Wieviel Geschichte braucht der Soldat, wieviel Tradition brauchen Streitkräfte? Schon nach einem oberflächlichen Blick auf die Traditionspflege in europäischen und außereuropäischen Armeen gewinnt man den Eindruck, Streitkräfte, das Militär, Soldaten haben ein stärker ausgeprägtes geschichtliches Kontinuitätsbedürfnis, ein essentielleres Verlangen nach Tradition als andere berufliche und soziale Gruppen. Und wenn dies so ist, stellt sich die Frage, ob es hierfür Gründe gibt, die aus einem besonderen Charakter der militärischen Institutionen und der Kernaufgaben des Soldaten resultieren.
- Ist es die Privilegierung und Alleinstellung der bewaffneten Macht in Staat und Gesellschaft, die der Legitimation aus der Geschichte bedarf?
- Ist es die Dominanz der ständigen theoretischen und praktischen Vorbereitung auf nur sehr selten oder nie stattfindende Einsätze, dieses berufsspezifische „Vollgas mit aufgebockten Rädern“, das nach einem Ausgleich in den konkreten Kämpfen und Schlachten der Vergangenheit sucht?
- Ist es ein besonderes Verlangen nach Selbstgewissheit, Orientierung und mentaler Sicherheit angesichts der zum Berufsbild gehörenden, letztlich todbringenden Gewaltanwendung?
- Steckt dahinter eine Kompensation für einen im Kriegsfall jederzeit möglichen „verkürzten Aufenthalt in der Gegenwart“, verlängert der Soldat also mit der Vergangenheit sein vielleicht sehr kurzes Leben?
- Braucht man für die berufstypische Bereitschaft, sein Leben für andere einzusetzen, in besonderer Weise Orientierung durch historische Leitbilder, Stabilisierung durch persönliche Vorbilder, Motivation aus der Geschichte?
Fragen, auf die man von unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen wie der Soziologie, der Psychologie, der Philosophie oder der historischen Forschung Antworten erwarten darf.
I.
Der Historiker stellt zunächst einmal fest, dass sich vielerorts ein besonderes, ein eigentümliches Verhältnis von Militär, Geschichte und Tradition beobachten lässt und dass dieses Verhältnis trotz unterschiedlicher nationaler Ausprägungen Ähnlichkeiten aufweist. So, zum Beispiel, große Zeiträume übergreifende Kontinuitätslinien oder die Grundüberzeugung, dass eine Streitmacht ohne Traditionsbewusstsein perspektiv- und orientierungslos sei.
Bei den Streitkräften der deutschen Staaten bis zum Ersten Weltkrieg, bei der Reichswehr und der Wehrmacht ist der Befund ähnlich. Aber der fundamentale deutsche Kulturbruch der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs hatte auch einen militärischen Traditionsbruch zur Folge. Ein führender Sicherheitsberater der Regierung Adenauer formulierte 1950 im Zusammenhang mit der Erarbeitung der Himmeroder Denkschrift, einem Gründungsdokument der Bundeswehr: „Das Wort Tradition wird keinen Platz im Vokabular des zukünftigen deutschen Soldaten haben.“
Doch auch wenn das Reformprogramm der westdeutschen Wiederbewaffnung nicht zu Unrecht als „Anti-Traditions-Konzept“ charakterisiert worden ist, war die Geschichte der Bundeswehr von Anfang an auch von der alten soldatischen Suche nach dem „gültigen Erbe“ beeinflusst. Gordon A. Craig hat die Traditionsfrage als das größte Problem der beginnenden Wiederbewaffnung Deutschlands bezeichnet.
In der deutschen Geschichte seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lassen sich bei der Frage nach „Militär und Tradition“ drei Abschnitte mit unterschiedlicher zeitlicher Ausdehnung unterscheiden.
Da ist zunächst der lange, von den napoleonischen Kriegen und den sogenannten „Befreiungskriegen“ bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges reichende Zeitraum einer geradezu apologetischen Selbstgewissheit des Militärs. Diese ist durch eine zivil-militärische Wechselwirkung untrennbar verbunden mit einer positiven Einschätzung der eigenen Streitkräfte durch große Teile der Gesellschaft und durch die staatlichen Institutionen.
