Es klingt schon ein wenig vermessen, so wie einst Loriot Wagners „Ring“ in einer Stunde vorgestellt hat, nun eben Thomas Manns damit sehr vergleichbare Tetralogie seiner „Joseph“-Romane an einem Abend vorzustellen, doch es gibt ein paar gute Gründe dafür und, vor allem, bildliche Unterstützung. Die vier Bände der Erstausgaben von 1933 bis 1943 sind es allemal wert, näher betrachtet zu werden, wenn auch zunächst einmal von außen und über einen Umweg.
Annäherungen
Der Roman „Joseph und seine Brüder“ hat einen hohen Anspruch. Er will nichts weniger sein als, wie Thomas Mann es selbst genannt hat, ein „Menschheitsbuch“ zu sein. Wir wollen uns daher diesem Thema zunächst über eben diejenigen Bilder nähern, die den Roman angeregt haben. Die Verbindung von Bild und Wort aufzuzeigen, im Sinne der Vorgaben des Alten Testaments, und ihrer modernen Deutung – das ist heute Abend vor allem dank der Zusammenarbeit mit der Katholischen Akademie in Bayern möglich. Dadurch konnte hier im Schloss Suresnes eine eigene Kabinett-Ausstellung mit eben denjenigen Lithographien zur „Joseph“-Legende der Bibel eingerichtet werden, die Thomas Mann einst zu seinem „Menschheitsbuch“ angeregt haben. Und damit beginnen auch wir eine Reise in den tiefen Brunnen der Vergangenheit.
Im Mai 1922 stellte der Münchener Maler Hermann Ebers rund 20 ohne Auftrag entstandene Lithographien zur „Joseph“-Legende der Bibel in der Münchener Galerie Caspari aus, im renommierten Eichthal-Palais, Briennerstraße 52 (heute 12), gegenüber dem Café Luitpold. Ebers, Spitzname „Hermi“, ein Sohn des berühmten Ägyptologen und seinerzeit erfolgreichen Autors von Romanen zum alten Ägypten Georg Ebers (1837-1898), war einer der ältesten Jugendfreunde Katia Manns und ebenso Schüler des Tier- und Landschaftsmalers Heinrich von Zügel, wie sein älterer Malerkollege Paul Ehrenberg, der Münchener Jugendfreund Thomas Manns.
Für Thomas Mann gab es daher mehrere Gründe, die Ebers-Ausstellung in der Brienner Straße zu besuchen; er war auch sehr angeregt und versprach dem Zeichner zu dessen großer Freude einen Text. Damit begann aber ein kleines Drama, an dessen Ende Hermann Ebers weder den gewünschten Text noch den erhofften Ruhm gewann.
Man kannte sich schon länger. Mit seiner ersten Frau und zwei kleinen Töchtern hatte Hermann Ebers im April 1911 die sogenannte „Russenvilla“ in Seeshaupt bezogen. Zu den ersten Besuchern gehörten dort Thomas und Katia Mann; Thomas Mann schrieb ins Gästebuch: „Entzückt und dankbar“, Katia ergänzte: „leider auch neidisch“! Das Haus am See gefiel Thomas Mann. Und er grüßte seinen Gastgeber Hermann beim Abschied im Gästebuch als „Nachbarn in spe“, als hoffentlich baldigen Nachbarn.
Doch aus der Hoffnung auf eine Villen-Nachbarschaft am Starnberger See wurde nichts. Dafür gab es eine andere, oder besser: gleich zwei andere, künstlerische „Nachbarschaften“, die sich in der nächsten Zeit entwickelten. Sie sind Thema in einem Eintrag Thomas Manns ins Seeshaupter Gästebuch am 23. Juli 1925: „Ja, das sind Wirte wundermild! (sage ich nach dem Mittagessen). Allzu lange waren wir nicht bei ihnen eingekehrt. Schade, daß aus der ‚spes‘ von einst im Mai leider nichts geworden ist. Statt dessen sind andere Verbindungen, musische Verschmelzungen im Begriffe sich vorzubereiten. Davon das nächste Mal mehr.“
Was es nun mit diesen „musischen Verschmelzungen“ auf sich hat, dazu gibt Hermann Ebers Auskunft in seinen Erinnerungen: „Zweimal ist zwischen Thomas Mann und mir das vorgekommen, was er ‚musische Verschmelzungen‘ nannte. Das eine Mal bat er mich, seine reizende Novelle ‚Unordnung und frühes Leid‘ zu illustrieren. Ich tat es zu seiner Zufriedenheit (…) aber es gab Schwierigkeiten wegen der Reproduktion, vielleicht hat auch die Berliner Illustratoren-Clique ungünstig dreingeredet, jedenfalls ist das Buch ohne meine Illustrationen erschienen.“
Erstmals wurden diese Illustrationen von Alexander Krause und mir im Band 5 unserer Thomas-Mann-Schriftenreihe veröffentlicht.
