„Und wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel fiel die Nachricht von Winckelmanns Tod zwischen uns nieder.“ Mit diesen Worten nahm Johann Wolfgang von Goethe den Tod Johann Joachim Winckelmanns am 8. Juli 1768 auf. Der 19-jährige Goethe fiel in Leipzig von einer Aufregung in die andere. Kurz zuvor noch hatte das intellektuelle Deutschland die Nachricht enthusiasmiert, der Ideengeber der europäischen Klassik besuche nach dreizehn Jahren Rom-Aufenthalt zum ersten Mal wieder seine Heimat Deutschland.
1717 als Schustersohn in Stendal in der Altmark geboren, reüssierte der ambitionierte Provinzgelehrte Winckelmann in Rom zum Präfekten der römischen Altertümer, dem obersten Antikenaufseher im Vatikan. Als Altertumswissenschaftler von Weltrang wurde er zum Verkünder einer neuen Vision von Kunst, dessen Antikenbild und Ästhetik bis heute leitende Parameter sind. Goethe widmete seine Programmschrift Winckelmann und sein Jahrhundert der Strahlkraft des Ausnahmegelehrten, der als Autor der Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst und der Geschichte der Kunst des Altertums bereits zu Lebzeiten international rezipiert wurde.
1755, im Erscheinungsjahr seiner ersten Schrift Gedanken über die Nachahmung, besuchte Winckelmann Regensburg das erste Mal auf dem Weg in ein neues Leben nach Rom. Hiervon ausgehend spannt mein Vortrag den biographisch-geographischen Bogen zu Winckelmanns zweitem Regensburg-Aufenthalt. 1768 brach Winckelmann seine Deutschlandreise in Regensburg ab, um über Triest an seinen Sehnsuchtsort Rom zurückzukehren. Das Motto des Vortrages „Torniamo a Roma“ (Kehren wir nach Rom zurück) folgt dem hierfür leitmotivischen Zitat Winckelmanns.
Winckelmanns erster Besuch in der Stadt des Immerwährenden Reichstages erfolgte im Zuge seiner Übersiedlung nach Rom. Gerade zum Katholizismus konvertiert und existentiell abgesichert durch ein zweijähriges Stipendium des sächsischen Königs reiste er im September 1755 von Dresden über Eger, Amberg, Regensburg und Neuburg an der Donau weiter nach Augsburg, Tirol, Innsbruck, Trient und Venedig nach Rom, seinem neuen Lebensmittelpunkt.
An seinen Jugendfreund Berendis schreibt Winckelmann am 20. Dezember 1755: „Liebster Freund und Bruder! Heute als den Mittwoch, da ich dieses schreibe, sind es eben vier Wochen, daß ich in Rom gesund und vergnügt, nach einer Reise von ganzen acht Wochen, angelangt bin. Ich ging von Dresden über Eger, Amberg in der Oberpfalz, Regensburg bis nach Neuberg [sic!] an der Donau, durch Extrapost mit einem jungen Jesuiten in einer höchst peinlichen Gesellschaft, die ich aber nicht refüsieren konnte […]. Ich hatte noch überdies ein Präsent von 120 Dukaten an das Kollegium zu Regensburg bei mir, welches machte, daß ein jeder sich bemühte mir zu dienen. In Regensburg habe ich die Bibliothek des Herrn Grafen von Palm gesehen, welches eine der größten Privatbibliotheken werden wird, wenn der Besitzer fortfährt, wie er angefangen“
Das von Winckelmann erwähnte Kollegium ist das vormalige Kloster Mittelmünster St. Paul und spätere Regensburger Jesuitenkolleg am Jesuitenplatz, das 1809 im Zuge des napoleonischen Sturmbeschusses abgebrannt ist. Mit der überregional bekannten Bibliothek des Reichsgrafen von Palm erwähnt der Bibliothecarius Winckelmann eine der großen adeligen Regensburger Privatbibliotheken der Aufklärung, die nach dem Tod ihres Besitzers zerschlagen und um 1800 versteigert wurde.