Zwar sind die Entwicklungen in den deutschen Staaten uneinheitlich und zum Teil phasenverschoben, aber fast überall wird im Deutschen Reich zwischen 1870/71 und 1914 ein Höhepunkt erreicht. Dieser ist gekennzeichnet von einer gesellschaftlichen Hochschätzung und Präsenz des Militärs, dann einem starken Selbstbewusstsein der Offizierskorps und der Generalität sowie einem erheblichen politischen Einfluss des Streitkräftekomplexes im Staat.
Veteranen- und Kriegerverbände sowie Regimentsvereine waren besonders mitgliederstark und prägten eine facettenreiche und präsente öffentliche Militärkultur. Die Regimenter waren wichtigste Träger kriegerisch-vaterländischer und konservativ-monarchischer Traditionsstiftung in Preußen seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Wencke-Meteling). Das gilt aber auch – mutatis mutandis – für Bayern, wo beispielsweise das Königlich bayerische Infanterie-Leibregiment wenige Wochen vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs mit einer großen öffentlichen Geschichtsparade im Park des Nymphenburger Schlosses sein hundertjähriges Jubiläum in historischen Uniformen feierte.
Ein erheblicher Teil der Legitimation dieses Systems, das vielfach als sozialer und politischer Militarismus beschrieben wird (und dem auch Elemente eines volkstümlichen „Folkloremilitarismus“ zugeschrieben werden dürfen), waren der Bezug auf kriegsgeschichtliche Leistungen der Armeen und einzelner Soldaten und auf die ruhmreiche Vergangenheit des Heeres mit ihren Schlachten und Siegen, waren militärische Tradition und soldatische Erinnerungskultur, die im 19. Jahrhundert gleichsam nationalstaatlich akzeptiert, angeeignet und instrumentalisiert wurden.
Eine zentrale Rolle spielte dabei eine anwendungsbezogene, dem Ruhm, der Ehre, der Vermittlung von Vorbildern und der mentalen Aufrüstung verpflichteten Kriegsgeschichte. Formuliert und vermittelt wurde diese nicht von der sich ungefähr gleichzeitig historistisch professionalisierenden universitären Geschichtswissenschaft, sondern von einer innermilitärischen Deutungselite, die die Regimentsgeschichten schrieb oder in den entstehenden kriegsgeschichtlichen Abteilungen der Generalstäbe und der neuen Kriegsarchive die Vergangenheit der Heere aufarbeitete.
Eine inhaltliche Analyse der Regimentsgeschichten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert lässt Kontinuität erkennen, bei den Schilderungen der Heldentaten und der ruhmreichen Vergangenheit, den militärischen Ehr- und Ordnungsvorstellungen oder den monarchisch-konservativen Narrativen. Weitere Kennzeichen sind eine zunehmende Selektierung der Inhalte und eine wachsende Konzentration auf „das Positive“.
Mit den Einschränkungen, die sich aus der demokratischen Staatsform ergaben, gilt das bisher Gesagte auch für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, beispielsweise für die kriegsgeschichtliche Arbeit des am 1. Oktober 1919 nach der Auflösung des Großen Generalstabs errichteten pseudo-zivilen Reichsarchivs in Potsdam mit einem Personalstamm von rund 100 Offizieren oder für das ebenfalls in eine schein-zivile Dienststelle umgewandelte Bayerische Kriegsarchiv, beides Einrichtungen mit dem Auftrag, in die Gegenwart hineinwirkendes Gedächtnis für militärischen Tradition zu sein.
