I.
Die Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau im Juni 1922 hatte Thomas Mann nachhaltig schockiert. „Welche Finsternis in den Köpfen dieser Barbaren! Oder dieser idealistisch Verirrten“, schrieb er zwei Wochen nach dieser Tat an den befreundeten Literaturwissenschaftler Ernst Bertram. Der politische Mordanschlag auf den Reichsaußenminister war von Mitgliedern der rechtsextremen Organisation Consul verübt worden und reihte sich ein in eine Kette terroristischer Anschläge, die die junge Republik nicht zur Ruhe kommen ließ. Die Ermordung Rathenaus traf erstmals ein amtierendes Regierungsmitglied und wühlte die Öffentlichkeit besonders auf. Auch Thomas Mann öffnete dieses Ereignis noch einmal weiter die Augen für den prekären Zustand, in dem sich die junge Republik befand.
In seinem Brief an Ernst Bertram äußerte er die Ansicht, die Republik sei doch immer noch Deutschland und auf dem Boden der Demokratie vermöge die notwendige neue Humanität „nicht schlechter gedeihen, als auf dem des alten Deutschland.“ Wer sich gegen beides Stelle, der scheue im Grunde nur Worte. Eine substantiell begründbare Ablehnung ließ Thomas Mann nicht gelten. Er sah vielmehr durch diesen Staat, der „in unser aller Hände gelegt ist“, eine einmalige historische Gelegenheit für Deutschland gekommen, die es zu nutzen gelte. Wenn man bedenkt, mit welcher Vehemenz der Schriftsteller während des Ersten Weltkriegs die deutsche Kultur gegenüber der westlichen Zivilisation verteidigt hatte, wird deutlich, worin genau für ihn diese einmalige historische Situation bestand. Nachdem die deutsche Kultur und das Deutsche Reich nicht wie befürchtet im Krieg untergegangen waren, besaß das Land nun die Chance, wieder seine Kultur zur Entfaltung zu bringen und damit Deutschland einen Weg in die Zukunft zu ermöglichen. Doch gerade das gewaltsame Opponieren gegen die Republik widersprach dieser Gelegenheit und gefährdete sie. Thomas Mann fühlte sich hiervon persönlich betroffen. „Ich leide unter der Verzerrung des deutschen Antlitzes“, schrieb er Ernst Bertram.
Wie ernst und stark dieses Leiden war, wird deutlich, wenn man die Konsequenzen betrachtet, die Thomas Mann hieraus zog. Er entschied sich dazu, einen geplanten Geburtstagsartikel zu Gerhardt Hauptmanns 60. Geburtstag „zu einer Art Manifest“ zu gestalten und als Rede in Berlin vorzutragen. Dieser Schritt war durchaus ungewöhnlich für den Schriftsteller. Bisher hatte er noch keinen derartigen politischen Auftritt angestrebt.
Thomas Manns Bekenntnis zur Republik löste bekanntlich ein Echo der Zustimmung und gleichzeitig der Ablehnung aus. Schlagartig veränderte sich seine Rolle. Für die Gegner der jungen Republik war er nun ein verloren gegangener Verbündeter. „Mann über Bord“ und „Saulus Mann“ lauteten die Titel in jenen Zeitungen, die die Enttäuschung und Empörung auf konservativer bzw. rechter Seite zum Ausdruck brachten. Gerade hier hatte man bislang trotzt verschiedener Vorbehalte Thomas Mann zur eigenen Seite zugehörig geglaubt.
Wer die Betrachtungen eins Unpolitischen gelesen hatte, jenes opulente Werk, das während des Ersten Weltkriegs entstanden und im Herbst 1918 erschienen war, der konnte sich an ablehnende Äußerungen Thomas Manns gegenüber der Demokratie, der Republik und der Politik erinnern. Mitunter waren sie äußerst scharf formuliert und geprägt von Trotz, Provokation, Polemik, Wut und Einseitigkeit. In dieser Schrift waren Sätze zu finden wie: „Ich will die Monarchie“ oder „Ich will nicht die Parlaments- und Parteiwirtschaft, welche die Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik bewirkt“. Die Betrachtungen eines Unpolitischen waren ein Buch, das sich auch mit solchen energischen Aussagen gegen die Verwestlichung wehrte, gegen die mit ihr verbundene völlige Demokratisierung, Politisierung und Ökonomisierung. Doch man wird nicht übersehen können, dass solche vehementen Aussagen sogleich auch wieder wenige Seiten weiter relativiert werden. Dann heißt es plötzlich: „ich bin nicht Partei, wahrhaftig, ich bekämpfe nicht die Demokratie.“ In den zustimmenden Reaktionen auf dieses Buch gab es entsprechend auch Vorbehalte. Aber sie spielten nach Kriegsende nur eine untergeordnete Rolle. Bei der Rezeption dieser Schrift verfolgte man primär die eigenen politischen Interessen und sah in Thomas Mann einen brauchbaren konservativen Verteidiger Deutschlands. Doch 1922 schien plötzlich alles anders. Hatte Thomas Mann seine bisherigen Überzeugungen aufgegeben und die Seite gewechselt?