1763 gab es in Rom eine indirekte Berührung mit Regensburg durch die Begegnung Winckelmanns mit dem achtzehnjährigen Karl Theodor von Dalberg. Der damalige Domherr
zu Mainz und spätere Fürstbischof von Regensburg (1802–1817) unternahm eine Kavalierstour nach Italien. Gerade von Papst Clemens XIII. zum Scrittore und Commissario delle Antichità della Camera Apostolica ernannt, was Winckelmann mit Antiquar und schließlich Präsident der römischen Altertümer übersetzte, war es eine von Winckelmanns Aufgaben, hochstehende Reisende als Cicerone durch Rom zu führen, so auch Dalberg. Während Dalberg nüchtern notierte, „die Kunstschätze Roms unter Winckelmanns Anleitung angesehen“, war jener von Dalbergs Person und seinem Interesse an der römischen Kunst so eingenommen, dass er ihm eine Schrift Über den verderbten Geschmack in Künsten und Wissenschaften widmen wollte.
Fünf Jahre später unternahm Winckelmann seine langgeplante Deutschlandreise mit den beiden lebenswegweisenden Stationen Regensburg und Triest. 13 Jahre lagen zwischen Winckelmanns Aufbruch aus Deutschland und seiner Deutschladtour 1768. Der Grund von Winckelmanns Reise bleibt ebenso ungeklärt wie deren Abbruch. Am plausibelsten erscheint, dass der eigentlich reisemüde Gelehrte den immer drängenderen Einladungen seiner Freunde und Bewunderer folgte.
Am 10. April 1768 trat Winckelmann auf dem Landweg seine wiederholt aufgeschobene Deutschlandreise an. Die Reiseroute führte von Rom über Bologna, Venedig und Verona, über die Alpen durch Tirol nach Augsburg, München und Regensburg. Anschließend waren Aufenthalte in Wien, Prag, Leipzig, Dessau, Dresden, Nothnitz, Braunschweig, Berlin, Hannover und Göttingen vereinbart. Im Herbst wollte Winckelmann von der Schweiz aus nach Italien zurückkehren.
Die fünfwöchige Deutschlandreise ist vor allem von Winckelmanns Reisebegleiter Bartolomeo Cavaceppi dokumentiert. Dessen Reisebericht im zweiten Band seiner Raccoltà flankiert Winckelmanns spärliche Korrespondenz. Der Bildhauer und Antikenhändler galt als bedeutendster Restaurator antiker Skulpturen in Rom.
Je weiter sich Winckelmann von Italien entfernte, desto unkalkulierbarer wurde seine Verfasstheit. Auf der beschwerlichen Fahrt in der Postkutsche durch die Tiroler Alpen entwickelte Winckelmann laut Cavaceppi eine „mania e aversione incredibile“ gegen die „abscheulich hohen Berge“ und die ärmliche „abgeschmackte Bauart“. In Winckelmanns Ausbruch äußert sich mehr als die Ablehnung eines ungeschätzten Baustils oder einer Landschaft. Er artikuliert vielmehr die physische Abscheu gegenüber einer Lebensform. Hier deutet sich das Hiat zwischen nordalpiner und mediterraner Lebenswelt, zwischen ländlicher Enge und urbaner Freiheit an, das auf Winckelmanns Weiterreise als biographischer Abgrund weiter aufbrechen sollte.
Die elegante römische Urbanität, die er vermisste, sollte seine Reise nach Bayern prägen, wo sich sein seelischer Zustand zunehmend verschlechterte. Den verstimmten und unzufriedenen Winckelmann schleppte Cavaceppi – „lo strascinai“ – wie er auf Italienisch schrieb, von München nach Regensburg förmlich mit. In Regensburg traf Winckelmann den unumkehrbaren Entschluss, unverzüglich nach Rom zurückzureisen. Auf Cavaceppis Fragen nach seinem Befinden und Vorhaben antwortete er geradezu mantra-artig „Torniamo a Roma“.
