bleibt, fallen die Versuche, es zum Reden zu bringen, entsprechend vielstimmig und nicht selten dissonant aus.
Man erblickt über 50 lehrende oder lernende Philosophen, von denen zwei besonders in den Brennpunkt rücken: die Protagonisten Platon und Aristoteles. Die einem antiken Theater ähnliche Szene setzt die beiden Philosophen von allen anderen ab, indem sie über ihnen mehrere hintereinander gestaffelte Rundbögen versammelt, aus deren Tiefe sie nach vorn treten. Wer die beiden Philosophen sind, erfährt der Betrachter nicht über ihre Porträts. Vielmehr sind beide Figuren nur über ihre Bücher identifizierbar, deren Titel auf den Buchrücken zu lesen sind – „Timaios“ und „Etica“. „Timaios“ ist ein von Platon verfasster Dialog, der nach den Zusammenhängen zwischen dem Mikrokosmos Mensch und dem Makrokosmos der Welt fragt, und als das einende Band die Seele erkennt. Platon hält das Buch senkrecht nach oben, wohin auch sein rechter Arm weist – ins Reich der Ideen. Das Buch der „Etica“ ist ein Werk seines neben ihm stehenden Schülers Aristoteles, und meint die nach dessen Sohn benannte „Nikomachische Ethik“. Aristoteles hält das Buch im Unterschied zu seinem Lehrer waagerecht und deutet mit der ebenfalls waagerecht ausgestreckten rechten Hand an, dass ihn das unmittelbar vor ihm erreichbare interessiert, in Sonderheit der Mensch. Die Nikomachische Ethik reflektiert über Fragen der Lebensgestaltung und die Tugenden. Raffael hat diesem Thema die Ausmalung der angrenzenden Fensterwand gewidmet. Beide Philosophen reflektieren demnach über Grundfragen der Philosophie. Sie entsprechen damit den Erwartungen der personifizierten Philosophia, die im Gewölbe über dem Fresko auf einem Thron sitzt und im Hintergrund von zwei Putten begleitet wird. Sie halten zwei Schrifttafeln mit der Aufschrift „cognitio causarum“, die Erkenntnis der Gründe und Prinzipien („causae“). Platon und Aristoteles verfolgen mit ihren Büchern zentralen Anliegen der Philosophie. Beide Themen erscheinen von elementarer Bedeutung, so dass der greise Platon und der junge Aristoteles gleichberechtigt auftreten und sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Ihre Zweizahl ist notwendig, um dem Dialogprinzip zu entsprechen, das Platons Schriften zugrunde liegt.
Hinter Platon und Aristoteles tritt der Lehrer Platons auf, Sokrates. Er ergänzt, wenn auch in der für ihn typischen Art unauffällig, das im Rampenlicht stehende Philosophenpaar zur Trias, die Lehrer, Schüler und Enkelschüler wie die drei Generationen von Vater, Sohn und Enkel vereinen. Mit dem Ältesten, Sokrates, wird bis heute der Beginn der „sokratischen“ Philosophie gleichgesetzt, die sich in bislang ungekanntem Maß dem Menschen widmet. Sokrates, der nie ein Buch schrieb, hat das mündlich getan. Er ist der einzige unter allen hier aufgebotenen antiken Philosophen, der mit dem ins Profil gedrehten Kopf seinem aus der Antike überlieferten Porträt entspricht. Diese Ausnahmestellung kennzeichnet gerade Sokrates in besonderer Weise, heißt doch der wichtigste Grundsatz von Sokrates‘ Philosophieren: Gnoti seauton – erkenne dich selbst! Mit ihm beginnt gemäß Sokrates alles Philosophieren. Als ethisches Gebot schmückte dieses Wort als Inschrift bereits den antiken Tempel des Apoll in Delphi. Dort hatte Pythia, die Interpretin von Apolls Weisungen, den Sokrates als weisesten der Menschen bezeichnet. Die Nähe zu Apoll wird auch auf Raffaels Fresko deutlich, wo Sokrates schräg unterhalb des fingierten Marmorbildes des delphischen Apoll steht. Indem Raffael in letzter Redaktion des Bildkonzepts spontan noch sein Selbstbildnis am rechten Rand einfügte, macht er deutlich, dass auch er dem sokratischen Gebot der Selbsterkenntnis folgen will. Damit erfährt das ursprünglich geplante, im Mailänder Karton erhaltene Historienbild eine unerwartete Öffnung zur Gegenwart: Die Erforschung des Menschen und seines „Motors“, der Seele, ist bis heute ein Rätsel geblieben.
