Traumkritik in der Bibel

Im Rahmen der Veranstaltung "Traum", 23.10.2019

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Der Traum als unplanbare Konfrontation mit innerem Erleben hat von jeher fasziniert und verstört – und tut es bis heute. Träume können vergewissern, aber auch verwirren. So haben wir in der Antike eine große Bandbreite von Einstellungen zu und Umgangsweisen mit diesem Thema. Auch in der Bibel ist ein unverbundenes Nebeneinander von Offenbarung und Täu­schung, von Sicherheit und Trug im Traum zu beobachten. Was hätten Jakob, Joseph, Salomo und Daniel zu dem gesagt, was in den Büchern Deuteronomium, Sacharja, Micha, Jeremia, Kohelet und Jesus Sirach zu lesen ist? Warum traumkritische Texte überhaupt in der Bibel integriert werden konnten, werde ich am Ende meiner Ausführungen zu beantworten suchen.

Mit den Büchern Deuteronomium, Sacharja, Micha, Jeremia und Jesus Sirach habe ich Ihnen schon die wichtigsten Quellen genannt, auf die ich mich im Folgenden beziehen werde. Dass ich neben neuzeitlicher Forschung zu diesen Büchern immer wieder auch antike christliche Exegeten zitieren werde, hängt an meinem Interesse, auch voraufklärerische Exegese in den Blick zu nehmen, für die es grundsätzlich kaum Widersprüche in der Bibel geben durfte, die aber doch vieles Wesentliche gesehen haben.

Bei kaum einem der im Folgenden zu besprechenden Texte lässt sich eine Entstehung vor der Zeit des babylonischen Exils (586–539) nachweisen. Traumkritische Texte gehören in eine Zeit, in der gleichzeitig die Fremd­götterverehrung in Israel bekämpft wird und infolge dessen tatsächlich auch zurückgeht; die späten alttestamentlichen Belege für die Verehrung fremder Götter in Israel konzentrieren sich auf die frühe nachexilische Zeit.

 

Traumkritik im Pentateuch und in den geschichtlichen Büchern

 

Num 12,6–8

In Numeri 12,6–8 heißt es: „Wenn unter euch ein Prophet ist, dann will ich, JHWH, mich ihm kundmachen in Gesichten oder mit ihm reden in Träumen. 7Aber so steht es nicht mit meinem Knecht Mose; ihm ist mein ganzes Haus anvertraut. 8Von Mund zu Mund rede ich mit ihm, offen und nicht in dunklen Worten…“ Im Kontext geht es um die Auflehnung von Mirjam und Aaron gegen Mose. Die Bedeutung des Wortes jenseits dieses Kontextes liegt in einer doppelten Aussage: 1. Prophetische Traumoffen­ba­rung ist möglich und legitim, allerdings der direkten Rede Gottes an Mose unterlegen; 2. In der Verkündigung des Gesetzes durch Mose gibt es keine „dunklen Worte“, die der Deutung bedürften.

Dtn 13,2–6

In Dtn 13,2–6 wird die Möglichkeit prophetischer Traumoffenbarung nicht grundsätzlich bestritten, sie erscheint jedoch nur in einem Kontext, in dem es um den Abfall von dem einen Gott Israels geht. in diesem literarisch wohl nicht einheitlichen Text heißt es: „Wenn in deiner Mitte ein Prophet oder ein Traumdeuter aufsteht, und er gibt dir ein Zeichen oder einen Wunderbeweis, und das Zeichen und das Wunder, das er dir angekündigt hat, der zu dir spricht „Lasst uns hinter anderen Göttern hergehen, die du nicht kennst, und lass uns ihnen dienen“, so sollst du nicht auf die Worte dieses Propheten oder dieses Traumdeuters hören. Denn JHWH, euer Gott, hat euch auf die Probe gestellt, um zu erfahren, ob ihr JHWH, euren Gott, mit eurem ganzen Herzen und eurer ganzen Seelenkraft liebt. JHWH, eurem Gott, sollt ihr folgen und ihn sollt ihr fürchten. Seine Satzungen sollt ihr halten, auf seine Stimme sollt ihr hören und ihm sollt ihr dienen und ihm anhangen. Und dieser Prophet oder dieser Traumdeuter soll getötet werden, denn er hat einem Hochverrat an JHWH, eurem Gott, das Wort geredet, der euch herausgeführt hat aus dem Land Ägypten und der dich befreit hat aus dem Sklavenhaus, um dich abzubringen von dem Weg, den JHWH, dein Gott, dir geboten hat, um ihm zu folgen.“ Deutlich ist, dass diese Worte das Grundbekenntnis Israels aufneh­men: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist einer. Und du sollst den Herrn Deinen Gott lieb­haben von ganzem Herzen und von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft.“ Deutlich ist auch, dass das, was ich nach Eckart Otto mit „Hoch­verrat“ wiedergegeben habe, in die Sprache ­politischer Loyalitätseide in der Umwelt Israels hineingehört. Der Traum erscheint hier im Kontext wahrer und falscher Prophetie. Andernorts im Deuteronomium (Dtn 18,20–22) wird Prophetie durch zwei Dinge gekenn­zeichnet: 1. Sie ist nicht durch Gott autorisiert; 2. Sie erfüllt sich nicht. Hier jedoch wird die inhaltliche Überein­stimmung mit der Thora, faktisch mit der Verkündigung des Deuteronomiums selbst zum Maßstab rechter und falscher Prophetie gemacht, und der Traum erscheint grund­sätzlich auf der letzteren Seite – völlig unabhängig von und geradezu im Widerspruch zu dem, was in der Genesis über Jakob und Joseph und in 1 Kön 3 über Salomo zu sagen war. Datiert man mit Eckart Otto den Text in die Exilszeit, kann man die Schärfe, die bis zur Todesstrafe für den Propheten führt, als Reaktion auf die Verun­sicherung deuten, ob denn wirklich der Gott Israels oder nicht vielmehr die offen­sicht­lich mächtigeren Götter Babylons die eigentlichen Weltregenten sind. All­fälligen Vorschlägen religiöser Exper­ten wie Propheten und Traum­deutern, die das Volk Israel zu den babylo­nischen Göttern zu bekehren suchen, wird hier eine klare Absage erteilt. Datiert man den Text auf die frühe nach­exilische Zeit, dürfte sich in diesem Text am ehesten der Versuch nieder­schlagen, die Identität Israels ausschließlich durch die Orientierung an die Thora zu definieren, gerade aufgrund dessen, dass Israel mit seinem Gott eine Beziehung hat, die es zu anderen Göttern nicht hat. Die Thora, und sonst nichts, ist die entscheidende Gottesoffenbarung, und rechte Propheten sind nur diejenigen, die in Übereinstimmung mit der Thora verkündigen.