Im Gegensatz zu Winckelmanns erstem Regensburg-Besuch sind – wohl aufgrund seiner Verfassung – weder Ankunftsdatum noch Aufenthaltsdauer oder Unterkunft in Regensburg für Anfang Mai 1768 überliefert – weder von Winckelmann noch von Cavaceppi. Cavaceppi erwähnt nur das Ankommen in „Ratisbona“ und konzentriert seine weitere Beschreibung ganz auf den unkalkulierbaren Zustand Winckelmanns. Das Curbayerische Intelligenzblatt von 1768 vermerkt Winckelmanns und Cavaceppis Besuch in München ebenso wenig wie das Regensburgische Diarium deren anschließenden Aufenthalt in Regensburg.
Als wichtige Primärquelle für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts notiert das in den Jahren zwischen 1760 und 1810 als amtliches Mitteilungsblatt wöchentlich in Regensburg erscheinende Regensburgische Diarium auch die jeweils in der Stadt „angekommenen und abgegangenen Herrschaften und Passagiers“ sowie deren Unterkunft. Unter den internationalen Regensburg-Besuchern sind in dem Zeitraum zwischen Ende April und Anfang Mai weder ein Signor Cavaceppi noch ein Signor Giovanni verzeichnet, dem Prenonym, unter dem Winckelmann inkognito reiste. Regensburg war bis Mitte des 19. Jahrhunderts von einer Stadtmauer umgeben, so dass Winckelmanns Einfahrt mit dem Postwagen wohl über das Peterstor als der landseitigen Haupteinfahrt von Süden erfolgt ist.
Winckelmanns und Cavaceppis Abreise aus Regensburg kann auf dem Landweg zwischen 6. und 8. Mai angenommen werden, da die gemeinsame Ankunft in der nächsten Reisestation Wien für den 12. Mai dokumentiert ist. Wien war von Regensburg aus aufgrund der guten Postkutschenverbindung mit dem Postwagen in sechs Tagen zu erreichen. Per posta – also im eigenen oder geliehenen Wagen auf der Route der Thurn und Taxisʼschen Poststationen – erreichte der Wiener Cours sein Ziel „zum Ostentor hinaus“ über Straubing, Passau und Linz sogar in vier Tagen. Vor allem letztere Verbindung ist aufgrund ihrer Schnelligkeit ebenso als Transportweg in Betracht zu ziehen wie der noch raschere Wasserweg per Schiff.
Spekulation bleibt auch, wo die beiden Reisenden in Regensburg nächtigten – Cavaceppi spricht von einer albergo: Neben den Kaiserherbergen 3 Helme und dem Goldenen Kreuz am Haidplatz war das Weiße Lamm am Donauufer, wo später Goethe und Mozart nächtigten, eine renommé-politisch bevorzugte Übernachtungs-Adresse für Personen von Stand.
Laut Cavaceppi schrieb Winckelmann aus Regensburg zwei heute verschollene Briefe nach Rom. In einem Schreiben kündigte er Kardinal Albani seine Rückkehr nach Rom an und versichert seiner „Ehrwürdigen Eminenz, daß alles Gold in der Welt ihn nicht bewegen könne, Rom aufzugeben.“ In dem zweiten Schreiben aus Regensburg bat er den Zeichner und Kupferstecher Niccolo Mogalli seine römische Wohnung für seine Ankunft vorzubereiten.
Über den Grund für den außerplanmäßigen Abbruch von Winckelmanns Deutschlandreise in Regensburg kann nur spekuliert werden. In der selbstbestimmt gegen äußere Einflüsse getroffenen Entscheidung erweist sich der Risikostratege Winckelmann als homo viator in bivio, als Wanderer am Scheideweg, der in das liberum arbitrarum der Willens und Wahlfreiheit gestellt war. Anders als Prodikos Lebenswahl-Parabel von Herakles am Scheideweg, wo sich der mythische Held voraussehbar zwischen Tugend und Laster entscheiden kann, ist Winckelmann in das freie Spiel der Kontingenz gestellt. Vier Faktoren, die meines Erachtens für Winckelmanns multifaktorielle Entscheidung wesentlich waren, nehme ich im Folgenden in den Blick.