Auf den ersten Blick wird der Widerspruch deutlich, der durch die Republik-Rede entstanden war. Thomas Mann selbst war jedoch anderer Auffassung. Er sah in seinem Bekenntnis zur Republik keinen Bruch zu seinen bisherigen Überzeugungen. Es sei „die gerade Fortsetzung der wesentlichen Linien der Betrachtungen“, äußerte er im Dezember 1922 gegenüber seiner mütterlichen Freundin Ida Boy-Ed. Wie lässt sich also diese Diskrepanz erklären? War Thomas Mann doch kein überzeugter Anhänger der Republik geworden? Wenn man weiter blickt, zeigt sich, dass das Bekenntnis keine Sache des Augenblicks war. Seit seiner Republik-Rede hat sich der Schriftsteller auf vielfältige Weise als Fürsprecher und Verteidiger der Republik gezeigt und sich mit großer Energie für diese erste Demokratie eingesetzt. Sogar sein literarisches Werk steht in einem engen Bezug zur Entwicklung der Weimarer Republik und zeigt einen politischen Gehalt, der sich nicht ausblenden lässt. Warum also engagierte sich Thomas Mann für diese Republik? Wie stand er zur Demokratie? Und welchen eigentlichen, tiefergehenden Grund gab es dafür, dass er sich 1922 unter dem Eindruck der Ermordung Walter Rathenaus dazu entschloss, ein öffentliches Bekenntnis abzulegen?
Wenden wir uns zur Beantwortung dieser Fragen zunächst Thomas Manns Haltung vor, während sowie in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg zu, um genauer verstehen zu können, wie sich sein Verhältnis zu Politik und Demokratie in dieser Zeit bereits schrittweise veränderte. Hieran anknüpfend werden wir anschließend anhand einiger Beispiele weiter verfolgen können, wie und warum er sich bis 1933 als Fürsprecher und Verteidiger der Republik erwies.
II.
Vor dem Ersten Weltkrieg begegnen wir Thomas Mann in der Tat überwiegend als unpolitischem Künstler. Das heißt nicht, dass er politisch desinteressiert gewesen sei. Thomas Mann gehörte nicht zu jenen, die die Welt der Politik ignorierten oder aus ihrem Leben ausklammerten. Doch Äußerungen zu politischen Themen gab der Schriftsteller jenseits des privaten Umfelds nur selten und dann eher beiläufig. Dass er sich politisch weitgehend zurückhaltend zeigte, lag in seinem künstlerischen Selbstverständnis begründet. Für ihn hatte die Literatur keinen politischen Sinn und Zweck. Thomas Mann verfasste keine politisch engagierte Literatur. Deshalb betrachtete er auch im Künstler grundsätzlich den Unpolitischen.
Man wird jedoch nicht übersehen können, dass Thomas Mann in dieser Zeit die Politik bereits als eine besondere Herausforderung speziell des Schriftstellers begriff. Der Ausgangspunkt hierfür war die Feststellung, es gebe in Deutschland eine gewisse „Literaturfeindschaft“, die mit dem Vorwurf verbunden war, der Geist wirke durch seine Kritik zersetzend. Diese Ansicht wollte Thomas Mann jedoch nicht gelten lassen. Er sah im Literaten vielmehr denjenigen, der gerade durch Geist und Kritik zur Höherentwicklung beitrage. Der Geist sei das produktive „Prinzip der Ungenügsamkeit“. Doch zugleich erkannte er auch eine Ambivalenz, die dem Literaten eigen war. Während den Literaten einerseits die positive Fähigkeit auszeichne, über „Bewußtheit, höchste psychologische und sittliche Reizbarkeit, Güte und Humanität“ zu verfügen, konnten diese Eigenschaften andererseits „bei politischer Teilnahme zu einem fast trivialen, fast kindlichen Radicalismus und Demokratismus führen“. Dies war die negative Seite des Literaten, zu der ihn die Politik bringen konnte. Thomas Mann blickte somit zwar skeptisch auf die Politik – aber er blickt auf sie. Er sah, dass auch der Schriftsteller die Politik grundsätzlich nicht unberücksichtigt lassen konnte. Sie war eine Gegebenheit, zu der man sich zu stellen hatte.