Mit Blick auf den Großen Generalstab, das Reichsarchiv und die Rückkehr des „Militarismus“ in der Weimarer Zeit formulierte Friedrich Meinecke 1946: „Und so lebenszäh war dieses Gebilde (der Große Generalstab), so fest geprägt der Menschentypus, den es hervorbrachte, dass es selbst den Versailler Frieden, der es zerstören wollte, überlebte durch getarnte Einrichtungen – etwa die des Reichsarchivs, in dem die Geschichte des Weltkriegs nun von den führenden Generalstäblern bearbeitet wurde. So konnte das Hunderttausendmannheer der Reichswehr mit dem Geiste dieses Generalstabs erfüllt werden, und dieses kleine Kadreheer der Reichswehr konnte dann wieder das Riesenheer des Zweiten Weltkriegs ins Leben rufen und einen Generalstab dafür schaffen, der die Tradition des früheren fortsetzte.“
Freilich hatten die Niederlage von 1918, das breite parteipolitische Spektrum der Weimarer Demokratie, die pluralistischer werdende Gesellschaft, die Medien- und Meinungsvielfalt in einem Zeitalter der Extreme auch Folgen für die Bewertung von militärischem Ruhm und soldatischer Ehre. Entwicklungen, die in der Reichswehr kritisch gesehen wurden. Der Übergang von der Reichswehr zur Wehrmacht, die wachsende Bereitschaft zur Unterstützung Hitlers, die Akzeptanz des nationalsozialistischen Staates und mehr und mehr auch die Zustimmung zur faschistischen Ideologie waren verbunden mit dem Wunsch nach der Rückgewinnung der Vorkriegsstellung der Streitkräfte in Staat und Gesellschaft, der Wiedererlangung des früheren Prestiges und der Restitution der „glänzenden militärischen Vergangenheiten“. Letztlich wirkten dann aber die Wehrmacht, ihre Führung und bewusst oder unbewusst auch viele Soldaten mit an der Zerrüttung und Pervertierung zentraler Elemente der überkommenen militärisches Traditionsvorstellungen.
II.
Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und des Deutschen Reiches vom 7. Mai 1945 war scheinbar auch ein unconditional surrender der militärischen Tradition. Die „ruhmreichen militärischen Vergangenheiten“ schienen in der vermeintlichen Stunde Null mit der Wehrmacht untergegangen zu sein. Aber schon nach wenigen Jahren begann eine neue Phase soldatischer Erinnerungskultur und militärischer Geschichtspolitik im Zusammenhang mit den Vorbereitungen für den Aufbau westdeutscher Nachkriegsstreitkräfte Ende der 1940er und zu Beginn der 1950er Jahren. Man könnte diesen bis in die jüngste Zeitgeschichte reichenden zweiten Abschnitt der Traditionsgeschichte als „Phase der schwebenden Unentschiedenheit“, des „Sowohl als auch“ oder der „Versuche einer Quadratur des Kreises“ überschreiben.
Mit einer sehr weiten Optik kann man dem Urteil Ulrich Herberts zustimmen, dass die enormen gesellschaftlichen und politischen Widerstände gegen die Gründung der Bundeswehr und die ständige Kontrolle durch die Alliierten wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Formierung der westdeutschen Armee von einem klaren Bruch mit allen preußisch-deutschen Militärtraditionen begleitet war. Die Bewerber für Offiziersstellen wurden von einem Personalgutachterausschuss einer sorgfältigen Überprüfung unterzogen, bei der auch das Traditionsverständnis thematisiert wurde.
Mit einer etwas engeren Optik wird erkennbar, dass die Wirklichkeit doch eher naturtrüb gewesen ist. Auf der erwähnten Himmeroder Tagung 1950 gelang es Wolf Graf von Baudissin nur nach Überwindung erheblicher Widerstände die Feststellung in die Abschlussdenkschrift aufzunehmen, dass es darauf ankomme, „ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht grundlegend Neues zu schaffen.“ Schon bald wurden auch öffentlich Gegenstimmen laut, so wenn der spätere Inspekteur der Marine Karl-Adolf Zenker im Januar 1956 die neue Bundesmarine fast bruchlos in die Tradition der Kriegsmarine und ihrer wegen Kriegsverbrechen verurteilten Oberbefehlshaber Raeder und Dönitz stellte. Zum ersten Mal wurde daraufhin die Traditionsproblematik im Verteidigungsausschuss des Bundestages erörtert. Auch der Personalgutachterausschuss war ein Sieb mit ziemlich großen Löchern.