2Chron 1,7

In den geschichtlichen Büchern der Bibel haben wir eine Veränderung zwischen den Königsbüchern und den Chronikbüchern zu vermerken. In 1 Kön 3,5 heißt es: und der Herr erschien Salomo zu Gibeon im Traum des Nachts…“ – da ist der Traum noch wesentliches Medium der Gottes­begegnung. Anders ist dies in der Wiederaufnahme dieses Textes in 2 Chr 1,7: Dieser Text spricht von einer nächtlichen Gotteserscheinung, aber nicht von einem Traum. Man kann fragen, wie wichtig dem Chronisten dieses Detail ist – seine Quellen bieten ansonsten keine Träume, und er bringt von sich aus keine Träume ein. M.E. soll das Ungewisse des Traumes nicht mit der absoluten Zuverlässigkeit Gottes zusammengebracht werden. In den Chronikbüchern wird ja Gott sehr wohl auch als strafend angesehen; sein Handeln wird jedoch fast in eine mechanische Relation zu dem vorangegangenen Handeln der Menschen gestellt. Gott kann grausam sein, aber er ist nicht willkürlich. Und zu dieser festen Überzeugung über Gottes Handeln passt es nicht, dass er sich durch einen unsicheren Traum gegenüber Salomo geoffenbart haben soll. Wie das „Erscheinen Gottes in der Nacht“ allerdings von einem Traum abgegrenzt wird, erfahren wir nicht; an einer theoretischen Konzeptualisierung ist der Verfasser nicht interessiert.

 

Traumkritik in der prophetischen Literatur

 

Jes 29,7–8

In Jes 29,7–8 wird das Illusionäre des Traums kritisch gegen die Feinde Israels namhaft gemacht, und das gilt unabhängig davon, ob man Ariel wie im Masoretischen Text mit Jerusalem oder wie in der Septuaginta mit einer feindlichen Stadt identifiziert. Wann der Text entstanden ist, wissen wir nicht: Für seine Entstehungszeit hat man eine Spanne vom siebten bis ins dritte vorchristliche Jahrhundert hinauf diskutiert. In diesem Text heißt es: 7Und wie ein Traum, wie ein Nachtgesicht, so soll die Menge aller Völker sein, die gegen Ariel kämpfen mit ihrem ganzen Heer und Bollwerk und die ihn ängstigen. 8Denn wie ein Hungriger träumt, dass er esse – wenn er aber aufwacht, so ist sein Verlangen nicht gestillt; und wie ein Durstiger träumt, dass er trinke – wenn er aber aufwacht, ist er matt und durstig: So soll es der Menge aller Völker ergehen, die gegen den Berg Zion kämpfen. In dem Text liegt die Ironie, dass Hunger und Durst, was normalerweise das Schicksal der Belagerten darstellt, nunmehr von den Belagerern ausgesagt wird. Letzt­endlich soll die Errettung Jerusalems betont werden.

In diesem Jesaja-Text wird das Illusionäre des Traumes herausgestellt; der Text ist aber insofern nicht traumkritisch, weil er nicht auf Autoritäts­ansprüche Bezug nimmt, die aus einem Traumerleben abgeleitet werden könnten. Anders ist dies in den folgenden Texten. In diesen Texten, bis zum vierten vorchristlichen Jahrhundert entstanden, werden Träume zunächst trotz Numeri 12,6 hinsichtlich ihrer Herkunft als ungöttlich und hinsichtlich ihrer Wirkung als widergöttlich disquali­fiziert und innerhalb der Diskussion um wahre und falsche Prophetie stets dem letzteren Phänomen zugeordnet

Sach 10,1f.

Das isolierte Mahnwort Sach 10,1f. fordert auf, den Herrn um Regen zu seiner Zeit zu bitten. Die Götzen hingegen reden Lüge und die Wahrsager schauen Trug, und sie erzählen nichtige Träume, und ihr Trösten ist nichts. In seiner Erklärung von Sach 10,1f. begründet Kyrill von Alexandria (†444) die negative Wertung der Träume mit der verderblichen Wirkung, das Volk in Täuschung und Irrtum hinein wegzuführen. Terminologisch wirkt Dtn 13 ein, die Stelle, die wir relativ am Anfang zu bedenken hatten.