Diese Beobachtung resultierte aus seiner intensiven Beschäftigung mit der Frage, was das Wesen der Kunst sei und was den modernen Künstler ausmache. Beide Fragen konfrontierten ihn in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mit einer Fülle von Problemen, für die er erst in der Weimarer Republik endgültig eine Lösung fand – und es war diese Lösung, die zugleich eng mit seiner positiven Haltung zur Republik verknüpft war.
Thomas Mann sah sich zu Beginn des 20. Jahrhundert mit dem Umstand konfrontiert, dass Geist, Kritik, Erkenntnis, Vernunft und Zivilisation nur einen Teilbereich des Menschen ausmachen. Darüber hinaus existiere noch eine Sphäre, die vom Verstand nicht abgedeckt sei und zu der Thomas Mann Begriffe wie Schönheit, Schöpfertum, Kunst, Dämonie und Kultur zählte. Dieser zweiten Sphäre schienen Geist, Verstand und Zivilisation teilweise oppositionell gegenüberzustehen. Deshalb unternahm Thomas Mann den Versuch, sich über die Gemeinsamkeiten und Widersprüche beider Sphären weiter Klarheit zu verschaffen. Gerade als Künstler beschäftigte ihn die Tatsache, dass der Mensch nicht nur auf die rationale Seite begrenzt werden könne, sondern auch über irrationale Dimensionen verfüge, die mitunter eine schöpferische Kraft darstellten. Die Zivilisation erschien ihm aufgrund ihrer kritisch-rationalen Eigenschaften und ihres aufklärerischen Impetus als etwas, das die zur Kultur gehörigen andersartigen Eigenschaften tendenziell nicht nur auszuklammern, sondern mitunter gar aufzulösen schien.
Es gelang Thomas Mann jedoch nicht, die konstatierten Widersprüche und Gegensätze wie erhofft zu ordnen und für sich zu klären. Er ließ daher seinen hierzu geplanten Essay Geist und Kunst als „amorphe Notizenmasse“ liegen. 1912 deutete er allerdings vorsichtig eine Lösung an. Ihm schien der Dichter derjenige zu sein, der die vielen Gegensätze in sich trage und daher befähigt sei, eine Synthese zu bilden, einen dritten Weg jenseits der Gegensätze zu gehen: Der Dichter „stellt sie selbst dar, immer und überall, Versöhnung von Geist und Kunst, von Erkenntnis und Schöpfertum, Intellektualismus und Einfalt, Vernunft und Dämonie, Askese und Schönheit – das dritte Reich.“ Eine solche Sichtweise bekräftigte einerseits Manns unpolitische Haltung. Einem politischen Schriftsteller, der Partei ergreift und Position bezieht, war die Synthese, die Überwindung der Gegensätze, unmöglich. Aber andererseits konnte ein Künstler, dem die Synthese gelingt, nicht die verschiedenen Elemente des Lebens ignorieren. Die Politik, die Demokratie, überhaupt die vielen Facetten der Zivilisation – sie mussten von ihm berücksichtigt werden und Eingang in die Synthese finden.
Thomas Mann sah sich selbst nicht zur Verwirklichung dieses Ideals in der Lage, und der Erste Weltkrieg ließ 1914 die offen gebliebenen Probleme mit voller Wucht wieder hervortreten. Nun waren sie jedoch von existenzieller Bedeutung und rückten in einen politischen Kontext ein. Denn Thomas Mann betrachtete die Gegner Frankreich und England als Länder der Zivilisation, die Deutschland und seine Kultur akut bedrohten.