Die Unordnung-Serie war 1925 freilich bereits die zweite Zusammenarbeit, nachdem die erste, das Projekt der Joseph-Serie, schon 1922 nicht zustande gekommen war. Dazu Hermann Ebers: „Das andere Mal [wir ergänzen: das erste Mal im Mai 1922] war ich mehr oder minder schuld an einer, wie sich seine Frau ausdrückte, ‚Lawine‘, die er auf die Leserwelt niedergehen ließ. Ich hatte in der Galerie Caspari ausgestellt in einem kleinen Saal Bilder und im Vorraum Zeichnungen und Graphik. Als ich einmal dort nachgeschaut hatte, traf ich im Hinausgehen an der Tür Thomas Mann, der meine kleine Ausstellung besichtigen wollte. Ich zeigte sie ihm und er betrachtete alles mit freundlichem Interesse. Plötzlich aber war er von einer graphischen Arbeit vollkommen gefesselt. Es war eine Serie von Lithographien, die ich zu der schönen Geschichte vom Josef in Aegyptenland, wie sie in der Genesis geschildert ist, im vorhergehenden Winter gezeichnet hatte. Ohne Auftrag, nur weil mich das Thema so interessierte.
Thomas Mann sah sich Blatt für Blatt genau an, einige Male hintereinander und sagte endlich: ‚Da müßte man etwas dazu schreiben.‘ Zuerst hatte er im Sinn, tatsächlich zu meinen Bildern einen Text zu verfassen. Aber bald war er so weit, daß sich seine Phantasie schon von ihnen gelöst hatte und er mir sagen mußte: ‚Lieber Herr Ebers, an ein knappes Begleitwort kann ich nicht mehr denken, die Sache wächst sich zu etwas ganz Großem aus.‘
Als ich mich nach etwa einem Jahr bei ihm erkundigte, wie weit er mit dieser Arbeit sei, seufzte er und sagte: ‚Sie ist immer noch in den Anfängen. Jetzt, nach einem Jahr, bin ich gerade so weit, daß ich ungefähr weiß, auf welche Weise die Personen miteinander reden.‘ Nun, und dann sind im Laufe langer Jahre jene 4 Bände der Geschichte von Jaakob und Josef entstanden, die zum schönsten und tiefsten gehören, was er geschrieben hat.“
Soweit also der Zeichner selbst, der, wenn es zu seinen Lebzeiten eine Veröffentlichung der Lithographien mit Auszügen aus dem Joseph-Roman Thomas Manns gegeben hätte, heute eine Berühmtheit wäre. Dazu ist es aber nicht gekommen, und das hatte viele Gründe.
Thomas Mann wiederum hat die Geschichte dieser Anregung in seinem „Lebensabriss“ (1930) merkwürdig kaschiert. Da heißt es: „(…) ein Münchener Maler, Jugendfreund meiner Frau (zeigte) mir eine Bildermappe, die er gefertigt und die die Geschichte Josephs, des Sohnes Jakobs, in hübscher graphischer Darstellung bot. Der Künstler wünschte sich einen einleitenden Schriftsatz von mir zu seinem Werk, und halb gewillt, ihm den Freundschaftsdienst zu leisten, las ich in meiner alten Familienbibel (…), die reizende Mythe nach, von der Goethe gesagt hat ‚Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen.‘ Noch wußte ich nicht, wie sehr mir dies Wort aus ‚Dichtung und Wahrheit‘ zum Motto kommender Arbeitsjahre werden sollte.“
Der fehlende Name des Malers, der etwas abgehobene Duktus und der Goethe-Bezug verschleiern bewusst die Anregung durch die Ausstellung oder besser – rücken sie für die Nachwelt etwas zurecht. Hermann Ebers freilich hoffte weiter auf einen „einleitenden Schriftsatz“ und schickte dem säumigen Autor der Einfachheit halber im Frühjahr 1924 ein Exemplar der Joseph-Mappe. Auf einer Postkarte vom 11. April 1924 bedankte sich Thomas Mann für das Geschenk: „Also: herzlichsten Dank für das gestern zu größter Überraschung in Empfang genommene reiche Geschenk! Es freut mich außerordentlich, und den Plan, diese reizende Geschichte frisch zu erzählen, könnte mir nichts lebendiger halten als die Gegenwart dieser Bilder, die so viel von Ihrer Liebenswürdigkeit wiedergeben.“