Von der antiken Auslegung zur neuzeitlichen Forschung: Wann der Text entstanden ist, wissen wir nicht; „eine ­Datierung scheint kaum möglich“. Nicht recht deutlich wird, an wen der Autor denkt – m.E. legt der Beginn dieses Wortes nahe, dass er Wahrsager im Auge hat, die sich gegenüber Privatleuten betätigten und für ihre Wahrsagekunst bezahlen ließen. In der Tat hat einer der alten Bibelausleger, Theodoret (393–466), die Stelle so interpretiert. Deutlicher ist die theologische Aussage: Die Tätigkeit dieser Wahrsager wird als Verstoß gegen das erste Gebot gewertet. Aber noch im antiken Rom verdienten sich arme Juden damit ihr weniges Geld, dass sie sich als Traumdeuter betätigten, wofür der Satiriker Juvenal nur Spott übrig hat: „Für wenig Geld verkaufen die Juden jede gewünschte Traumdeutung.“

Jer 23,25; 27,8f.; 29,8f.

Jer 23,9–40 ist die ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Problem der wahren vs. der falschen Prophetie, und Jer 23,25 ist die „schärfste Polemik gegen Träume in der Bibel“. Die Verkündigung der anderen Propheten ist nicht durch die Autorität Gottes abgedeckt; inhaltlich ist sie außerdem falsch. Die Wiederholung „Mir hat geträumt, mir hat geträumt“ soll als Äußerung, die den angegriffenen Propheten in den Mund gelegt wird, einerseits ihre Gewissheit markieren, ist aber andererseits aus der Sicht des Autors eher eine Verhöhnung des damit einhergehenden Autoritätsanspruchs. In Jer 27,9 erfahren wir etwas mehr von der Verkündigung dieser Propheten, wenn es heißt „So hört doch nicht auf eure Propheten, Wahrsager, Traumdeuter, Zeichendeuter und Zauberer, die euch sagen: Ihr werdet nicht untertan sein müssen dem König von Babel.“ Nochmals ergeht in Jer 29,8f. das mahnende Wort: „Denn so spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der Herr!“ Leitend ist hier das eine Kriterium aus Dtn 18,20–22: Falsche Prophetie ist diejenige Prophetie, die nicht von Gott autorisiert ist. Woran man das allerdings in der eigenen Gegenwart erkennen soll, wer Gottes Autorität beanspruchen kann und wer nicht, bleibt offen. Diese und ähnliche Warnungen blieben ungehört; die mahnende Zusage „Beugt euch dem Joch des Königs von Babel, und ihr werdet leben“ (Jer 27,12), stieß nicht auf Vertrauen. Man erprobte weiterhin den Aufstand gegen den übermächtigen Gegner. So meinten die Könige Judas zweimal nacheinander bei einem Thronwechsel in Babylon die Tributzahlungen einstellen zu können, mit der Folge, dass 597/96 ein erstes Mal Juden aus der Heimat verschleppt wurden, bevor 587/86 die Zerstörung des salomonischen Tempels und der Stadt Jerusalem sowie die Verschleppung großer Bevölkerungsteile das einläuteten, was als babylonische Gefangenschaft in die Geschichtsbücher einging.

Der Autor der Gesamtkomposition des Jeremiabuches lebt, so der Innsbrucker Alttestamentler Georg Fischer, „gegen Ausgang der Perserzeit (oder nicht allzu lang danach) und steht in harter Auseinander­setzung mit den eigenen Berufskollegen, den Priestern und Propheten. Im Unterschied zu ihnen betont er viel stärker den selbst­ver­schuldeten Anteil am früheren Untergang.“ Doch welche Aktualität konnte solcher Stellungnahme für die eigene Zeit des Verfassers im vierten oder dritten Jahrhundert zukommen? War es die Frage, ob Jerusalem nach dem Tod Alexanders d.Gr. erneut die politische Selbständigkeit anstreben soll? – wir wissen es nicht.

Zwischenfazit

Wir können zusammenfassen: Der aus dem Wider­fahr­­nis­­­cha­rakter von Träumen abgeleitete Offen­ba­rungs- und Autoritäts­anspruch erscheint in pro­phe­tischer Literatur nur im Medium seiner Be­streitung. Diese negative Einschätzung des Traumes ist aus der Rückschau heraus erwachsen. Die Zer­störung Jerusalems 587/86 v. Chr. war der Erweis dafür, dass sich die Un­heils­­pro­phetie Jeremias erfüllt hat, während die Heilsprophetie seiner Gegner verblendete Illusion geblieben war. Deshalb hat man sich auch auf Jeremias Verkündigung des Gottes Israels besonnen. Erst nachdem sich in Israel die alleinige Verehrung des Gottes Israels durch­gesetzt hatte, kann in den Bü­chern Sacharja und Daniel der Prophet jeweils als Empfänger einer nicht proble­matisierten Traumvision erscheinen und in Joel 3,1 das Ergehen von Träumen und Visionen als Kennzeichen göttlicher Geistausgießung benannt werden.

 

Traumkritik in der Weisheitsliteratur

 

Traumkritische Motive begegnen in der Bibel auch in der sog. Weisheits­literatur. Weisheitsliteratur umfasst die Psalmen, die Sprüche Salomos, das Buch Hiob, den Prediger Salomo, Jesus Sirach sowie die Weisheit Salomos.

Ps 73,20

In den Psalmen haben wir einerseits den Beginn von Ps 126 „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden, dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“ Da steht der Traum für die Sehnsucht nach Heil. Aber wir haben auch traumkritische Passagen: In der Klage über den zunächst gegebenen Erfolg des Gottlosen Ps 73 heißt es: „Ja, du (scil. Gott) stellst sie (scil. die Gott­losen) auf schlüpfrigen Grund und stürzest sie zu Boden.19 Wie werden sie so plötzlich zunichte! Sie gehen unter und nehmen ein Ende mit Schrecken.20 Wie ein Traum verschmäht wird, wenn man erwacht, so verschmähst Du, Herr, das Bild der Gottlosen, wenn Du Dich erhebst.“ Genau wie man nach dem Aufwachen das, was man im Traum erlebt hat, als unwirklich bezeichnen muss, so bezeichnet Gott das „Bild“ der Frevler, die Gegenstände, die sie repräsentieren, als unwirklich.

Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger kommentieren: „Ein Vergleich faßt in V. 20 zusammen, was von den Frevlern bleibt: Sie waren wie ein schreck­licher Traum (bzw. Alptraum), der beim Aufwachen nicht nur definitiv vorbei ist (vgl. Ijob 20,8), sondern der in einem sogar Ärger und Verachtung hervorruft.“

Athanasius (ca. 295–373) sagt dazu: Die Einbildungen der Träumenden sind unwirklich und schwächer als jeder Schatten. Augustinus (354–430) und Cassiodor (ca. 485 – ca. 580) verdeutlichen die Unwirklichkeit der Träume an dem Traum eines armen Menschen, der sich im Traum als reich erlebt, aber nach dem Aufwachen sich wieder mit seiner Armut konfrontiert sieht. Euthymius Zigabenus (ca. 1050 – ca. 1120) betrachtet den Traum als Täuschung für die Babylonier, mit denen er die Gottlosen in dem Psalm insgesamt identifiziert.

Belege aus dem Buch Hiob

Im Buch Hiob stehen positive und kritische Stellungnahmen zum Traum nebeneinander. Ersteres findet sich in Hi 4,13–16 und in Hi 33,14. In Hi 4,13–16 wird einem der Freunde Hiobs mit Namen Eliphas ein Traum zuge­schrieben, der inhaltlich, so die Fortsetzung in V. 17–20, den Anklagen Hiobs gegen Gott die Spitze abbrechen soll: „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott oder ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat?“ (V. 17). Die Traumoffenbarung selbst wird vor allem wegen des Schreckenerregenden ausführlich beschrieben: „da kam mich Furcht und Zittern an, und alle meine Gebeine erschraken. Und ein Hauch fährt an mir vorüber; es stehen mir die Haare zu Berge an meinem Leibe.“ (V. 14f.). Verweise auf das Erschrecken­de des Erlebens finden sich wiederholt in antiker und nicht nur antiker Literatur. Aber das ist noch keine Traumkritik.

Auch in Hi 33,14 fungiert der Traum in der sekundären Rede des Elihu als Offenbarungsmedium. Auf Hiobs wiederholte Klage, dass Gott ihm gegen­über stumm bleibt, antwortet ihm Elihu, dass Gott durch Träume den Men­schen warnen will. Olympiodor (erste Hälfte 6. Jhdt. n. Chr.) erklärt dazu: Gott mahnt oft durch Träume, doch Hiob, so die Anklage seines Freundes, lässt sich nicht mahnen.

Ein anderer Freund Hiobs mit Namen Zophar zieht nach Hiob 20,8 das Irreale des Traumes zur Argumentation heran, um dem leidenden Hiob den in der Weisheitsliteratur bekannten Topos von dem nur scheinbaren und nicht langfristigen Glück des Gottlosen nahezubringen – wir finden es etwas in dem vorhin besprochenen Psalm 73 –: „Wie ein Traum, der weg­ge­flogen ist, wird der Gottlose nicht mehr gefunden werden, und wie ein nächtliches Gesicht (φάσμα) ist er dann verflogen.“ Der Traum steht hier als Metapher für die Vergänglichkeit des Irdischen, auf das sich der Gottlose verlassen hat.

Das Erschreckende im Traumerleben wird aber nicht nur bei Hiobs Freunden Eliphas und Zophar, sondern in Hi 7,14 auch durch Hiob selbst zur Sprache gebracht, erwartungsgemäß dann aber mit völlig anderer Wertung: Nicht einmal der Schlaf gewährt dem leidenden Hiob Ruhe, und die Träume, die er hat, sind keine angenehmen Träume, sondern die „Verlängerung der Qualen über den Tag hinaus.“ Die Zuflucht in den Schlaf bleibt Hiob verwehrt. Wo aber „Selbst der Schlaf die Qual nicht mindern darf, wo sich ein Mensch der Überwachung Gottes ständig ausgesetzt empfindet, steht sein Schrei auf, es wolle Gott anstatt des Leidens ihm den Tod bestimmen.“