Sosehr die Betrachtungen eines Unpolitischen, die in diesen Jahren entstanden, von Abwehr, Polemik und diversen pessimistischen Sentenzen geprägt sind, stellen sie zugleich doch einen dialektischen Orientierungsversuch dar, der Thomas Mann weiter verdeutlichte, dass sich Politik und Demokratie nicht ignorieren, nicht ausschließen ließen. „Aber Anti-Politik ist auch Politik“, gestand er sich und seinen Lesern ein, „denn die Politik ist eine furchtbare Macht: Weiß man auch nur von ihr, so ist man ihr schon verfallen. Man hat seine Unschuld verloren.“
Zudem übte der Schriftsteller in seinen Betrachtungen deutliche Kritik am Kaiserreich. Auch das bestehende politische System habe es aus seiner Sicht nicht vermocht, die Kultur zu stärken. Der Aufstieg und die Dominanz der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaften, der Technik und der Wirtschaft hätten die Kultur geschwächt. Ein geistloser Kapitalismus und oberflächliche Annehmlichkeiten der Konsumwelt beeinträchtigten längst die soziale Bindekraft und verhinderten, dass der Mensch sich zur Persönlichkeit ausbilde. Der Bildungsbürger sei vom Bourgeois verdrängt worden, und das Kaiserreich habe diese Entwicklung nicht verhindern können. Deshalb erschien Thomas Mann das bisherige Kaiserreich auch nicht als erhaltenswerter Musterstaat. Zwar mochte dieser Staat im Vergleich zu den westlichen Demokratien der Kunst und dem Künstler mehr Freiraum gelassen haben sowie eine Innerlichkeit, die einen vor der Politisierung bewahrte. Aber zur Kulturnation sei Deutschland nicht geworden. Der „Triumph der Realpolitik“ habe dies verhindert und dazu beigetragen, dass der freie geistige Bürger aufgehört habe zu bestehen. Diesen Vorwurf richtete Thomas Mann zugleich an das Bürgertum selbst. Es habe bislang nicht die Kraft oder die Fähigkeit gezeigt, der Kultur zur Hegemonie zu verhelfen.
Im Krieg betrachtete Thomas Mann daher auch eine Möglichkeit, die Fehlentwicklungen endlich zu korrigieren. Dabei sah er ein, dass es kein apolitisches Dasein gab und es entsprechend keine Ausgrenzung der Politik, keine Politik-Enthaltung mehr geben konnte. Aus diesem Grund suchte Thomas Mann in seinen Betrachtungen nach einem Weg der Politikbegrenzung.
Ein Bestandteil dieses Weges lag in der neuen Bedeutung, die dem Bürger und dem Künstler zukommen solle. Aus Thomas Manns Sicht bot die Kultur dem Menschen der Moderne, der metaphysisch obdachlos geworden war und in einer pluralen Gesellschaft lebte, die nicht mehr von einem einheitlichen, verbindlichen Zentrum zusammengehalten und regiert wurde, den Raum und das Mittel der Sinnstiftung. Die Kunst weise den Weg, das „Leben ethisch zu erfüllen“. Im Künstler könne der Bürger jenen Menschen entdecken, der nicht zu den Extremen neige, der kein Fanatiker, Ideologe oder Dogmatiker sei, sondern der das Leben liebe. Wir können hier bereits erkennen, wie Thomas Mann wieder an seine Synthese-Idee anknüpfte, die er bereits vor dem Krieg angedeutet hatte. Nun geht er aber einen Schritt weiter und verknüpft den Künstler stärker mit der Bürgerlichkeit. Der Weg zum Künstler führe über die Bürgerlichkeit. Denn zur Bürgerlichkeit gehörten Bildung und eine ethische Lebensführung, die sich aus Eigenschaften wie Ordnung, Ruhe, Fleiß und Folge speise. Diese beiden Facetten der Bürgerlichkeit führten dazu, dass der Bürger bereits ein Mensch des mittleren Weges, des Ausgleichs sei, kurz: ein Mensch der Humanität.
Thomas Mann erschien daher die Förderung des Bildungsbürgers und der hierüber möglich werdende Aufstieg zum Künstler als eine alternative Fortschrittsgeschichte, und er unternahm nun auch einen vorsichtig-vagen Blick auf einen Staat der Zukunft, in dem Bildungsbürger und Künstler wieder zur Geltung kommen würden. Dem Schriftsteller schwebte ein politisches System vor, in dem insbesondere das Bildungsbürgertum zur dominierenden Schicht werden sollte und der bürgerliche Künstler seiner staatlich verfassten Nation ihr metaphysisches Wesen geben würde. In seinen Überlegungen deutete er sogar konkret an, die Macht durch ein verändertes Wahlrecht neu auszutarieren. Nicht mehr Stand und Klasse, Einkommen und Besitz sollten als Kriterien gelten, sondern Bildung. Es war zweifelsohne ein tendenziell elitäres Konzept, das einerseits einen demokratischen Zug aufwies, indem es grundsätzlich das Staatsvolk als Souverän betrachtete. Andererseits besaß es zugleich eine antidemokratische Tendenz, indem es Herrschaft auf jenen Bevölkerungsteil beschränkte, der über Bildung verfügte. Man wird jedoch den dabei angedeuteten Wunsch Thomas Manns nicht übersehen dürfen, dass grundsätzlich jeder Bürger Bildung erlangen solle.