Sokrates war wie alle seine Zeitgenossen im klassischen Griechenland von der Erwartung geprägt, dass einem Menschen schon vom Äußeren her angesehen werden könne, wie es um sein Inneres bestellt sei. Zugleich misstraute er jedoch der Allgemeingültigkeit der Übereinstimmung des Schönen und Guten, der „Kalokagathia“. Wie der römische Baumeister Vitruv in seinen Zehn Büchern im Vorwort zu Buch III ausführt, soll Sokrates die Natur bezichtigt haben, den Menschen unvollkommen geschaffen zu haben, da sein Herz und damit sein Innenleben uneinsichtig sei. So könne er seinen wahren Charakter, aber auch seine Talente und Absichten verbergen. Wären die Menschen mit „durchfensterten Herzen“ („pectora fenestrata“) versehen, so wäre es möglich, ihr wahres Wesen und ihre wirklichen Talente auf einen Blick zu erkennen.
Ob dieser von Vitruv dem Sokrates in den Mund gelegte Ausspruch authentisch genannt werden kann, steht dahin. Als Aussage des Sokrates ist er jedenfalls in den einzigen antiken Traktat über Kunst eingegangen. Sokrates erlebte sogar selbst, was es hieß, aufgrund der äußeren Erscheinung charakterlich vorschnell verurteilt zu werden. Sein silenartiges, ungepflegtes Äußeres gab unter seinen Zeitgenossen Anlass zu der Annahme, Sokrates sei charakterlich entsprechend verkommen. Er musste sich deshalb Hohn und Spott gefallen lassen, sogar öffentlich im Theater. Wie es dagegen um seine tatsächlichen charakterlichen Qualitäten bestellt war, beschreibt Alkibiades in Platons Symposion. Das von Enthaltsamkeit, Hilfsbereitschaft und pädagogischem Bemühen geprägte tugendhafte Betragen seines Lehrers vergleicht Alkibiades mit dem Betragen eines Gottes oder schlicht mit reinem Gold. Auch bei Alkibiades selbst klafften Schein und Sein beträchtlich auseinander. Im umgekehrten Verhältnis zu seinem Lehrer ließ seine strahlende, von jugendlicher Schönheit geprägte Erscheinung entsprechende Tugenden erwarten. Im gleichnamigen (seit Schleiermacher als wahrscheinlich nicht authentisch platonisch geltenden) Dialog „Alkibiades“ deckt Sokrates in seiner unnachahmlichen Art schonungslos auf, wie wenig Alkibiades doch von Politik verstehe, in der er beruflich tätig werden wollte. In diesem Dialog gesteht Sokrates, dass Selbsterkenntnis zum Schwierigsten in den Wissenschaften gehöre. Athens unrühmliches Schicksal im peloponnesischen Krieg ist auf den wiederholten Verrat des Alkibiades zurückzuführen.
Mit seiner Orientierung an Platons Alkibiades-Dialog, die wir hier unterstellen, konnte Raffael in seinem Fresko die Differenzen zwischen äußerem und innerem Menschen mit der Berufung auf Sokrates und Alkibiades gleich doppelt belegen. Der Harnisch des Alkibiades weist nicht nur auf dessen künftige Rolle als Stratege, sondern im übertragenen Sinne auch auf die Unerreichbarkeit seines Innenlebens voraus.
Es liegt nahe, als philosophische Themen von Raffaels „Schule von Athen“ die Psyche sowie die dort zu leistende Selbsterkenntnis anzunehmen. Über Verortung und Bedeutung der Seele herrschte nicht nur unter den Gelehrten des antiken Griechenland größte Uneinigkeit. Marsilio Ficino erkennt in der Seele das, was Mikro- und Makrokosmos, Mensch und Welt zusammenhält. Die Seele als Forschungsgegenstand war geeignet, der Psychologie innerhalb der Philosophie jene erstrangige Bedeutung zuzumessen, die das Dreigestirn von Sokrates, Platon und Aristoteles ihr zugewiesen hat. Andererseits bot die Uneinigkeit der Lehrmeinungen Gelegenheit, die Philosophen je nach Urteil in Schulen wie in Sekten zu spalten und an der Wissenschaftlichkeit der Philosophie zu zweifeln. Wie Sigmund Bonk nachweisen konnte, haben viele der Kirchenlehrer solche Zweifel nachhaltig bestätigt.