Dass diese Widersprüche und Ambivalenzen keine innermilitärische Angelegenheit gewesen sind, zeigt beispielsweise eine gerade veröffentlichte Untersuchung über den ersten westdeutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss und seine Haltung zum Militär. Da ist einerseits die Position einer kritischen Geschichtspolitik mit deutlicher Distanz zu den überkommenen Traditionen. Das alte militärische Ehr- und Würdegefühl sei durch das Eindringen nationalsozialistischer Denkgewöhnung fast vollkommen „erweicht“. Und weiter: „Die Linie Gneisenau-Moltke-Schlieffen (…) endet und verschwindet, zerfasert und geknickt, im vollen intellektuellen und moralischen Ungenügen, ein Körper, der wie wenige geschichtsmächtig war, stirbt, ohne dass der Ausgang auch nur ein geringes Symbol seiner Würde schafft.“ Jener miles gloriosus sei untergegangen, nachdem seine Hybris ihn zum Totengräber des Schicksals einer Nation gemacht hat. Heuss warnte vor der Mumifizierung soldatischer Erinnerungskultur, wie er sie bei sogenannten Traditionsverbänden erkenne. In der Führungsakademie der Bundeswehr stellte er 1959 in seiner großen Rede „Soldatentum in unserer Zeit“ apodiktisch fest: „Eine eigenständige, eine autonome preußisch-deutsche Militärgeschichte ist zu Ende; sie gibt es nicht mehr.“ Zugleich ermunterte er die Bundeswehr mit der Aufforderung: „ Eine Tradition selber zu schaffen, ist viel schwieriger, aber auch großartiger, als sie in den Resten und Formen verjährter Gesinnung zu suchen und zu pflegen.“
Zugleich aber lässt sich bei Heuss eine Geschichtspolitik beobachten, die nach militärischen Traditionen sucht, die gleichsam als uneingelöstes Versprechen einer „unbeschädigten“ nationalen Vergangenheit verstanden werden können. Der Bundespräsident stellte sich eine Frage, die mehr und mehr auch von den Militärreformern diskutiert wurde, nämlich welche militärischen Traditionen für die Armee einer freiheitlich demokratischen Grundordnung herangezogen und vielleicht sogar Legitimationsquellen für die militärische Neuorientierung der Bundeswehr werden können. Der Traditionsbegriff wurde dabei auf das „gültige Erbe“ im Sinne „gültiger Werthaltungen“ konzentriert und bewusst von äußerlichen und zeitbedingten Konventionen geschieden. Freiheit, Recht und Menschenwürde waren zentrale Begriffe, die als gleichsam überzeitliche Anknüpfungspunkte auch aus dem Denken der preußischen Reformer um Stein und Scharnhorst, den Bürgersoldaten verschiedener Nationen, der Revolution von 1848/49 und dem militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus entwickelt wurden.
III.
Das von Heuss und den Reformern entworfene, aus als unbelastet verstandenen Traditionen entwickelte Bild von einem „Bürgersoldaten“ zeichnete die Angehörigen der Streitkräfte als freie, verantwortungsbewusste, von Wissen und Gewissen geleitete Staatsbürger. Diese traditionsskeptische Geschichtspolitik fand keineswegs ungeteilte öffentliche Akzeptanz. Dabei kam der Widerstand vor allem aus jenen Kreisen der Gesellschaft, die in den vergangenen Jahrzehnten die soldatische Überlieferung getragen hatten. „Nach der Kriegsniederlage und bedingungslosen Kapitulation im Ansehen stark beschädigt, suchten gerade die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen Orientierung an vermeintlich bewährten militärischen Traditionen.“ (Ernst Wolfgang Becker).
Das war für Heuss und andere Anlass zu einer Integrationspolitik, mit der auch ehemalige Soldaten für die Bundesrepublik gewonnen werden sollten. Im Spannungsfeld zwischen der überkommenen militärischen Traditionspflege einerseits und den Stunde-Null-Ansätzen der Reformer sowie der weit verbreiteten Distanz zu allem Militärischen in der westdeutschen Bevölkerung andererseits suchte die Politik einen tragbaren Kompromiss. Dieser fand seinen konkreten Ausdruck in den sogenannten Traditionserlassen von 1965 und 1982.
Es kann hier nicht auf Einzelheiten der Inhalte und der bundeswehrinternen und öffentlichen Auseinandersetzung über die Texte oder auf die Diskussionen über die Namensgebung von Kasernen eingegangen werden. Zusammenfassend könnte man aber festhalten, das eine kontroverse, ernsthafte und manchmal auch quälende Auseinandersetzung mit soldatischer Erinnerungskultur, Geschichtspolitik für Streitkräfte und militärischer Traditionspflege ein Teil von Geschichte und Tradition der Bundeswehr ist, ein Teil, den man positiv sehen darf, trotz aller Probleme in Einzelfällen. Das schwere Erbe der deutschen Militärgeschichte, die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit 1945, der Zeitdruck, unter dem manche das Militär betreffende Entscheidungen getroffen werden mussten und die Probleme von Kontinuität und Kontinuitätsbruch, Ausgrenzung und Integration, geistiger Verankerung und militärischer Einsatzbereitschaft machen eine lange Phase der Kompromisse zumindest verständlich.