Diese Bildermappe mit 16 Joseph-Lithographien hat sich im Thomas-Mann-Archiv Zürich erhalten. Ebers hat sie mit einem handschriftlichen Vermerk versehen, der lautet: „Diese Serie gab Thomas Mann, als er sie in der Galerie Caspari ausgestellt sah, die erste Anregung zu seinem mehrbändigen Joseph-Werk.“
Verschmelzungen
Warum aber hat Thomas Mann nun diese Anregung verschleiert und den Namen des Malers nicht mehr erwähnt? Mehr noch, später, im amerikanischen Exil, verweigerte er der Germanistin Anna Jacobsohn, die nach dem Anreger der „Joseph“-Romane gefragt hatte, die Antwort in einem Brief vom 13. November 1936 auf ungewöhnlich schroffe Weise. Der Name des „Münchner Malers“ sei aus dem Spiel zu lassen: „Der Träger ist eine Null, und mit dem Namen ist niemandem gedient.“
Der Grund für diese harsche Ablehnung lag zunächst wohl darin, dass Thomas Mann die seinerzeitige Anregung nicht höherstellen wollte als das daraus entstandene Ergebnis. Sodann wollte er wohl auch jede Verbindung zu den ägyptischen Professorenromanen von Georg Ebers‘, dem Vater des Malers, vermeiden. Ihn, Georg Ebers, hatte Thomas Mann in einem Aufsatz über Theodor Storm (1930) einen „hervorragenden Ägyptologen und schlechten Poeten“ genannt. Der hervorragende Wissenschaftler, nach dem ein Papyrus über medizinische Ratschläge benannt ist und dessen Bildbände über Ägypten und Palästina Standardwerke seiner Zeit sind, sollte wohl auf keinen Fall über den Namen seines Sohnes in die Diskussion um die Joseph-Romane eingebracht werden.
Wie auch immer, in seinem Vortrag über „Joseph und seine Brüder“ 1942 in Washington verweigert Thomas Mann zwar erneut jegliche Auskunft über den „zufälligen Anstoß“ zu seinem Roman, gibt dabei aber auch eine Begründung für seine lange Annäherung an das Thema. Dabei benutzt er auffälligerweise das Wort von der „Verschmelzung“ aus dem Seeshaupter Gästebuch: „Aber was ich vorhatte, war so neu und ungewohnt, daß nie die Katze länger um den heißen Brei herumgegangen war als diesmal. Es galt die Kontaktaufnahme mit einer fremden Welt, der primitiven, mythischen: und ‚Kontaktnahme‘ im dichterischen Sinn bedeutet etwas sehr Kompliziertes, Inniges, ein Eindringen bis zur Identifikation und zur Selbstverwechslung, damit das entstehe, was man ‚Stil‘ nennt und was immer eine einmalige und vollkommene Verschmelzung des Persönlichen mit dem Sachlichen ist.“
Das ist nun freilich weitaus mehr als nur eine banale Erklärung für den seinerzeitigen Anlass, sich durch die Ebers-Lithographien der biblischen Joseph-Thematik anzunehmen. Mehr noch, diese Stelle ist geradezu die Formel für Thomas Manns künstlerischen Stil aus Aneignung, Montage und eben „Verschmelzung“. Von „musischen Verschmelzungen“ hatte Thomas Mann 1925 im Gästebuch geschrieben, und noch „mehr“ angekündigt. Dieses „mehr“ waren schließlich die vier Bände von Joseph und seine Brüder. Dass diese Bände nicht nur allgemein ein „Menschheitsbuch“, sondern konkret auch ein Spiegel der langjährigen Exil-Situation werden würden, hätte sich Thomas Mann damals in Seeshaupt freilich wohl kaum träumen lassen.