Als Luther 1511 nach Rom kommt, ist Raffaels Fresko der „Schule von Athen“ gerade vollendet gewesen. Im Original hat Luther das Fresko allerdings nicht sehen können. Papst Julius II. und sein Palast waren für ihn unerreichbar. Doch dürfte das Philosophenbild zu den Tagesthemen der in Rom versammelten Gelehrten gehört haben. Luther könnte durch den Augustinergeneral Aegidius von Viterbo, der vor dem Papst predigte, darüber informiert worden sein. Luthers Namen assoziierte einer der 1527 am Sacco di Roma beteiligten Soldaten und ritzte „Lutherus“ in das der „Schule von Athen“ benachbarte Fresko von Raffaels Theologiebild der „Disputa“. Anthropologische Probleme interessierten Luther. Er äußerte sich dazu in seiner systematisch angelegten Disputation „De homine“ (über den Menschen), in deren These 21 er feststellt, der Mensch sei „ein Geschöpf Gottes…, zusammengesetzt aus Fleisch und einer anhauchenden Seele, geschaffen am Anfang als Ebenbild Gottes ohne Sünde…“. Bei dieser Ebenbildlichkeit sei es freilich nicht geblieben. In den Thesen 22 und 23 macht Luther dafür den Sündenfall verantwortlich. Er bezweifelt daher, ob weiterhin an der Ebenbildlichkeit der Genesis festgehalten werden könne. Er verschiebt daher dieses Bild in eschatologische Richtung und verbindet sie mit der Auferstehung und der Voraussetzung des Glaubens an Jesus Christus. (WA 39/I, 176, 21) Luthers Anthropologie verbindet sich also mit seiner Rechtfertigungslehre. In diesem Zusammenhang verurteilt er Aristoteles‘ Ethik, wonach gerechtes Handeln genüge, um gerechte Menschen hervorzubringen. Aus dem Missbrauch dieser These war das von Luther kritisierte Ablasswesen und seine Käuflichkeit hervorgegangen. Luthers Verhältnis zu Aristoteles blieb daher kritisch-distanziert. Luther kritisierte an Aristoteles, im Sinnlichen stecken geblieben zu sein. Aristoteles‘ Bücher über die Seele und die Nikomachische Ethik lehnte er ab. Positiver war dagegen sein Verhältnis zu Platon, was angesichts seiner Formation als Augustinermönch auch kaum verwundert. Scharfsichtig urteilte Luther, Platon habe es vermocht, das Sinnliche zu transzendieren. Zu weit ging seine Sympathie mit Platon jedoch nicht. Die von Platon vertretene Unsterblichkeit der Seele lehnte Luther ab, sondern sieht sie, ähnlich wie Aristoteles, als Teil des Körpers, der wie dieser dem Tod auf Zeit – bis zur Auferstehung – anheimfällt.
Im Fresko der „Schule von Athen“ werden die beiden führenden Philosophen ähnlich konsequent voneinander unterschieden. Dem jungen, vornehm gekleideten und auf die vor ihm liegende Realität fixierten Aristoteles ist in der Figur seines Lehrers Platon ein ganz auf das Jenseits ausgerichteter Greis an die Seite gestellt. Für die Verbindung und Versöhnung beider sorgt indessen der rückwärtige Torbogen. Das Durchschreiten desselben gleicht einem Ersatz für das von Sokrates geforderte „durchfensterte Herz“, mit dem ja bereits eine tektonische Metaphorik für das Erkennen des inneren Menschen bemüht wird. Dass mit dem Durchschreiten des Bogens die seelischen Qualitäten offengelegt werden, verdeutlichen die dort links und rechts angebrachten Reliefs. Sie zeigen im Sinne von Platons Dreiteilung seelischer Qualitäten links das vegetative und sensitive, rechts das rationale Verhalten der Seele.
Das Philosophenbild erweist sich als notwendige Voraussetzung für das Theologiebild von Raffaels „Disputa“. Für die Frage der Transsubstantiation war die Aristoteles-Rezeption durch Thomas von Aquin, für den Aufstieg zu Gott die Platon-Rezeption durch Bonaventura unerlässliche Voraussetzung. Beide Kirchenväter finden sich daher, einen Papst (Innozenz III.) rahmend, am rechten Rand des Bildes. Den Aufstieg des Menschen zu Gott beschreibt im 12. Jahrhundert der Augustiner Richard von St. Viktor als Weg vom Sichtbaren zum Intelligiblen: „Per sensibilia ad intelligibilia“.