Das Konzept blieb wenig konkret. Die Gedankengänge des Schriftstellers verdeutlichen aber drei Dinge. Erstens wollte Thomas Mann der Kultur wieder zum Hochbegriff verhelfen. Dies war nur durch die Einheit von Staat und Kultur möglich. Zweitens sollte das Bildungsbürgertum politisch Verantwortung übernehmen. Das heißt, statt reiner Innerlichkeit war die Politik ein notwendiger Bestandteil, um die Kultur zu bewahren. Drittens sollte Deutschland auf diese Weise eine eigene Form von Demokratie ausbilden, die nicht dem westlichen Weg folgte, sondern dem deutschen Wesen gerecht würde.
Es ist deshalb nicht überraschend, dass Thomas Mann im Zuge der Revolution von 1918 ohne Schmerz oder Wehmut Abschied von der Monarchie nahm. Ein Herzensmonarchist war er nicht. Vielmehr stand er der Revolution von Anfang an aufgeschlossen gegenüber. Am 10. November, einen Tag nach der Abdankung des Kaisers, notierte er in sein Tagebuch: „ich heiße die ‚neue Welt‘ willkommen“. Trotzt verschiedener skeptischer und teilweise ablehnender Äußerungen gegenüber dem konkreten Verlauf der Revolution, sah Thomas Mann in dem Umsturz durchaus eine Rettung. Denn nun bot sich ihm eine konkrete Perspektive. Das von außen befürchtete Ende war noch einmal abgewendet worden und Deutschland erhielt die Gelegenheit, zu zeigen, dass es seine Zukunft selbst gestalten könne und werde. Im Winter 1918/19 aktualisierte er seinen längst formulierten Wunsch, dass etwas Neues entstehen solle, indem er äußerte, es sei nun „die deutsche Aufgabe zwischen Bolschewismus und westlicher Plutokratie in politics etwas Neues zu erfinden“.
Mit politischen Konzepten setzte sich Thomas Mann jedoch nicht eingehender auseinander. Er erörterte keine verfassungspolitischen Fragen und unterbreitete auch keine diesbezüglichen Vorschläge. In dieser Hinsicht blieb die Politik für ihn eine fremde Welt, mit der er sich nur begrenzt befasste. Politik war nicht sein Beruf.
Doch Thomas Mann ging zugleich geistig wieder einen Schritt weiter auf die Republik zu. Hieran hatte seine Beschäftigung mit Goethe im Winter 1918/19 einen entscheidenden Anteil. Goethe verhalf Thomas Mann zum gesuchten künstlerischen Selbstbewusstsein und hierüber zur weiteren politischen Positionierung. Es gelang Mann nun sogar, die Politik in sein Humanitätskonzept zu integrieren, sie zu einem Bestandteil der Kultur zu machen. In einem 1921 gehaltenen Vortrag über Goethe und Tolstoi erklärte Thomas Mann, dass die Selbstausbildung des Menschen der erste wichtige Schritt sei, um zur Persönlichkeit zu werden. Doch die Menschenbildung sei damit noch nicht abgeschlossen. Bei Goethe werde man einer „schönen Menschlichkeit“ ansichtig, die zeige, dass „das Soziale aus der Kultur- und Bildungsidee organisch“ erwachse. Sein Wilhelm Meister habe es gezeigt: Erst das „Soziale, ja Politische“, so Thomas Mann wörtlich, gehöre zur Vervollkommnung unabkömmlich dazu. Bei der Frankfurter Goethe-Woche Anfang 1922 formulierte Thomas Mann es noch deutlicher. Wenn die „Sphäre der Humanität“ alles Menschliche umfasse, gehöre dazu auch, dass „der Mensch, vom Sozialen angerührt, der unzweifelhaft höchsten Stufe des Menschlichen, des Staates nämlich, ansichtig wird.“ Hier begegnen wir nun einer grundsätzlichen Bejahung des Staates als Bestandteil der Humanität.