Koh 5,2.6

In dem vielleicht um die Mitte des dritten, vielleicht aber erst zu Beginn des zwei­ten vorchristlichen Jahrhunderts entstandenen Buch des Predigers Salo­mo wird gewarnt, im Angesicht Gottes zu schnell ein Wort hervorzubringen, d.h. dies und das und noch viel mehr mit dem Anspruch letztgültiger Weisheit kommentieren zu wollen. „Gott ist im Himmel, und du auf Erden“ – menschliche Selbstbescheidung täte in der Tat auch heute manchen bitter Not. „Denn wo viel Mühe ist“ – lesen wir in der Fortsetzung – kommen Träume, und wo viele Worte sind, da hört man den Toren.“ Melanie Köhlmoos hat 2015 die Aussage positiv gedeutet: das Stichwort „Mühe“ kennzeichnet im Buch Kohelet sonst durchgehend positiv den mühsamen Weisheitserwerb, und der Traum spielt an auf Salomons Traum nach 1Kön 3, der entscheiden­den Gottesbegegnung. Allerdings gibt es genügend neuzeit­liche Interpreten, die, wie die alten jüdischen und christlichen Erklärer, der Stelle eine negative Wertung des Traums attestieren. Das ist auch meine Meinung. Der Traum steht hier, nimmt man den ersten Satz für sich, im Sinne eines Sprichwortes, erst einmal entweder für das Illusionäre, Gott durch allerlei Beschäftigung in Form von Opfer, Hast und Unruhe (Koh 4,17; 5,1) beeinflussen zu wollen, oder aber für unverarbeitete Tagesreste, wie das auch die Vulgata formuliert: multas curas sequuntur somnia („Wenn man viele Sorgen hat, folgen Träume“). Hieronymus (347–419) fasst das ebenfalls in Worte: qui in multis cogitationibus est, ea frequenter somniat, de quibus cogitat. („Wer viel am Nachdenken ist, träumt häufig von dem, worüber er nachdenkt“). Ähnlich ergänzt (Ps.?)-Gregor von Agrigent (7. Jhdt. oder später): Ein Mensch verfällt in einen Traum, in dem die Sorgen und Gedanken des Tages in Analogie wieder erscheinen. Das Traumgesicht erscheint im Traum selbst als wirklich; sobald der Traum vorüber ist und man aufwacht, ist das Traumgesicht vergangen, weil keine Wirklichkeit dahintersteht, und man kann keinen Nutzen daraus ziehen. Vielmehr führen die Träume nur zur Verwirrung und Verführung. Der Vergleich mit dem Toren kann darauf zielen, dass das Wort eines Toren so wenig wahr wird wie das Wort eines Menschen, der geträumt hat. So hat es mindestens Olympiodor verstanden.

Weiter heißt es dann beim Prediger Salomo: Wo viel Träume sind, ist viel Nichtiges und viel Gerede. Die Wendung „Viel Nichtiges“ ist von den alten Erklärern in dem Sinne verstanden worden, dass keine Wirklichkeit dahinter steht; „viel Gerede“ im Sinne des Überflüssigen, während der Gedanke des Autoritätsanspruchs oder auch der Aspekt menschlicher Eitelkeit nicht besonders betont ist. Hieronymus betont auch hier die unverarbeiteten Tagesreste, die sich in erschreckenden Traumbildern oder trügerischen Verheißungen im Traum Luft verschaffen, und mahnt dazu, Träume zu verachten. In neuzeitlicher Diskussion wird V. 6 auf die „illusorischen Wirklichkeitsvorstellungen … falsche(n) Vorstellungen von Gott und der ihm gegenüber angemessenen Verhaltensweisen“ bezogen oder gelegentlich vermutet, Kohelet setzte sich mit Koh 5,6 von der beginnenden Apokalyptik ab.

Sir 34,1–8

Zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts fällt die Entstehung des Buches Jesus Sirach, von dessen hebräischem Text mittlerweile 68 % vorliegen und das ins Griechische, Lateinische und Syrische übersetzt worden ist; derzeit wird eine kritische Ausgabe der genannten Übersetzungen erstellt. Der Verfasser ist Vertreter einer konservativen intellektuellen Elite – intellektuell ist er insofern, als er Schöpfung, Gesetz, Geschichte Israels gleichermaßen vor Augen hat, konservativ ist er insofern, als er in den Bahnen der Tradition Israels und gegen mögliche hellenistische Einflüsse all das soeben Genannte, Schöpfung, Gesetz und Geschichte Israels auf Gott zurückführt. Sein Umgang mit der Bibel lässt sich u. a. anhand des Themas Traum studieren.

In Kap. 34 heißt es: 1Unverständige betrügen sich selbst mit törichten Hoffnungen, und Narren verlassen sich auf Träume. 2Wer sich auf Träume verlässt, der greift nach dem Schatten und will den Wind haschen. 3Das eine ist wie das andere: Träume sind wie Bilder im Spiegel. 4Was unrein ist, wie kann das rein werden? Und was Lüge ist, wie kann das wahr werden? 5Weissagungen, Zeichendeutung und Träume sind nichts, und man sieht dabei Wahnbilder wie eine Frau in Wehen; 6und wenn sie nicht durch Eingebung des Höchsten kommen, halte nichts davon. 7Denn Träume haben viele Menschen betrogen, und gescheitert sind die, die darauf hofften. 8Das Gesetz erfüllt sich ohne Trugbilder, ebenso die Weisheit im Munde des Frommen.

Der Verfasser warnt davor, sich in seinem Handeln von Träumen leiten zu lassen; sie sind nur dem Schatten und dem Wind vergleichbar (Sir 34, 2), und auf Träume soll man nicht hoffen, sich stattdessen an der Tora und der Weisheit orientieren. Träume von Lügnern können ohnehin nicht wahr sein (Sir 34,4). In der Vulgata heißt es zu V. 7 so schön: multos enim errare fecerunt somnia („Träume haben viele zu Irrtümern veranlasst“). Das literarisch in griechisch-römischer Literatur, aber auch in der Bibel nachweisbare Motiv, dass Träume unmittelbare Handlungs­anweisung enthalten können, wird hier bestritten.

Die Möglichkeit, dass Träume vom Höchsten gesandt sein könnten, wird konzediert (Sir 34,6), man erfährt aber nicht, wie man diese Träume von anderen Träumen unterscheiden soll, wie in traumkritischen Texten der Bibel auch keine Berichte von Träumen begegnen, anhand deren man den Unsinn der Orientierung an einem Traum aufzeigen könnte. Vielleicht muss der Verfasser dieses Zugeständnis machen, dass Träume von Gott gegeben sein können, weil er der Bibel nicht widersprechen will.

Sir 34 wird manchmal als Abgrenzung gegen die gleichzeitig auf­blühende Bewegung der Apokalyptik interpretiert. Wie dem auch sei – jedenfalls steht der Unsicherheit des Traumes die Verlässlichkeit des gött­lichen Gesetzes gegenüber. Weisheit im Sinne des Jesus Sirach ist nicht an Träumen und deren Deutung, sondern an der Gottesfurcht orientiert (Sir 1,7).