„Durch das Äußerliche ins Geistliche“: Reformatorenbildnisse zwischen Kunst und Theologie
Martin Luther teilt diese Sicht und ergänzt unter dem Eindruck augustinischer Theologie, welch hoher Rang bei diesem Aufstieg zu Gott dem Wort zufällt: „… weil wir armen Menschen in den fünf Sinnen leben, so müssen wir je wenigstens ein äußerliches Zeichen neben den Worten haben, an das wir uns halten und bei dem wir zusammenkommen können. Doch muß das Zeichen ein Sakrament sein, d.h. es muß äußerlich sein und geistliche Dinge haben und bedeuten, damit wir durch das Äußerliche ins Geistliche gezogen werden, das Äußerliche mit den Augen des Leibes und das Geistliche, Innerliche mit den Augen des Herzens ergreifen.“ (WA 6, 359) Luthers Anthropologie unterscheidet somit konsequent zwischen äußerem und innerem Menschen, sinnlichem Erleben und geistlichem Sehen. Das von Luther geforderte Sehen mit dem Herzen entspricht der Theologie des Apostels Paulus, der von der griechischen Philosophie zweifellos geprägt war. Er schreibt im 2. Korintherbrief: „Darum werden wir nicht müde, sondern, ob unser äußerlicher Mensch verdirbt, so wird doch der innerliche von Tage zu Tage erneuert… [Wir], die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“ (2. Kor. 4, 16-18)
Luthers ausdrückliche Favorisierung eines Sehens mit dem Herzen lässt danach fragen, wie der Reformator zu Bildern und insbesondere zu Bildnissen von Personen stand. Was ihn wiederholt zu Stellungnahmen veranlasste, war der von Karlstadt initiierte Bildersturm in Wittenberg, der zahlreiche Kirchen ihres Inventars beraubte. Luther sah sich deshalb 1522 veranlasst, von der Wartburg, wo er die Bibel übersetzte, in Wittenberg zu intervenieren, um dem zerstörerischen Treiben Einhalt zu gebieten.
Luthers positive Einschätzung zu Bildern erhellt bereits aus seiner Sprache, die selbst bilderreich genannt werden kann. In seiner Vorstellung ergänzen Wort und Bild einander komplementär. Dazu gehören auch die Bildnisse, die von den Reformatoren gefertigt wurden.
Das erste Porträt Luthers, das Lukas Cranach der Ältere 1520 als Kupferstich verbreitete, zeigt den Reformator in Dreiviertelansicht in unprätentiöser Unmittelbarkeit. Nicht als Professor, der er damals längst war, sondern im schlichten Habit des Augustinermönchs lässt Luther sich porträtieren, sichtbar von den Mühen der geistigen Arbeit gezeichnet. Auf Attribute verzichtend, ist der Ausdruck auf den Kopf mit den vortretenden Wangenknochen konzentriert. Ein Sockel trägt eine lateinische Inschrift. Sie lautet übersetzt: „Die ewigen Bilder seines Geistes schuf Luther selbst; das Wachs des Lukas hält seine sterblichen Gesichtszüge fest.“ Mit dieser Feststellung wird der Anspruch des Bildnisses relativiert. Was man sieht, ist also nicht der „ganze“ Luther, sondern sind lediglich die Züge des sterblichen Körpers. Was Luther unvergänglich macht, sind die Früchte seines Geistes – die Schriften, für die kein Maler, sondern er selbst gesorgt hat. Zu dieser Zeit konnte Luther einige seiner wichtigsten frühen Schriften vorweisen, mit denen er der Reformation den Weg geebnet hatte: Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, Von der Freiheit eines Christenmenschen, An den christlichen Adel deutscher Nation.
Etwa ein Jahr später erfuhr dieses Porträt durch den Dürer-Schüler Hans Baldung Grien eine variierte Wiederholung. Es erscheint in seitenverkehrender Spiegelung und ist nunmehr mit Attributen versehen. Das in der Hand gehaltene Buch und der von der Heilig-Geist-Taube ausgehende Strahlenkranz werten das Bild deutlich auf. Das konventionelle Heiligenbild wird auf den Reformator übertragen. Baldungs Luther verweist mit der rechten Hand auf die Bibel als Quelle seiner Erkenntnis. Möglicherweise wird damit auf seine in Worms bewiesene Standhaftigkeit angespielt, als er den Widerruf seiner Schriften ablehnte und unter Berufung auf sein Gewissen Kaiser und Papst provozierte. Es lag nahe, der dadurch erzielten neuen Popularität durch die Produktion von gedruckten Porträts zu entsprechen.
Einen neuen Anlauf, Luther zu porträtieren, unternahm Lukas Cranach 1521. Angeregt durch antike Münzbildnisse, zeichnete er den Reformator erstmals im reinen Profil und versah ihn mit dem Doktorhut, einem Attribut humanistischer Gelehrsamkeit. Wie bei seinem ersten Porträt greift Cranach zum schriftlichen Kommentar, in dem er erneut Luthers theologisches Werk über die eigene Bildkunst stellt: „Dieses sterbliche Bildnis ist Lukas‘ Werk. Das unsterbliche Bild von Luthers Geist hat er selbst zum Ausdruck gebracht.“ Das Bildnis wird offensichtlich danach beurteilt, was auf lange Sicht von einem Menschen bleibt – die Erinnerung an sein Denken, das daher ungleich höher wiegt als sein Aussehen. Der Porträtierte wird also in die Polarität zwischen Vergänglichkeit des Körpers und Unvergänglichkeit des Geistes gerückt. Der Vorstellung nach Unvergänglichkeit der Gedanken arbeitete die Invention des Buchdrucks zu. Die Cranach-Werkstatt wurde zu einer Drehscheibe der reformatorischen Wort- und Bildpropaganda, indem sie sowohl für die Verbreitung der Bücher wie auch der Bildnisse sorgte. Inhalt und Tragweite von Luthers reformatorischer Lehre verbanden sich mit seinem Bildnis zu einer Einheit.