Hermann Ebers jedenfalls, der namenlose „Anreger der Joseph-Romane“, geriet bald in Vergessenheit. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es wieder zu brieflichen Kontakten mit Katia und Thomas Mann. Thomas Mann dankte ihm Ende März 1949 für ein Gemälde (das leider heute verschollen ist), und gab zu, dass er, anlässlich der inzwischen so vielen Übersetzungen des Joseph, sich „oft des frühesten Anlasses seiner Entstehung“ erinnert habe: „Das Joseph-Werk wurde freilich schon in Deutschland begonnen und manche sehen darin den Höhepunkt meiner künstlerischen Produktion. Wenn in verschiedenen Sprachen neue Ausgaben davon erscheinen, so habe ich mich oft des frühesten Anlasses seiner Entstehung erinnert, Ihrer Bild-Mappe, zu der Sie damals ein Vorwort von mir wünschten. Daraus ist nun dieser wunderliche Monstre-Roman geworden. So spielt das Leben.“
Mit dieser nachträglichen Würdigung nicht genug, legte Thomas Mann sogar noch einmal nach. Ebers erhielt wenige Tage vor seinem Tod im Februar 1955 ein Exemplar der damals neuen Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1954). Da dürfte Hermann Ebers schon der Titelentwurf von Martin Kausche gefreut haben, nahm er doch eine Idee auf, den Autorennamen aus dessen Unterschrift zu gestalten, wie er das 1925 für die (dann doch nicht erschienen) Illustrationen zu der Familiennovelle „Unordnung und frühes Leid“ bereits entworfen hatte.
Ganz besonders gefreut haben dürfte ihn aber die freundschaftliche Widmung Thomas Manns vom 10. Januar 1955: „Hermann (eigentlich Hermi) Ebers, / dem alten Freunde und / Anreger der Joseph-Romane, dieser neue, eigentlich / etwas ältere und etwas mindere, aber auch ganz gewinnende Joseph / mit allen guten Wünschen / für ihn und seine Kunst.“
Was für ein Wort – die Verbindung zwischen dem Hochstapler Felix Krull und Joseph war Thomas Mann allerdings schon früh aufgegangen. In einem Brief an Tochter Erika von Ende 1926, – er hatte soeben mit den Geschichten Jaakobs, dem ersten Band der zunächst als Trilogie geplanten Romanfolge begonnen, – bezeichnet er die Figur des Joseph als „eine Art mythischen Hochstapler“.
Und drei Romane später, als nach den Geschichten Jaakobs (1933), dem Jungen Joseph (1934) und Joseph in Ägypten (1936) klar war, dass noch ein vierter Band, Joseph der Ernährer (1943), folgen würde, schrieb Thomas Mann Ende Januar 1938 in einem Brief an Hermann Kesten, dass der Krull-Roman „durch seinen mythischen Bruder“ Joseph „überholt“ sei, „so daß die Krull-Memoiren wohl ein schöner Torso bleiben“ würden, was dann auch tatsächlich so eintraf; der zweibändige Krull blieb unvollendet. Die Widmung für Hermann Ebers spiegelt somit die eigene künstlerische Wahrheit und Erkenntnis wider.
Thomas Mann wusste schon nach den beiden ersten Joseph-Romanen, dass damit auch für ihn eine neue Epoche angebrochen war, dass er, wie er in einem Brief an seine französische Übersetzerin im Mai 1945 schrieb, „eine neue Stufe meines literarischen Lebens betreten“ habe. Seinem wichtigsten Gesprächspartner in dieser Zeit, dem ungarischen Religionswissenschaftler Karl Kerènyi, hatte er schon im Februar 1934 geschrieben, dass mit den Joseph-Romanen der Übergang „vom Bürgerlich-Individuellen weg zum typischen, Generellen und Menschheitlichen“ vollzogen worden sei. Mehr noch: In diesem Ansatz sah er seinen künstlerischen Widerstand gegen den Faschismus auf den Punkt gebracht: „Dies einander in die Hände arbeiten von Mythologie und Psychologie ist eine höchst erfreuliche Erscheinung! Man muß dem intellektuellen Faschismus den Mythos wegnehmen und ihn ins Humane umfunktionieren. Ich tue längst nichts anderes mehr.“
So an Karl Kerènyi Anfang September 1941. Dass Thomas Mann damit genau dasjenige künstlerische Konzept Richard Wagners umsetzte, dass er erstmals im Februar 1933 in seinem Wagner-Vortrag in München, Amsterdam, Brüssel und Paris vorgestellt hatte und dann bis 1935 noch in Zürich, Bern, Basel, Prag, Wien und Budapest vorstellte, zeigt die Stringenz und Konsequenz seiner künstlerischen Arbeit. Der Vortrag ist vor kurzem als Erstveröffentlichung in unserer Schriftenreihe erschienen!