Als erster Punkt zu nennen wären gesundheitliche, psychische und reisetechnische Gründe. Eigentlich reiseunwillig und gesundheitlich angeschlagen scheint auch Winckelmanns psychische Belastungsgrenze in Regensburg die Klimax erreicht zu haben. Voraussetzung war die Disposition eines intellektuellen workaholic, dessen Gesundheit von der jahrzehntelangen Nachtarbeit bis an die Grenzen der psychosomatischen Belastbarkeit gezeichnet war. Cava-ceppi zufolge verfiel Winckelmann in Regensburg gänzlich in malinconia.
In Wien angekommen, äußerte sich Winckelmann am 12. Mai in einem Brief an seinen Freund Stosch: „Diese höchst beschwerliche Reise hat mich – anstatt mich zu belustigen außerordentlich schwermütig gemacht und da es nicht möglich ist, mit der benötigten Bequemlichkeit dieselbe zu machen, und fortzusetzen, folglich kein Genuß ist – sehe ich kein Mittel mein Gemüt zu befriedigen und meine Schwermut zu verbannen als nach Rom zurückzukehren […] Ich habe mir von Augsburg an die größte Gewalt angetan, vergnügt zu sein aber mein Herz spricht nein, und der Widerwille gegen diese weite Reise ist nicht zu überwältigen. Ich müsste auf meiner Reise in hundert Städten anhalten und ebenso oft von neuem zu leben anfangen. So bin ich überzeugt, dass für mich außer Rom kein wahres Vergnügen zu erhoffen iste.“
Als weiterer Grund des Reiseabbruchs darf Winckelmanns Entfremdung von Deutschland gelten. Der aufgeklärte Freigeist war in eine vermeintliche Heimat zurückgekehrt, die ihm schon während seines Lebens in Rom wesensfremd geworden war. Am 8. Mai 1768 schreibt er seinem Vertrauten Kardinal Bianconi: „Verärgert von der langen, mühevollen Reise und von dem immer gleichen Deutschland, denke ich nach Rom zurückzukehren.“ „Infastidito dalla Germania medesima“ impliziert damit, wenn auch ungenannt, die freie Reichsstadt Regensburg.
Betrachtet man das Regensburg-Bild in der Reiseliteratur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wurde die Domstadt von Reisenden – außer in den Beschreibungen Goethes und Gottscheds – überwiegend als altmodisch, dunkel und eng wahrgenommen. „Die Gebäude haben nichts regelmäßiges, nichts nach der neuen Bauart Eingerichtetes. Die meisten Gassen sind sehr enge und die Gebäude sehen von außen fast nichts gleich“, so Johann Christoph Schmidlin ein Jahr nach Winckelmanns Besuch. Zehn Jahre später beschrieb Wilhelm Ludwig Wekhrlin Regensburg als eine „finstere, melancholische und in sich vertiefte Stadt […] Nichts stellt ein lebhafteres Bild von dem schwermüthigen Reichsverfassungskörper, den sie verwahret, dar als sie.“
Der negative Eindruck Regensburgs als Ort des Immerwährenden Reichstages speiste sich wesentlich aus dem schlechten Image des Alten Reiches als einem vermeintlich überkommenen Staatsgebilde. Die Stadt als der Ort der Reichsverfassung stand schlechterdings sinnbildlich für die Reichsverfassung als Ganzes. Tatsächlich waren die Gassen nicht so eng und die Stadt auch nicht so kleinstädtisch, wie in den Berichten unterstellt. Mit rund 20 000 Einwohnern zählte Regensburg zu den 20 größten Städten des Reiches. Die Wahrnehmung Regensburgs als überkommen und überholt scheint das Klischee der mittelalter-feindlichen Aufklärung zu stützen.