Philipp Melanchthon, Luthers Kollege an der Wittenberger Universität und wichtigster Mitstreiter in der Reformation, wurde von Albrecht Dürer porträtiert, dem er in Nürnberg begegnet war. Ein Jahr, nachdem Nürnberg sich der Reformation geöffnet hatte, erschien 1526 das in Kupfer gestochene Porträt Melanchthons in Halbfigur. Es hält zwischen Profil und Dreiviertelansicht eine unentschiedene Mitte, was den Eindruck des Momenthaft-Zufälligen erzeugt. Die hohe Stirn, die weit geöffneten Augen und die vortretenden Adern im Bereich der Schläfen betonen unverwechselbar individuelle Züge Melanchthons. Wie zuvor Cranach unterscheidet auch Dürer zwischen dem äußeren Bildnis, auf das er selbst verwiesen ist, ohne damit dem inneren Menschen gerecht werden zu können: „Dürer konnte die Züge des Philipp nach dem Leben malen, doch vermochte seine gelehrte Hand es nicht, [auch] seinen Geist wiederzugeben.“
In demselben Jahr 1526 schuf Dürer auch das Porträt des Erasmus von Rotterdam, dessen griechische Übersetzung des Neuen Testaments die Grundlage für Luthers deutsche Bibelübersetzung dargestellt hatte. Im Unterschied zu den Reformatorenbildnissen wählte Dürer zur Wiedergabe des Humanisten und Theologen Erasmus ein mehr als doppelt so großes Druckformat. Es ermöglicht einen Einblick in Erasmus‘ Gelehrtenstube. Der im Profil gesehene Erasmus sitzt in der Gelehrtenkleidung mit Kopfbedeckung an seinem Schreibtisch. Im Vordergrund liegen als Belege seiner Produktivität vier Bücher auf einer Fensterbank, von denen das senkrecht zum Betrachter geöffnete wie eine Brücke zwischen Betrachter und Bildraum vermittelt. An der rückwärtigen Wand hängt frontparallel ein Bilderrahmen, der zwei Inschriften aufnimmt. Die erste ist lateinisch und lautet übersetzt: „Das Bildnis des Erasmus von Rotterdam hat Albrecht Dürer nach dem Leben gezeichnet.“ Die zweite Inschrift darunter wechselt ins Griechische und schränkt auf schon bekannte Weise ein: „das bessere [umfassendere] Bild weisen seine Schriften auf.“ Diese Inschrift hatte Dürer von einer Ehrenmedaille übernommen, die Quentin Massys 1519 auf Erasmus geprägt hatte.
Die zweierlei Inschriften sowie ihre Anbringung auf dem sonst leeren, sich gleichsam sukzessiv und vor allem sprachlich unterschieden füllenden Bilderrahmen bedeuten in ihrer Variation eine offenkundige Hommage an den großen Humanisten. Die Wahl der Sprache differenziert dabei zwischen dem Kommentar in Latein und den auf Griechisch zitierten Schriften. Die halb leere, halb beschriftete Form der gerahmten Tafel bemüht den von Platon (Theaitet ) und Aristoteles („De anima“, III, 4) angestellten Vergleich der Seele mit einer bei Geburt noch leeren Wachstafel („tabula rasa“), die nach antiker Auffassung im Lauf des Lebens nach und nach beschrieben wird. Die ungleich schlichteren, auf die Person beschränkten Reformatorenbildnisse, die sich mit dem Verweis auf die Schriften des Porträtierten begnügen, haben die Unterscheidung zwischen dargestelltem Körper und nicht darstellbaren Schriften vorgezeichnet. Immerhin hat Dürer in Form der Tafel dem Aspekt des Seelischen Ausdruck verliehen und mit dem Einblick in die Gelehrtenstube den wissenschaftlichen Kosmos umrissen, der sich mit dem Namen des Erasmus verbindet. Mit dem Wechsel von Griechisch und Latein bemüht Dürer allerdings eine Methode, die Erasmus in seinem „Lob der Torheit“ von 1509 als Attitüde der Philosophen geißelte: „Es scheint, dass sie [die Philosophen] auch in dieser Beziehung unsere zeitgenössischen Redner nachäffen, die sich rundweg für Götter halten, wenn sie wie die Blutegel doppelzüngig auftreten, und sie halten es für eine Meisterleistung, in lateinische Reden immer wieder einige griechische Wörtchen wie Glitzersteine einzustreuen, selbst dort, wo diese völlig fehl am Platz sind…“ Trotz des erkennbar ungewöhnlichen Aufwands, den Dürer für das Humanistenporträt trieb, war Erasmus mit dem Ergebnis unzufrieden, da er sich von Dürer nicht gut getroffen fühlte.