Bei solcher Skepsis gegenüber den Träumen legt sich die Frage nahe, wie Jesus Sirach mit biblischer Geschichte umgeht, die ja auch den Träumen Jakobs und Josephs berichtet. Mit biblischer Geschichte befasst sich der Autor ausführlich, in dem sog. Lob der Väter Sir 44–49. Dort, um die gestellte Frage zu beantworten, werden der biblische Joseph und die von ihm erlebten Träume und seine Traumdeutungen völlig übergangen, ebenso wie bei Jakob die Bundestreue Gottes erwähnt wird, aber nicht das Geschehen mit der Jakobsleiter. Wichtiger ist mir: Sirach braucht die Träume nicht, denn die Offenbarung der Thora geschah ohne Träume.

Zwischenfazit

Die Argumentation ist rein erfahrungsbezogen. Die Herkunft von Träumen wird in biblischer Weisheitsliteratur, soweit ich sehe, nicht systematisierend geklärt. Aber auch eine Auseinandersetzung mit griechisch-philosophischer Traumtheorie findet nicht statt. Aristoteles meint, Träume stammen nicht von den Göttern, denn sie gehen nicht alle in Erfüllung, sondern sind Anzeichen für inner­menschlich verankerte, psychologische Prozesse, die im Wach­zustand verdeckt geblieben sind. Dieser weitgehenden Kritik kann biblische Weisheitsliteratur vielleicht aufgrund der biblischen Prämissen der Josephsgeschichte nicht folgen. Umgekehrt werden in der Weisheitsliteratur aus der Josephsgeschichte keine positiven Folgerungen gezogen, am ehesten indirekt noch da, wo die schreckhaften Träume nur Nichtjuden zugeschrieben werden. Insgesamt kann man sagen: Eine Bezugnahme auf griechisch-philosophische Traumkritik ist nicht erkennbar.

 

Traumkritik ab dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert

 

Traumkritik in den Übersetzungsteilen der Septuaginta

Ab dem dritten vorchristlichen Jahrhundert wurde das Alte Testament, beginnend mit dem Pentateuch, ins Griechische übersetzt, vermutlich vor allem zu Zwecken der Pädagogik und Katechetik. Die Übersetzungen der einzelnen biblischen Bücher sind stilistisch unterschiedlich ausgefallen. Zum Thema Traum wurden sowohl die positiven als auch die kritischen biblischen Passagen wiedergegeben. Wir haben innerhalb der Übersetzungsteile der Septuaginta nur zwei Fälle von Abweichungen zu benennen.

In Ps 125[126],1 fehlt der Bezug auf den Traum; dort heißt es „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Getrösteten.“ Man kann fragen, ob Traumkritik für diese Veränderung verantwortlich ist. Vielleicht hat der Übersetzer an der Stelle das zugrundeliegende hebräische Verbum in seiner Bedeutung „gesund werden“ vorausgesetzt, oder man empfand aufgrund der Fortsetzung „Dann wird unser Mund voll Freude sein“ als unrealistisch: Wer träumt, redet nicht. Oder man wollte das Eintreten der auf Gewissheit zielenden Zusage „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird“ nicht mit dem Ungewissen des Traumes verbinden.

In der Übersetzung von Micha 3,7 ist ein Bezug zu Träumen explizit hergestellt worden. Der hebräische Text heißt in deutscher Übersetzung „Und die Seher sollen zuschanden und die Wahrsager zu Spott werden“; in der Septuaginta heißt es „und diejenigen, die Träume schauten, sollen zuschanden werden.“ Hier wird der Traum als bevorzugtes Offenbarungsmedium angesprochen. Der tatsächliche Fortgang der Ereignisse hat in der Tat, so bereits Kyrill von Alexandria, die Träume der in Mi 3,7 Genannten „Friedensprediger“ als falsch erwiesen. In der Fortsetzung heißt es in der Septuaginta: „und sie alle werden sich gegenseitig widersprechen. Deshalb wird niemand auf sie hören, es sei denn, ich erfülle (sie) mit Stärke im Geiste des Herrn und des Rechts und der Kraft, um Jakob seine Gottlosigkeit zu verkündigen und Israel seine Sünde.“ Ist das Motiv des Gegeneinanderredens aus Num 12,6–8 genommen, wo Mirjam und Aaron gegen Mose reden, oder ist es der profane Verweis auf die Unsicherheit des Traumempfanges und der Traumdeutung? Letzteres erscheint mir eher naheliegend.

Traumkritik in der zeitgleich entstandenen antiken jüdischen Literatur

Im antiken Judentum des ersten Jahrhunderts v. Chr. werden in der sog. Weisheitsliteratur positive biblische Vorgaben aufgegriffen, aber auch biblische Momente der Traumkritik weitergeführt.

In der Weisheit Salomos wird dem Traum Jakobs nach Gen 28 aufgrund der biblischen Vorlage Offenbarungscharakter zugesprochen. In Sap 10,10 heißt es: Sie, die göttliche Weisheit, leitete den Gerechten, der vor dem Zorn seines Bruders fliehen musste, auf geraden Wegen; sie zeigte ihm das Reich Gottes und gab ihm zu erkennen, was heilig ist. Der Traum von der Jakobsleiter wird als Offenbarung der himmlischen Welt verstanden.