Eine gewisse „schwebende Unentschiedenheit“, unpräzise Antworten auf präzise Fragen, die immer wieder auch zu öffentlichen Diskussionen und zu Verunsicherung in den Streitkräften führten hingen lange auch damit zusammen, dass die deutsche militär- und kriegsgeschichtliche Forschung sich nach 1945 jahrzehntelang in einer Art Schockstarre befand. Militärische Themen waren für die inner- und außeruniversitäre Forschung vielfach ein belasteter Tabubereich, in dem man sich nur die wissenschaftlichen Finger verbrennen konnte.
Es war eine verständliche Erstarrung der Geschichtswissenschaft, die freilich die Folge hatte, dass die Aufarbeitung der deutschen Militärgeschichte und Militärtradition, die für die im Aufbau befindlichen Streitkräfte so wichtig gewesen wäre, erst sehr spät, vielleicht zu spät einsetzte. Viele historische Darstellungen der deutschen Geschichte verzichteten auf die Behandlung „des Militärs“ als Teil von Staat und Gesellschaft und so prägten vielfach soldatische Erinnerungswerke und Selbstbiografien – etwa Erich von Mansteins 1955 erstmals erschienener Bestseller „Verlorene Siege“ – das Bild der jüngeren militärischen Vergangenheit und einer „sauberen Wehrmacht“. Für die Suche nach dem gültigen Erbe und den richtigen Traditionen der Vergangenheit fehlten der jungen Armee weithin die kritische wissenschaftliche Aufarbeitung vor allem der jüngeren deutschen Militärgeschichte, trotz des 1957/1958 errichteten Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Freiburg im Breisgau.
Ein weiterer Aspekt der „schwebenden Unentschiedenheit“ und der Formelkompromisse in der Traditionsproblematik soll hier noch angesprochen werden, nämlich die nachvollziehbare Nähe der Bundeswehr zu den Soldatenverbänden und zum 1919 aus der Gesellschaft heraus gegründeten Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Von ihrer Aufgabenstellung und Zielsetzung her hatten und haben diese Institutionen einen starken Bezug zu den Streitkräften der Vergangenheit, zu den Armeen des Wilhelminischen Reichs und des Ersten Weltkriegs, zur Reichswehr und zur Wehrmacht. Das hat naturgemäß andere Schwerpunkte beim Blick in die Vergangenheit zur Folge als sie die Traditionsdiskussion in einer Parlamentsarmee unserer Tage haben kann. Hier gab und gibt es Rückkopplungen, die zu Verunsicherungen und Störungen bei der Erinnerungskultur der Streitkräfte führen können.
IV.
Wenn wir nun noch einen Blick auf aktuelle Entwicklungen werfen, so kann man den Eindruck gewinnen, als begänne in unseren Tagen eine neue Phase der Geschichte von soldatischer Erinnerungskultur und Geschichtspolitik für Streitkräfte in der Bundesrepublik. Erste Ansätze eines neuerlichen Paradigmenwechsels findet man im „Weißbuch 1985. Zur Lage und Entwicklung der Bundeswehr“, in dem der Verteidigungsminister eine Überprüfung und Änderung des Traditionserlasses ankündigte. Im Kapitel „Traditionspflege“ stand jetzt die Verankerung des Soldaten und der Streitkräfte in den konstitutionellen und geistigen Rahmenbedingungen der Gegenwart ganz im Vordergrund. Die Traditionspflege wurde als ein Aspekt dieser Verankerung verstanden. „Verbindliche Grundlagen für das Selbstverständnis des Soldaten der Bundeswehr sind die Wertordnung und das darin enthaltene Friedensgebot des Grundgesetzes, die Bindung an das Gewissen sowie das Leitbild der Inneren Führung, des Staatsbürgers in Uniform. Diese Grundlagen bestimmen auch das Traditionsverständnis der Bundeswehr.“