In der Weimarer Republik, einem Staat, der den Bürgern zugefallen war, sah Thomas Mann die Gelegenheit zur Verwirklichung der Humanität. Sie war für ihn die lange gesuchte Synthese, „das dritte Reich“, von dem er sprach. In seiner Republik-Rede erklärte er 1922, die Humanität sei „die deutsche Mitte, das Schön-Menschliche“, in dem die vielen verschiedenen Gegensätze vereint würden. Die Republik sei ihre positive Rechtsform, die es anzunehmen gelte. Denn diese Staatsform biete dem Bildungsbürger die Chance auf Freiraum und selbst gestaltete Einbindung in den Staat. Ein solcher Staat werde schließlich der Kultur und insbesondere der Kunst zum Aufschwung und zur Hegemonie verhelfen. Deutschland könne so zum „Meisterwerk“ werden, wie Thomas Mann schon 1921 in seinem Vortrag Goethe und Tolstoi erklärt hatte. Es war ein Traum, wie er gestand, der jedoch „wert ist, geträumt zu werden, der wert ist, geglaubt zu werden.“ Mit seinem Bekenntnis zur Republik appellierte Thomas Mann schließlich für die Verwirklichung dieses Traumes. Im Angebot der politischen Möglichkeiten erschien ihm die Republik offenbar die beste Form zu sein, um die genannten Ziele zu erreichen.
III.
Nach seiner Republik-Rede begann Thomas Mann sich auf vielfältige Weise in der Republik zu engagieren. Dies hing zum einen mit seiner eigenen Überzeugung zusammen, in den geistigen und politischen Auseinandersetzungen dieser Zeit weiterhin Stellung beziehen zu müssen. Er sah sich in der selbst auferlegten Verantwortung, als Künstler Antwort auf das notwendige Orientierungsbedürfnis zu geben, Mut und haltbaren Sinn zuzusprechen, kurz: an einem gelingenden Leben des Einzelnen und der Gesellschaft mitzuwirken. Zum anderen zog er nun aber auch das Interesse von prorepublikanischen Politikern, Parteien, diversen politisch interessierten Bürgern und von staatlicher Seite auf sich. Die Befürworter und Verteidiger der Republik suchten in ihm einen repräsentativen Unterstützer – und Thomas Mann ließ sich auch immer wieder in die Pflicht nehmen, verweigerte sich der „geistigen Politik“, wie er 1924 einmal formulierte, nicht.
So trat er zum Beispiel 1923 bei einer Gedenkveranstaltung für Walther Rathenau auf. Diese Zusammenkunft wurde von der Arbeitsgemeinschaft republikanischer Studenten Münchens zum Jahrestag der Ermordung des deutschen Außenministers ausgerichtet. Der Schriftsteller sprach bei dieser Veranstaltung über den Geist und das Wesen der deutschen Republik, erklärte erneut deutlich, die Republik sei „die Einheit von Staat und Kultur“ und könne „etwas wunderbar und vollendet Deutsches, ja die Vollendung deutscher Menschlichkeit bedeuten“. Doch müsse man dafür etwas tun und dürfe die Republik nicht als etwas „ganz Bekämpfenswertes“ betrachten. Thomas Mann hielt dem Bürgertum vor, dass es „seinen Bildungs-, Kultur- und Humanitätsbegriff zu früh geschlossen hat, als es das politische Element“ und den republikanischen Gedanken ausschloss. Doch beides gehöre dazu. Der radikalistische, reaktionäre Faschismus, so Thomas Mann, sei ebenso wie der Kommunismus keine alternative Antwort auf die Idee der Humanität, die in der Republik verwirklicht werden müsse. Republik sei „ideell genommen und von mangelhaften Wirklichkeiten abgesehen, nichts anderes, als der politische Name der Humanität“.
Auch in den nachfolgenden Jahren nahm Thomas Mann an verschiedenen prorepublikanischen Veranstaltungen teil. 1924 folgte er beispielsweise der Einladung des Stralsunder Regierungspräsidenten Hermann Hausmann, zum Verfassungstag am 11. August im Theater von Stralsund zu sprechen. Im gleichen Jahr beteiligte er sich erstmals direkt am Wahlkampf und warb bei der Reichstagswahl öffentlich für die liberale Deutsche Demokratische Partei. Ähnlich engagiert war Thomas Mann auch 1925 bei der Wahl des Reichspräsidenten. In dem Zeitungsbeitrag Rettet die Demokratie! sprach er sich gegen den Kandidaten Hindenburg aus. Dieser würde als Staatsoberhaupt das Land „in einen Zustand der Unruhe, der Unsicherheit und der inneren Kämpfe zurückwerfen, die glücklich überwunden schienen“. Für Thomas Mann war Hindenburg ein „Recke der Vorzeit“.