Die gottlosen und unvernünftigen Ägypter hingegen erleben den Traum als quälend (Sap 17,15). Auch in Sap 18,17 heißt es: Traumbilder erschreckten sie (die Ägypter) fürchterlich. Der Traum wird von Gott als Plage über die Feinde Israels verhängt. Nur Nichtjuden haben erschreckende Träume. Traumkritik ist hier nur insofern von Belang, als das Wissen um die negativen Aspekte des Traumerlebens dazu verwendet wird, einen Gegensatz zwischen Juden und Nichtjuden zu konstruieren. Auch in den Psalmen Salomos (6,3f.; 1. Jhdt. v. Chr.) wird das Verwirrende von Träumen angesprochen, die nur die
Gottlosen quälen.

Ein nicht ausgeglichenes Nebeneinander begegnet uns in den Testamen­ten der Zwölf Patriarchen (der zwölf Jakobssöhne nach Genesis 35,22–26). Josephs Träume nach Genesis 37; 40 finden in Testamentum Joseph 1,1–18,4 kei­­nen Wi­der­­hall. Ansonsten begegnet das Wissen um die mögliche Her­kunft des Traumes von Tagesresten wie die Hochschätzung des Traumes als Zu­wei­sung des Status als Offenbarungsmittlers für Levi oder als Zukunftsansage. Doch fehlt diese Hochschätzung im hebräischen Testa­ment Naphthalis; dort kann es abschließend heißen: Das ist nur ein Traum und wird sich nicht wiederholen – die Wahrheits­fähigkeit von Träumen wird hier prinzipiell angezweifelt.

Das Wissen um Träume als Tagesreste ist auch im Brief des Aristeas (EpArist 216; 1. Jhdt. v. Chr.) präsent: „Denn meistens beschäftigt sich auch im Schlafe der Geist mit denselben Dingen, mit denen sich einer wachend abgibt. Wer aber jeden Gedanken und jede Handlung auf das Beste richtet, der trifft das Rechte im Wachen und im Schlafe.“ Hier ist eine bei Platon genannte Vorstellung leitend: Ob ein Mensch vernünftige oder unvernünftige Träume habe, sei durch seinen Lebenswandel am Tag bedingt: Bei beson­nener Lebensführung werden auch die Träume akzeptabel sein. Auch im späteren Christentum kennt man diese Erfahrung.

Der antike jüdische Geschichtsschreiber Josephus (ca. 37 – ca. 100), dem wir alles Wesentliche für die Kenntnis der neutestamentlichen Zeitgeschichte verdanken, rühmt sich selbst der Fähigkeit zur Traumdeutung, weiß aber auch um das Trügerische des Traumes. Sichtbar wird das da, wo er die illusionäre Hoffnung der Aufständischen auf die Rettung der Stadt Jerusalem und des Tempels im jüdisch-römischen Krieg bezeichnet. Ob Träume denk- und überlieferungswürdig sind, bemisst sich an der Frage, ob sie sich erfüllt haben. Leitend ist hier das im Kontext der Auseinandersetzung um wahre und falsche Prophetie in Dtn 18,22 formulierte Kriterium.

Auch in rabbinischer Literatur sind traumkritische Gesichtspunkte präsent. In dem ab 400 n. Chr. redigierten babylonischen Tal­mud ist einiges Material im Traktat Berachot (Lobsprüche) gesammelt. Der Traum kommt zunächst hinsichtlich seiner Wahrheitsfähigkeit zur Zukunftsdeutung und zugleich emotionalen Wirkung auf den Wachzustand in den Blick. Es wird ausführlich über einen professio­nellen Traumdeuter erzählt, der je nachdem, ob er entlohnt wurde, Gutes oder Böses deutete; die Ambiguität von Traum­deutung wird somit entlarvt.

 

Das Nachwirken traumkritischer biblischer Motive im antiken Christentum

 

Hinsichtlich des Themas Traum haben neutestamentliche Texte keine neuen Impulse gesetzt. Traumbezogene Texte finden sich vor allem bei Matthäus, wie auch Lukas von nächtlichen Erscheinungen spricht, nicht hingegen bei Markus, Paulus, dem Evange­listen Johannes sowie dem Ver­fasser der Johannesoffenbarung. Traumkritische Aussagen sucht man im Neuen Testament vergebens, aber umgekehrt ist der Traum auch nicht das zentrale Medium von Offenbarung schlechthin.

Die Ambivalenz des Traumes macht diesen auch für den Schlagabtausch zwischen antiken Christen und Nichtchristen geeignet. Zwei der antiken Christentumskritiker, Kelsos (180) und der bei Makarios Magnes genannte Autor (4. Jhdt.), üben Kritik an biblischen Traum­darstellungen. Kelsos hält, so sein Gewährsmann Origenes (180–253), die Erzählungen von den Träumen des Mundschenks, des Bäckers und des ägyptischen Königs (Gen 40; 41) für ungereimt und unglaubwürdig. Aber auch die Schau des auferstan­denen Christus mit den Merkmalen seiner Marter (Johannes 20,24–29) gilt als Trug­bild von Menschen mit irregeleiteter Phan­tasie. Dem bei Makarios Magnes zitierten Autor zufolge verträgt sich der Traum des Paulus, in dem Christus ihm sagt, ihm werde nie­mand widerstehen (Apg 18,10), nicht mit der Tatsche seines Marty­ri­ums. Diese Autor will damit das Christentum insgesamt diskreditieren. Umge­kehrt halten Justin († ca. 165) und Athenagoras (zweite Hälfte 2. Jhdt.) den Nicht­christen warnend vor Augen, dass Dämonen im Traum Menschen beeinflussen können. Clemens von Alexandria (ca. 150 – ca. 220) mahnt dazu, von den alten Göttern wie von der Wahrsagerei und der Traumdeuterei Abstand zu nehmen. Mit der Distanzierung von jeglicher Divination stilisiert Clemens das Christentum als philo­so­phische Elite. Allerdings war Magie im Christentum weit verbreitet; professionelle Traumdeuterei wird Christen daher untersagt. Das Verbot hat man auf dem ersten Konzil von Ankyra 314 wiederholt, sodass nun jedem der Umgang mit seinen Träumen selbst überlassen war. Es ist anzunehmen, dass trotz des offiziellen Verbots heimlich kundige Menschen aufgesucht wurden, wie auch das Christentum keineswegs davon ausgenommen blieb, dass Menschen zu allerlei magischen Mitteln Zuflucht nahmen.