Gefordert wurde eine von den heutigen Werten ausgehende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, eine Überprüfung überkommener Werte, Normen, Bräuche und Gepflogenheiten aus der Erfahrung der Gegenwart heraus. Als Beispiele menschlicher Bewährung und soldatischer Leistung, die tradiert zu werden verdient, wurden genannt die Reformzeit des frühen 19. Jahrhunderts, Tapferkeit und Leiden deutscher Soldaten in Krieg und Gefangenschaft, der Widerstand gegen die NS-Gewaltherrschaft und die Soldaten der Bundeswehr, die ihr Leben einsetzten, um das Leben anderer zu erhalten. Diese bundeswehreigene Tradition wurde jetzt, ganz im Sinne des Zitats von Theodor Heuss von 1959, mit Nachdruck in den Vordergrund gestellt. „Die Bundeswehr kann auf eigene traditionswürdige Leistungen verweisen. Sie bestimmen ihr Selbstverständnis und ihr Bild in der Öffentlichkeit mehr noch als die Überlieferungen aus früherer deutscher Geschichte.“
Der 2018 in Kraft tretende, seit längerem sorgfältig und in breiten Diskussionen vorbereitete neue „Traditionserlass“ setzt hier an, profiliert einen „verfassungsorientierten Patriotismus“ als geistige Basis, die auch die Tradition zu bestimmen habe, behandelt intensiv und kritisch die großen Linien der deutschen Militärgeschichte, betont, dass es keine ungebrochene deutsche Militärtradition gibt, findet klare abgrenzende Worte zur Wehrmacht und zur Nationalen Volksarmee, verweist auf die lange eigene Geschichte der Bundeswehr und ihrer Soldatinnen und Soldaten und legt ein Bekenntnis zum Geschichtswissen ab, das die Voraussetzung für eine wertorientierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sei.
Wenn ich es richtig sehe, so haben der Primat und das Vetorecht einer kritischen Geschichtswissenschaft Anerkennung gefunden, einer Geschichtswissenschaft für die militärgeschichtliche Themen seit geraumer Zeit ein immer selbstverständlicher werdenden Teil der Gesamtbetrachtung geworden sind. Sie dient als Wegweiser bei der Suche nach der historischen Tiefenschärfe einer modernen Armee, nach Rolle und Inhalt von Traditionspflege im Gesamtrahmen der politischen, gesellschaftlichen und geistigen Verankerung der Streitkräfte im demokratischen Staat und in einer globalen Welt.
Dabei wären von der Armee eines Bundesstaates mehr als bisher nicht nur die preußisch-deutsche, sondern auch die teilstaatlichen Militärtraditionen, also die badische, die württembergische, die bayerische, die hessische, die sächsische usw. und ihre Bedeutung für die Streitkräfte eines föderalen Staates in den Blick zu nehmen. Mit zwei Beispielen aus der bayerischen Militärgeschichte soll das konkretisiert werden.
Erstens: Zu den innerbayerischen Umgestaltungsmaßnahmen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, also im und nach dem Zeitalter Napoleons das Neue Bayern entstand, gehörte auch die Modernisierung der Armee. Zu den wichtigsten Reformen der ersten Jahre gehörten die Abschaffung der Möglichkeit, Stellen zu kaufen, Beförderungen sollten künftig nach Verdienst und Dienstzeit erfolgen, die „Ehre der Waffen“ sollte allen Bevölkerungsschichten zuteilwerden, jeder Bewohner wurde als Verteidiger des Staates angesehen. Wichtige Verbesserungen gab es bei Organisation, Bewaffnung und Ausrüstung der Armee. Das Kanton-Reglement von 1805 postulierte den Grundsatz der Wehrpflicht, seine Bedeutung war jedoch vor allem die Tatsache, dass der neue Staat damit eine moderne Wehrverfassung bekam, die 1808 in der Konstitution verankert und im Konskriptionsgesetz von 1812 den raschen Entwicklungen in napoleonischer Zeit angepasst wurde. Die Armee war aus den Staatsuntertanen zu rekrutieren.
Eine neue, mit dem persönlichen Adel verbundene Auszeichnung, der Militär-Max-Joseph-Orden, sollte zur Aufbruchsstimmung in der neuen Bürgerarmee beitragen. Er wurde nicht mehr vom Herrscher allein, sondern von einem Ordenskapitel vergeben. Unnötig hohe Opfer unter den Soldaten zur Befriedigung des persönlichen Ehrgeizes wurden als Ausschlussgrund gesehen. Auch eine Nationalgarde, neue Garnisonen, der Neubau von Kasernen, eine neue Uniform und neue Waffen waren Teil der Reformmaßnahmen für eine Armee, die beim Regierungsantritt Max Josephs eine Stärke von 16.000 Mann hatte und 1815 mit rund 90.000 Soldaten die Höchststärke erreichte.