Das in der Druckgraphik mittlerweile etablierte Reformatorenporträt erlebte in der Tafelmalerei durch die Cranach-Werkstatt eine neue Variante, die wohl die besondere historische Situation spiegelt. Beim Reichstag zu Augsburg 1530 musste Melanchthon die Anliegen der Reformation ohne Luther vertreten. Sie finden sich zusammengefasst in der von Melanchthon mitverfassten Confessio Augustana. Die ihr zugrunde liegende Zusammenarbeit von Luther und Melanchthon aufgreifend, konzipierte die Cranachwerkstatt in unterschiedlichen Formaten ein Doppelbildnis beider Reformatoren, das in großen Stückzahlen seriell hergestellt wurde. Den Typus des Doppelbildnisses hatte Cranach bereits 1529 auf Luther und seine Frau Katharina von Bora bezogen, um das ungewöhnliche Ereignis ihrer damals vollzogenen Heirat mit einem Bild publik zu machen. Im Jahr 1532 bot sich das Doppelporträt an, um festzuhalten, dass die Reformation nicht das Anliegen eines Einzelnen war.
Vor hellblauem Hintergrund erscheinen beide Halbfigurenporträts auf zwei 19×15 cm kleinen Tafeln. Sie sind im Dreiviertelprofil erfasst und symmetrisch einander zugekehrt und tragen schwarze Schauben, Luther zusätzlich ein Barett als Teil seiner Amtstracht, während der 14 Jahre jüngere Melanchthon barhäuptig mit rot-blonden Haaren gezeigt ist. Im Hintergrund erscheint über Luther in Antiquabuchstaben ein Zitat aus dem Propheten Jesaia. Übersetzt heißt es: „in Schweigen und Hoffnung wird eure Stärke liegen“ (Jes. 30, 15) und entspricht Luthers Devise. Damit greift auch das Tafelbild des Reformators zu einem Text, um das Bild mit einer verbalen Botschaft zu verbinden. Im Unterschied zu den gestochenen Ansichten der Reformatorenporträts sorgt der biblische Text für ein redendes Porträt. Es wird deutlich, wer von beiden Reformatoren der Wortführer ist. Melanchthons Bild begnügt sich mit dem Entstehungsdatum 1532 und Cranachs Signatur, der geflügelten Schlange. Beides fehlt auf der Luther-Tafel, was die einheitliche Konzeption beider Bilder verdeutlicht.
Mit beiden Händen hält Luther ein geschlossenes Buch und demonstriert mit dem fest auf Melanchthon gerichteten Blick jene Erwartung und Entschlossenheit, die das Wort des Propheten Jesaja verheißt. Zwischen beiden Freunden und Kollegen gibt es nur das eine Buch, das Luther an Melanchthon weiterzugeben scheint. Ungeachtet aller Unterschiedlichkeit ihrer Naturen, Lebensalter und Charaktere ist die davon unberührte theologische Übereinstimmung umso mehr zu betonen. Sie kommt in der vor allem von Melanchthon verfassten Confessio Augustana zum Ausdruck. Die zwischen beiden Freunden bestehenden beträchtlichen charakterlichen Unterschiede hat Luther 1529 wie folgt registriert: „Ich muss Klötze und Stämme aushauen, Dornen und Hecken weghauen, die Pfützen ausfüllen und bin der grobe Waldrechter, der die Bahn brechen und zurichten muss. Aber Magister Philipp fährt säuberlich und stille daher, baut und pflanzt, sät und begießt mit Lust, nachdem Gott ihm seine Gaben reichlich gegeben hat. Ich hab Magister Philipps Bücher lieber denn die meinen…“
Äußere Differenz und innere Übereinstimmung setzen eine entsprechend differenzierte Wahrnehmung voraus. Der Typus des Doppelporträts sanktioniert im Bild das Dialog-Prinzip, zu dem Melanchthon sich in seiner „Oratio“ von 1543 grundsätzlich bekannte: „Wir sind dazu geboren, uns im Gespräch einander mitzuteilen.“
Die Faktur beider Tafeln lässt anhand der Konturverläufe in der Vorzeichnung erkennen, dass zugunsten der seriellen Herstellung für beide Figuren Schablonen angewandt wurden. Als der ältere Sohn Hans Cranach auf einer Italienreise 1537 stirbt, spricht ein Nachruf von über 1000 Luther-Porträts, die er allein verfertigt habe. Es ist also nicht übertrieben, wenn die Cranach-Werkstatt als „Bilderfabrik“ bezeichnet wird. Das damit inaugurierte Doppelporträt von Luther und Melanchthon fand weite Verbreitung und Nachfolge in Kopien bis ins 20. Jahrhundert.