Neben der Innenpolitik ließ sich der Schriftsteller auch außenpolitisch mehrmals in Dienst nehmen. Von besonderer Bedeutung war hierbei sein Beitrag zur Verständigungspolitik mit Frankreich. Im Zuge der Annäherung beider Länder durch die 1925 geschlossenen Locarno-Verträge beteiligte sich der Schriftsteller mit Aufsätzen in französischen und deutschen Zeitschriften, um für eine Annäherung beider Seiten einzustehen. 1926 reiste er nach Paris und versuchte dort – in den Worten des deutschen Botschafters von Hoesch formuliert – einen Beitrag zur „geistigen Zusammenarbeit“ zu leisten. In Frankreich konnte Thomas Mann an der Sorbonne von Henri Lichtenberger erfahren, dass man in ihm einen Repräsentanten des zeitgenössischen Deutschlands erkannt habe, der das alte und das neue Deutschland in harmonischer Synthese verkörpere. Die Republik schien einen glaubwürdigen Vertreter zu besitzen. Der deutsche Botschafter meldete zufrieden nach Berlin, Thomas Mann habe mit einem „eindrucksvollen Vortrag“ ein Bild des „gegenwärtigen geistigen Deutschland“ geboten, „mit einem Bekenntnis zur Demokratie, aber voller stolzer Wahrung der deutschen Eigenart und des deutschen Rechts.“
Ein besonderes Augenmerk Thomas Manns galt naturgemäß der Literatur. Hier sah er angesichts der geistigen Zustände in Deutschland einen Bedarf an Aufklärungsarbeit sowie ein geeignetes Bildungsmittel. Er engagierte sich als Mitglied der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, plädierte für mehr Geist und Kritik als unverzichtbare Bestandteile, um die Kultur vor einem Abgleiten in die Unvernunft zu bewahren, und beteiligte sich als Mitherausgeber der Buch-Reihe Romane der Welt, deren Ziel es war, jede Woche einen preiswerten Roman von bekannten oder weniger bekannten Schriftstellern aus dem Ausland zu präsentieren, um den kosmopolitischen Geist in Deutschland zu stärken.
Wenn man das Wirken Thomas Manns betrachtet, wird man auch sein eigenes Werk in Betracht ziehen müssen. Die Weimarer Verhältnisse sind nicht spurlos hieran vorbeigegangen. Gerade der 1924 veröffentlichte Zauberberg ist ein Roman, der zutiefst mit Manns republikanischem Bekenntnis verbunden ist. Er führt dem Leser einen Bildungsprozess vor Augen, bei dem die bürgerliche Haltung der Mitte, das heißt die Humanität, als positive Lebensform vorgestellt wird. Der Protagonist Hans Castorp gelangt nicht nur zur Einsicht, dass die Gegensätze im menschlichen Leben beherrschbar sind, weil sie überhaupt erst durch den Menschen entstehen und er, der sich als „Herr der Gegensätze“ zu erweisen vermag, somit „vornehmer“ ist als sie. Vor allen Dingen entdeckt der junge Ingenieur aus Hamburg damit verbunden die Liebe als jene große Macht, die stärker ist als der Tod. Nur sie könne „Güte und Menschenliebe“ geben.
Diese Einsicht bleibt bei Castorp allerdings nur ein Gedanke. Der Bildungsprozess des Protagonisten ist nicht abgeschlossen. Indem der Roman schließlich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endet und Castorp „ins Flachland der Heimsuchung“ stürzt, bleibt das formulierte „Traumgedicht vom Menschen“ nur eine Ahnung vom Neuen. Den Lesern präsentierte Thomas Mann damit aber den Weltkrieg als Epochenwechsel. 1914 habe ein anderer Abschnitt in der Geschichte begonnen, der zu etwas Neuem führen solle. Wie dieses Neue aussieht, beantwortet der Roman nicht. Es ist jene Frage, die Thomas Mann sich selbst und den Bürgern der Republik stellte. „Wird auch aus diesem Weltfest des Todes“, fragt der letzte Satz des Romans, „einmal die Liebe steigen?“ Thomas Mann hatte mit seinem „dritten Reich der Humanität“ eine weiter zu verfolgende Antwort gefunden. Die Republik vermag dem Traum vom Menschen zur Wirklichkeit zu verhelfen. Man musste ihn aber erst einmal bekommen und auch annehmen. Thomas Mann betrachtete es als seine Aufgabe, hierzu beizutragen.