In patristischer Literatur wird, beginnend bei Tertullian (ca. 160–ca. 220), allgemeines antikes Wissen zum Traum aufgenommen, dabei werden auch traumkritische Momente bedacht. Tertullian sieht die emotio­nale Verunsicherung des Traumes nicht nur in dem, wovor wir auf der Ebene des Geschehens erschrecken, sondern auch in Schuld­gefühlen. Die Irrealität des Traumes hat aber eine entlastende Wirkung. Tertullian schreibt: „Die guten Taten, die im Schlafe ge­schehen, sind […] umsonst und die Verge­hun­gen straflos. Wir werden wegen einer erotisierenden Traumer­schei­nung eben­so­­ wenig ver­worfen, als wegen eines geträumten Martyriums gekrönt.“

Hin­sichtlich der Bestimmung der Herkunft von Träumen wirkt bei Tertullian die stoische Auffassung von Träumen nach, wenngleich mit biblischen Beispielen und christlichen Motiven unterlegt. Träume können von Dämonen stammen (es sind die schlüpfrigen) oder von Gott (Joel 3,1), oder von der Seele, die ihre Lage betrachtet. Nach stoischen Maßstäben beurteilt Tertullian schließlich die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Träumen: Einige Träume haben sich bewahrheitet, folglich können Träume insgesamt wahrheits­fähig sein.

Basilius von Caesarea (ca. 330–378) weiß, dass ein Traum meist Nachklang der Tages­sorgen ist, und empfiehlt, nachts nicht nur zu schlafen, sondern auch zu beten; der Schlaf soll Übung der Frömmigkeit sein. Ähnlich sind nach Gregor von Nyssa (ca. 340 – ca. 395) die Träume vom Charakter der Träumenden abhän­gig. Nach Isidor von Pelusium (ca. 360 – nach 431) spiegelt sich im Traum nur die fehlende bzw. verwirklichte Christusbindung. Augustinus hingegen konstatiert einen Unterschied zwischen dem Ich im Wachzustand und dem Ich im Traum: Die Vernunft ist im Traum aus­geschaltet und kann einen missliebigen Traum nicht abweisen. So kann Augustinus im Traum der concupiscentia (Begehrlichkeit) zustim­men, was er im Wach­zustand über­wun­den hat! Wahrträume kön­nen klar for­mu­liert sein und dem zukünftigen Ge­schehen entsprechen; dieses kann aber auch mit dunk­len Andeutungen und figürlichen Redeweisen vorher­verkündigt sein. In seinem Werk „Dialogi de vita et miraculis patrum italicorum“ (Dialoge über das Leben und die Wunder der italienischen Väter) behandelt Gregor der Große (ca. 540–604) unter anderem auch das Thema Träume. Er antwortet damit auf die ihm von seinem Dialogpartner Petrus gestellte Frage, ob man nächtliche Visionen beachten muss. Im Zuge dessen entwirft er sechs Kategorien für die nächtlichen Bilder. Die beiden ersten führt er auf zu viel beziehungsweise zu wenig Essen zurück, während er die trügerischen, vom Teufel gesandten Träume zur dritten Kategorie zählt. Die vierte stellen für ihn Trugbilder dar, die von zu vielen Sorgen herrühren. Die letzten beiden Traumarten schließlich sind die Offenbarungen, entweder durch eindeutige Bilder oder Befehle. Allerdings sei es nur heiligen Männern zuzutrauen, zwischen gottgesandten Träumen und allen anderen zu unterscheiden. Deshalb wäre es besser für die übrigen Christen, Träumen keine Beachtung zu schenken, da die Gefahr der Irreführung durch Satan zu groß sei.

 

Schluss

 

Anfangs stellte sich die Frage, wie das Nebeneinander positiver und kritischer Texte zum Thema Traum historisch und theologisch eigentlich möglich war. Meine Antwort: Die Offenbarung der Thora als der zentralen Orientierungs­größe wurde nicht mit einem grundsätzlich hinterfragbaren und Unsicherheit implizierenden Traumerlebnis des Mose identifiziert. Deswegen konnten schon im Alten Testament und dann in der nachalttesta­mentlichen Literatur auch traumkritische Texte integriert werden. Rabbinische Diskussion hat sich immer eher auf die Mehrheit der Gelehrten als auf außerplanmäßige Erlebnisse verlassen. Zugleich blieb jüdische Religion insofern rationalitätsfähig.

Aber auch christliche Religion hat die wesentlichen Inhalte ihrer Lehren nicht auf Traumerlebnisse gestützt. Weder Jesus noch die Apostel werden durch Traumoffen­barungen an sie selbst oder an Dritte legitimiert; auch fun­gieren Träume nicht als Medium, bestimmte Glaubenslehren zu vermitteln. Die Träume an Joseph nach Mt 1 und an Paulus nach Apg 18,9f. gelten diesen selbst und haben Handlungen ihrerseits bzw. ihr Schicksal zum Inhalt, aber keine legitimierende oder für die Gemeinde normierende Funktion. 

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