Die Beschreibungen spiegeln den Zeitgeschmack der Epoche, die Winckelmanns Diktum der Edlen Einfalt und stillen Größe stilbildend in Europa prägte. Der Baubestand der Regensburger Altstadt entspricht jedenfalls nicht den ästhetischen Normen, die Winckelmann – ausgehend von der Antike – entwickelt hatte und welchen zufolge das Mittelalter als Zeit der Abwesenheit klassischer Schönheit galt.
Das weltläufige liberale Rom hingegen war für Winckelmann auch innere Heimat, ein ästhetischer Sehnsuchtsort und Gelehrten-Elysium, in dem er sich auch als Homosexueller „im Leben und Denken frei und reich wie ein König“ fühlte. „Winckelmann in Rom, der olympische Renner am Ziel“, diese Worte Friedrich August Riedels drücken die insgesamt dreizehn Jahre in Rom aus, in denen Winckelmann selbst seine Lebenszeit bemisst.
1762 schrieb er: „[…] ich habe bis in das achte Jahr gelebet, dieses ist die Zeit meines Aufenthalts in Rom. Hier habe ich meine Jugend, die ich teils in der Wildheit, teils in Arbeit und Kummer verloren, zurückzurufen gesuchet, und ich sterbe wenigstens zufriedener, denn ich habe alles was ich wünschte erlanget, ja mehr als ich denken, hoffen und verdienen konnte.“
Nachdem Winckelmann 1755 der karrierestrategisch wagemutige Umzug nach Rom geglückt war, inszenierte er seine gesellschaftliche Unabhängigkeit und Freundschaft zu Künstlern gerne im self-fashioning. Ein Indiz für die Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen und höfischen Etiketten der Weltmetropole Rom war der Dresscode des intellektuellen fashionisto. Die Befreiung des Italien-Erlebnisses und die Übersiedlung nach Rom fasst Winckelmann in einem Brief an Berendis 1757 in die ultimative Maxime: „Alles ist nichts gegen Rom“. Hier postulierte und übertrug Winckelmann die schöpferischen Kreativräume des Künstlerstatusʼ auf die Schaffensbedingungen seiner Gelehrtenexistenz.
Für Winckelmann, der Griechenland nie bereist hatte, war die römische Barockmetropole die Stadt der Freiheit und Schönheit. Hier fand der „römisch gewordene Preuße“ den persönlichen Freiraum und den Erfüllungsort für seine protestantische Arbeitsethik. Das Lob Roms als „Land der Menschlichkeit“ band Winckelmann immer an die Bedingungen einer freien Gelehrtenexistenz, die es ihm ermöglichte, seine Geschichtswerke auch während seiner Anstellung bei Kardinal Albani, Papst Benedict XIV. und Papst Clemens VIII. zu verfassen. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen dort stellte er gegen die fruchtlose Plackerei in Deutschland, dem „Land der Märteley“. Die Liberalität der metropolen Urbanität Roms kontrastierte er mit der „Cathedral-Ernsthaftigkeit“ des provinziellen Lebensstils in Deutschland. Seinen deutschen Briefpartnern gegenüber inszenierte der Rom-Enthusiast die südliche Gelehrten-Enklave als Gegenmodell zur pedantischen deutschen Universitätsordnung. Ein Jahr vor seinem Tod schrieb er an Wiedewelt: Da Rom „ein Land ist, wo niemand befiehlt, und niemand gehorcht, bin ich auch völlig in dem Besitze und Genuß aller dieser Vorzüge“.
Freiheit ist eine Schlüsselkategorie für Winckelmanns Person und Kunstverständnis. Das Lob des Kirchenstaates als „Land der Menschlichkeit, wo ein jeder macht, was er will“ verband der Deutschrömer Winckelmann mit dem klassischen Humanitätsbegriff. Den Konnex von politscher Freiheit und künstlerischer Blüte als Voraussetzung griechischer Kunst und deren Vorbildbildfunktion für ein allgemeines Konzept ästhetischer Bildung wurzelt bereits in den Gedanken über die Nachahmung. In Rom entwickelte Winckelmann die Maxime, dass die Erkenntnis des Kunstschönen nur über sinnliche Anschauung der Werke erfahrbar sei. Da von Rom aus „die aus der Asche erweckte griechische Kunst in ganz Europa verbreitet wurde,“ war die „Hauptstadt der Welt“ für Winckelmann auch in neuerer Zeit „Gesetzgeberin und Lehrerin aller Welt“.