Der Reformationsaltar in Wittenberg und seine Bildnisse
Der 1547 vollendete Wittenberger Reformationsaltar, ein Werk von Lukas Cranach d. Ä., zeigt die Reformatoren Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen, von denen jeder einer liturgischen Funktion nachkommt: Luther predigt, Melanchthon tauft und Bugenhagen nimmt die Beichte ab. Der runde, jedoch nicht zum Kreis konsequent geschlossene Abendmahlstisch, an dem Christus mit den zwölf Jüngern Platz genommen haben, betont die Bedeutung des Abendmahls als Mitte der Gemeinde und Kirche. Nur für diese Szene wird das Neue Testament zitiert, um mit solchem Verweis das neue evangelische Sakramentsverständnis zu demonstrieren. Zugleich werden unter die Figuren zeitgenössische Porträts integriert. So erscheint unter den Jüngern Luther als bärtiger Junker Jörg, der im Schutz der Wartburg seine Bibelübersetzung anfertigen konnte.
Im Vollzug der auf den Flügeln dargestellten Sakramente Taufe und Beichte entspricht das Programm einer Dreizahl von Sakramenten, wie Luther sie zunächst geplant hatte. Aus dieser Dreizahl schied Luther in seinem Katechismus 1529 die Beichte aus, da für sie kein biblischer Beleg und kein symbolisches Zeichen zu finden war. Das minderte in Luthers Augen jedoch keineswegs die Bedeutung der Beichte, im Gegenteil: er meinte, das ganze Leben müsse einer Beichte gleichen. Bis heute sind die lutherischen Beichtstühle in der Wittenberger Marienkirche auf der Rückseite des Reformationsaltars erhalten geblieben.
Das Querrechteck der Predella zeigt einen Gottesdienst mit dem auf der Kanzel predigenden Martin Luther. Zum Zeitpunkt der Vollendung des Altars war Luther bereits verstorben. Zwischen ihm und der Gemeinde steht ein Christus am Kreuz unmittelbar auf dem Boden. Dieser Kruzifixus bildet demnach keinen Ausstattungsgegenstand der Kirche ab, vielmehr den ins Bild umgesetzten Gegenstand von Luthers Predigt. Zugleich bedeutet der Gekreuzigte die Realpräsenz Christi im Abendmahl, an das im Bild über der Predigt erinnert wird.
Cranach übersetzt ins Bild, was Luther in seiner Schrift ‚Wider die himmlischen Propheten‘ von den Bildern und vom Sakrament 1525 als ein vom Herzen ausgehendes inneres Bild beschrieben hat: „… wenn ich Christum höre, so entwirfft sich ynn meym hertzen eyn mans bylde, das am creutze henget, gleich als sich meyn andlitz naturlich entwirfft ym wasser, wenn ich dreyn sehe. Ist nu nicht sunde sondern gut, das ich Christus bilde ym hertzen habe, warumb sollts sunde seyn, wenn ichs yn augen habe? Syntemal das hertze mehr gilt denn die augen und weniger soll mit sunden befleckt seyn denn die augen, als das da ist der rechte sitz und wonunge Gottes.“ (WA 18, 83).
Die Realpräsenz Christi unterstreicht das weiße Lendentuch Christi, dessen Wehen die pneumatische Energie des lebendigen Christus spiegelt. Er ist auf Abendmahl und Predigt zu beziehen, der selbst sakramentale Bedeutung zukommt. Auch die übrigen Theologenporträts werden erst durch den Vollzug ihrer liturgischen Funktionen begründet. Im Unterschied zum Abendmahl, das den Blick ins Neue Testament lenkt, werden Taufe, Beichte und Predigt mithilfe der Porträts von Melanchthon, Bugenhagen und Luther in die Gegenwart projiziert.
Der demonstrative Charakter des Wittenberger Reformationsaltars ist umso bemerkenswerter, als er einer Restitution des Bildes an einem Ort gleichkommt, der 25 Jahre zuvor durch Karlstadts Bildersturm entweiht worden war.
Dürers „Vier Apostel“ – ein Heiligenbild im profanen Umfeld
Auch außerhalb der Kirche konnte das reformatorische Bildnis eine unverwechselbare Funktion übernehmen. Dürers „Vier Apostel“ stellen ein Diptychon dar, das der Maler seiner Heimatstadt Nürnberg ins Rathaus zum dauerhaften Verbleib 1526 gestiftet hatte. (Abb. 10) Die beiden über zwei Meter hohen Tafeln waren also von vornherein für die politische Öffentlichkeit bestimmt.