Bayerns politische Erfolge, die erheblichen Gebietsgewinne, die Erhebung zum Königreich, der deutliche Souveränitätszuwachs im Inneren gerade auch in der Rheinbundzeit nach 1806 beruhten zu einem wesentlichen Teil auf dem neu aufgebauten Heer, das sowohl die Gegner als auch die Verbündeten als machtpolitischen Faktor anerkannten. Mindestens so wichtig war es, dass die Militärverfassung im Inneren des heterogenen Bayerns die politische und soziale Integration der neuen Landesteils vorantrieb und wesentlich zur Ausbildung eines neu- oder gesamtbayerischen Bewusstseins – über alle altbayerischen, schwäbischen, fränkischen und pfälzischen Unterschiede hinweg – beitrug.
Und ein zweites Beispiel: Die mit dem Namen Sigmund von Pranckh verbundene bayerische Heeresreform nach dem verlorenen Krieg von 1866 schuf nicht nur eine moderne Armee, sondern vor allem einen neuen Typ von Offizier durch die Verbindung von „Schwert und Feder“. Voraussetzung für die Aufnahme ins Offizierskorps wurde das Abitur und die Lehrpläne der neuen militärischen Bildungseinrichtungen, insbesondere der bayerischen Generalstabsausbildung hatten ein enormes Niveau. In Preußen und auch im Reichstag sah man das nicht nur mit Freude, in Bayern hatte es aber unter anderen die Folge, dass Offiziere auf den unterschiedlichsten geistes-, natur- und technikwissenschaftlichen Feldern bemerkenswerte Leistungen erbrachten.
V.
Die Bundeswehr ist aber nicht nur die Armee eines föderalen Staates mit seinen unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungen, sondern auch eine Armee in internationaler Verflechtung. Somit wären bei der Traditionsdiskussion auch transnationale Aspekte, eine transnationale Militärgeschichte zu berücksichtigen. Der in Berlin, Potsdam und anderswo immer noch vorherrschende deutsch-nationale Geschichts- und Traditionsblick ist eine Engführung, die zur Irreführung werden kann.
Auch andere aktuelle Entwicklungen haben Folgen für die Traditionspflege, über die man reden muss: der Wandel der Wehrpflichtarmee zur Berufsarmee, dann die militärische Männlichkeitstradition und Gender in einer Armee mit wachsendem Frauenanteil, Kampfeinsätze und Soldatentod in einer Friedensarmee und anderes mehr.
Der neue Traditionserlass betont Gegenwart und Zukunft der Bundeswehr und spricht der Geschichte vor allem eine dienende Rolle zu. Sie ist eine Art Steinbruch für Traditionspflege, Leitbildentwicklung und Vorbildsuche. Das kann man so lassen, wenn dabei nicht aus dem Blick gerät, dass die Kenntnis der Vergangenheit in ihrem ganzen Umfang, mit ihren Höhen und Tiefen, dem Positiven wie dem Schrecklichen unverzichtbare Voraussetzung für Orientierungssicherheit in der Gegenwart und Wegweiser auf dem Weg in die Zukunft ist. Traditionspflege und Leitbilder sind das Eine, unsere Geschichte das Andere. Beides gehört zusammen. Oder um es konkret an einem Beispiel auszudrücken, man muss nicht nur wissen, dass Wehrmacht und Nationale Volksarmee für eine Traditionspflege der Bundeswehr ausscheiden, man muss auch wissen, warum das so ist.
Unsere Ausgangsfrage „Tradition suchen oder Tradition schaffen?“ postuliert keine Gegensätze. Stellt man „Tradition schaffen“ in den Vordergrund, also die möglichst gute, vorbildhafte Erledigung der soldatischen Aufgaben in unserer und für unsere freiheitliche Demokratie, dann will man erreichen, dass in Zukunft dies als Tradition anerkannt werden und weiterwirken kann. Und so wie heutiges vorbildliches militärisches Handeln traditionsbildend wirken kann, so können historische Vor- und Leitbilder Wegbegleiter und Wegweiser sein. Die neuen Richtlinien des Verteidigungsministeriums sind ein zeitgemäßer Rahmen für die nötige Suche in der Geschichte.