Dass der homme de lettres auf der bis Oktober geplanten Deutschlandreise über ein halbes Jahr vom unfertigen Skript des dritten Bandes der Monumenti ineditii getrennt gewesen wäre, könnte ein dritter, nun pragmatisch-arbeitsökonomischer Grund für den Abbruch der Reise gewesen sein. Angesichts dessen, dass der intellektuelle workaholic seine Altersversorgung in das Werk investiert hatte, war dies eine horrende Investition, intellektuell wie materiell.
Eine ebenso pragmatische wie risikovermeidende Strategie, die in den Reiseabbruch hinein-
gespielt haben könnte, wäre die Konfrontation mit seinem Intimfeind Giovanni Battista Casanova in Dresden gewesen. Der Einschätzung von Winckelmanns ehemaligem Bibliothe-karskollegen Johann Michael Francke 1769 zufolge „hätte ihn in Dreßden eine Prostitution“ (Verleumdung) erwartet und er wäre „gewiß arretirt“ worden, da Casanova, Winckelmann am sächsischen Hofe verleumdet hatte.
Casanova, den Winckelmann einst als „besten Zeichner in Rom“ gerühmt hatte, blamierte Winckelmann 1760/61 mit gefälschten Zeichnungen nach angeblich wiederentdeckten antiken Wandmalereien, wie bereits Casanovas Lehrer Anton Raffael Mengs. Nachdem Winckelmann die falschen Zeichnungen in der Geschichte der Kunst der Altertums veröffentlicht hatte, kam es zum Bruch. Regensburg als Rückreise-Station nach Italien könnte somit auch eine pragmatische Entscheidung des Risikostrategen Winckelmann gewesen sein.
Von Regensburg aus fuhr Winckelmann zusammen mit Cavaceppi nach Wien, wo er Kaiserin Maria Theresia eine Depesche Albanis übergab und für seine wissenschaftlichen Leistungen goldene sowie silberne Schaumünzen erhielt. Am 28. Mai reiste er weiter in die habsburgisch-österreichische Hafenstadt Triest, wo er am 1. Juni 1768 morgens allein in einer Postkutsche ankam. Während er dort auf eine Schiffspassage nach Venedig oder Ancona wartete, begegnete er seinem Mörder Francesco Arcangeli – also Erzengel.
Winckelmanns Tod in Triest wurde in den letzten 250 Jahren einer Vielzahl von Deutungen unterworfen, von einer jesuitischen Verschwörung bis zur Doppelgängertheorie. 1768 erstach der arbeitslose, vorbestrafte Koch Arcangeli den bekanntesten Intellektuellen seiner Zeit in der Osteria Locanda Grande an der Piazza San Pietro in Triest gegen 10 Uhr morgens in seinem Hotelzimmer laut Sektionsprotokoll mit fünf Messerstichen in die Brust. Hauptmotiv für den brutalen Meuchelmord scheint die Geldgier seines Zimmernachbarn Arcangeli, der für Winckelmann Botengänge erledigt sowie ihm bei Essen und Spaziergängen Gesellschaft geleistet hatte.
Der Tathergang ist nicht zuletzt durch Winckelmanns eigene Schilderung detailliert dokumentiert. Durch die vollständig überlieferten Prozessakten darf Winckelmanns tragischer Tod in Triest als einer der bestdokumentierten Mordfälle des 18. Jahrhunderts gelten. (siehe Abb. 4) Innerhalb der sechs Stunden, in denen Winckelmann innerlich verblutete, waren Ärzte, Rechts- und Polizeivertreter sowie Hotelpersonal anwesend. Ein Priester nahm ihm die Beichte ab.