Nicht zuletzt im Nationalsozialismus sah er schließlich die konkrete politische Gefahr, die er entschieden bekämpfte. 1925 veröffentlichte er seinen Vortrag Goethe und Tolstoi als überarbeitete Essay-Fassung und ging darin ausführlich auf den Faschismus in Europa ein. Hierin sah er einen antiliberalen Rückschlag, der sich politisch äußere „in der überdrußvollen Abkehr von Demokratie und Parlamentarismus, in einer mit finsteren Brauen vollzogenen Wendung zur Diktatur und zum Terror. Der Fascismus Italiens ist das genaue Gegenstück zum russischen Bolschewismus, und seine antikische Geste und Mummerei kann nicht über die Humanitätsfeindlichkeit seines Wesens hinwegtäuschen.“
Entsprechend sorgenvoll blickte Thomas Mann auch zunehmend auf den Nationalsozialismus. Als die NSDP bei den Reichstagswahlen 1930 einen großen Wahlsieg einfuhr und schlagartig zur zweitstärksten Kraft avancierte, entschloss sich Thomas Mann erneut dazu, eine Rede in Berlin zu halten. Wieder einmal sah er sich zum entschiedenen gesellschaftlichen Einspruch verpflichtet und betonte, deutlich wie seit dem Krieg nicht mehr, dass man als Künstler angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung kaum noch frei und unbefangen sein können, das künstlerische Schaffen einem zur „seelischen Unmöglichkeit wird.“ Im Nationalsozialismus sah Thomas Mann die akut drohende Verneinung der Kultur und der Humanität. Der erhoffte Kulturstaat drohte in weite Ferne zu rücken. Angesichts des Wahlergebnisses hielt er dem Bürgertum vor, „die Berührung mit dem lebendigen Geist, die Sympathie mit seinen Lebensforderungen verloren und verlernt zu haben.“ Aus diesem Grund stellte sich Thomas Mann an die Seite der SPD. Seit Beginn der Republik habe sich die „sozialistische Klasse“ in der Praxis als geistfreundlich erwiesen – „und das ist, wie heute alles liegt, das Entscheidende“. Der politische Platz des Bürgertums sei deshalb heute „an der Seite der Sozialdemokratie“.
In den nachfolgenden Jahren war Thomas Mann weiterhin in Sorge, die Republik könne ihren Kredit verspielen, sofern sich nicht etwas verändere. Im Januar 1933 beabsichtigte er, erneut eine Rede zu halten. Krankheitsbedingt musste sie jedoch verschoben werden. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler war es der Sozialdemokrat Adolf Grimme, der Thomas Manns Rede auf dem Kongress Das freie Wort vorlas. Denn die zuvor begonnene Vortragsreise, zu der der Schriftsteller am 11. Februar aufgebrochen war, wurde zu jenem ungeplanten Auszug aus einem Land, das sich schrittweise von der Republik verabschiedete.
IV.
Das Engagement Thomas Manns verdeutlicht, dass sich der Schriftsteller seit seiner Republik-Rede 1922 als überzeugter Fürsprecher und Verteidiger dieser jungen Demokratie zeigte. Trotz zunehmender, mitunter heftiger Anfeindungen und Ausgrenzungen ließ er sich nicht hiervon abhalten. Auch wenn sein öffentliches Bekenntnis nach der Ermordung Rathenaus vielen als Wende erschien und diese Ansicht bis heute weite Verbreitung besitzt, verstellt diese Sichtweise den Blick auf den viel komplizierteren Weg, den Thomas Mann gegangen war. Seine Republik-Rede war nicht grundlos auch ein Einspruch gegen seine eigene Rezeption. Denn er selbst stand bereits von Anfang an der Republik mit einer gewissen Unbefangenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber. Auch wenn sein Weg zur Weimarer Demokratie ein sehr eigener war, hat er sie schließlich auf seine Weise akzeptiert. Die deutsche Republik war für ihn zum alternativlosen lebensfreundlichen Modell geworden, das einen Weg in eine bessere Zukunft versprach. Hieran aktiv Anteil zu nehmen, war Thomas Mann als Bürger und Künstler zur gewünschten Selbstverständlichkeit und zunehmenden Notwendigkeit geworden.