Der Name „Vier Apostel“ ist weder authentisch noch korrekt, handelt es sich doch mit Johannes und Markus um zwei Evangelisten, mit Petrus und Paulus um zwei Apostel. Das Quartett in dieser Lesart anzusprechen, wird bereits durch die unterschiedlichen Altersgruppen mit je zwei Jungen und Alten nahegelegt. Sie stehen auf dem Fundament des Evangeliums, indem jeder von ihnen mit eigenen Zitaten aus dem Neuen Testament zitiert wird. Nach Arndt und Moeller sind in dem Quartett die „Hauptautoren des Neuen Testaments“ zu erkennen, die in dieser Konstellation zuvor noch nie gemeinsam abgebildet waren. Dürer begründete mit ihnen demnach eine neue Ikonographie, die deshalb auch im Wortsinne „evangelisch“ zu nennen ist, weil das Neue Testament das Fundament der vier Figuren darstellt. Die vier Bibelstellen stimmen in ihren Botschaften weitgehend überein oder ergänzen einander. Zentrales Thema ist die Verteidigung der Wahrheit des Glaubens vor der Gefahr falscher Propheten. (1. Joh. 4, 1-3, 2. Petrus 2, 1-3, 2. Tim. 3,1-2, Mk. 12, 38-40)
In Nürnberg, wo man 1524/5 tatsächlich mit dem Wiedertäufertum konfrontiert war, konnte diese Botschaft als aktuelle Warnung verstanden werden. Sie umzusetzen erforderte es, Wahres und Falsches zu erkennen. „Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: ein jegerlicher Geist, der da bekennt, dass Jesus Christus ist in das Fleisch gekommen, der ist von Gott; und ein jeglicher Geist, der da nicht bekennt, dass Jesus Christus ist in das Fleisch gekommen, der ist nicht von Gott…“ (1. Joh. 4, 1-3) Der Verfasser dieser Worte, der Evangelist Johannes widmet sich intensiv dem Lesen der Bibel. Der mit dem Schlüssel ausgewiesene Petrus erinnert an das Amt des Bindens oder Lösens von Schuld (nach Mt. 16, 19), nimmt also die Beichte ab. Das Lesen in der Bibel und die Abnahme der Beichte zählen zu den geistlichen Ämtern innerhalb der Kirche.
Auf der rechten Tafel werden Warnungen vor Heuchlern (2. Tim. 3, 1-2) und Schriftgelehrten (Mk. 12, 38-40) als Vorboten der Endzeit ausgesprochen. Der eindringlich prüfende Markus und der mit dem Schwert bewaffnete, furchterregend streng „um die Ecke“ blickende Petrus zeigen sich auf Abwehr der Bedrohung eingestellt und verkörpern die Ecclesia Militans. Die räumliche Aufstellung der beiden sich schneidenden Zweiergruppen aus Evangelisten und Aposteln gleicht einem diagonal gestellten Kreuz, dem griechischen „X“ und Anfangsbuchstaben des Namens Christus. Die Vier stehen also gemeinsam ein für den im Symbol des Buchstabens „X“ unter ihnen gegenwärtigen Christus. Dem Wort des Johannes zufolge ist Christus jene Wahrheit, die gegen religiöse Unterwanderung verteidigt werden soll.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Blick auf den Menschen aus „evangelischer“ Perspektive nicht primär vom Augenblick, sondern von der Ewigkeit, nicht vom äußeren Bild des Porträts, sondern vom inneren Bild des Herzens her bestimmt wird. Er geschieht „sub specie aeternitatis.“ Der vergänglichen Gestalt werden die in Wort und Schrift überlieferten Gedanken als unvergänglich und wertvoll gegenübergestellt. Eine Jenaer Ausgabe von Luthers Gesamtausgabe seiner Werke (Wittenberg 1567) aus dem Regensburger Pfarrarchiv weist auf den Buchrücken aller 12 Bände eine Inschrift auf, die in 12 Silben den Titel des gesamten Corpus ergeben, der als Wort-Gebäude den Porträts eines Cranach oder Dürer konkurrierend gegenübergestellt werden können:
„D. Mar=tin=Lu=thers=Deut=sche=Wit=ten=bergi=sche=Schrif=ten.“
Mit der Lutherrose fand seit 1519 ein Symbol Verwendung, mit dem Luther und seine Verleger sich gegen Plagiate seiner Schriften wehrten. Sie ging sogar in die Baudekoration ein. Im Zentrum der Rose befindet sich ein Herz, in das ein Kreuz einbeschrieben ist. Die mit dem Namen Sokrates verbundene Utopie eines „pectus fenestratum“ hat damit immerhin als Symbol eine ins Christliche gewendete Einlösung gefunden. Jörg Traegers These, wonach die Renaissance nachhaltig von konfessionellen Zügen geprägt war, erfährt damit eine weitere Bestätigung. Sie gilt nicht nur für Rom, sondern auch für Wittenberg.