Nur Eines blieb ungesagt: Was bewegte den Direktor der vatikanischen Kunstschätze, einem ihm Unbekannten in Triest die Gold- und Silbermünzen der österreichischen Kaiserin zu zeigen? Was veranlasste ihn, der in Rom, mit allen Wassern gewaschen wurde, innerhalb von sechs Tagen mit einem Fremden so vertraut zu verkehren, dass ihn dieser ungehindert in seinem Zimmer mit Messer und Schlinge um sein Leben bringen konnte? Hier waren offenbar zwei Männer aufeinander getroffen, deren äußere Camouflage auch eine innere indizierte. Der Präfekt der römischen Altertümer, der inkognito als Signor Giovanni in schwarzer Reisekleidung ohne offizielle Amtskutte eine Anonymität in Triest lebte, die in einem faustischen Finale endete – starb durch einen ausweislich der Protokollakten gedrungenen pockennarbigen Kriminellen, der in der abgetragenen Kleidung eines Herrn auftrat.
Arcangeli wurde bereits am 10. Juli 1768 auf der Piazza Grande in Triest zum Tod durch Rädern verurteilt.
Winckelmanns Tod in Triest hat immer wieder auch die Fantasie von Schriftstellern angeregt. In seinem Erzählfragment Winckelmann. Das Verhängnis von 1954 deutet der Literaturnobelpreisträger Gerhard Hauptmann Winckelmann als innerlich Zerrissenen. In Hauptmanns Werk tobt der Widerstreit eines Gelehrten, der einerseits der Erhabenheit antiker Gipfelwerke wie dem Apoll von Belvedere und der Schönheit junger Männer ergeben war und andererseits eine Affinität zum Fatalistischen und zur Subkultur besaß. Diese Dimension klingt in einem Brief von Winckelmanns Nötnitzer Bibliothekskollegen Francke an. Darin äußert er sich 1769 erschüttert über Winckelmanns Schicksal und deutet an, er habe immer „seinen traurigen und gewaltsamen Tod befürchtet“. Der wohl berühmteste Kriminalfall der deutschen Geistesgeschichte birgt das komplexe Psychogramm eines Menschen, der Goethe zufolge „das ganze Leben“ ausagiert habe, auch dessen homosexuelle und damals gesetzeswidrige Komponenten. Dieses biographische Spektrum beinhaltet das Apollinische ebenso wie das Dionysische.
Abschließend gilt festzuhalten: Torniamo a Roma ist die Beschwörungsformel eines Entwurzelten für ein lokales Phantom mit realen Zügen. Das heißt: Mit dem Aufbruch aus Rom und der Reise nach Deutschland war auch der Begriff Heimat oder Vaterland verbunden, den Winckelmann so allerdings nie verwandte. In Deutschland nicht mehr heimisch, erlebte er Rom und Italien in späteren Jahren zwiespältig, fühlte sich als konvertierter Protestant, als luterano, zunehmend isoliert und als fremder Gast, isolato e escluso. Am Ende seiner römischen Jahre empfand er sich dort als ein zu spät Angekommener, zu spät noch einmal „veste e natura“, also Habit und Naturell, zu wechseln. Im homo viator-Topos, der Wesensbeschreibung des Menschen als Wanderer, schildert der Schriftsteller Giosuè Carducci Winckelmann im Saluto italico der Odi Barbare 1877 als Reisenden zwischen zwei Völkern.
Die internationale Strahlkraft des Gelehrten zeigt sich Cavaceppi zufolge auch in dessen Tod.
So sei der funesto caso, der düstere Fall, des berühmten Abbate Giovanni Winckelmann breiter rezipiert worden als der zeitnahe Tod der französischen Königin Marie-Caroline-Sophie-Félicité Leszczyńska. Goethe beurteilte den Tod Winckelmanns in seiner Programmschrift Winckelmann und sein Jahrhundert 1805 teleologisch als humanistisches Opfer eines Götterlieblings für die Nachgeborenen, aus dessen Erbe auch Funken der Inspiration für Bayern schlagen.